Komponistinnen! In der Gegenwartsmusik mags nicht ideal, aber besser aussehen, doch im klassischen Kanon bleibts heikel. Im Clara-Schumann-Jahr könnte man sich fragen, warum alle Welt diese Künstlerin Clara zu nennen sich erlaubt (niemand würde von Robert oder Johannes sprechen). Die verdienstvolle Arbeit des seit 40 Jahren arbeitenden Frankfurter Archiv Frau und Musik wurde kürzlich von der örtlichen FDP torpediert. Und im VAN Magazin beginnt dieser Tage eine Serie, in der 250 Komponistinnen vorgestellt werden. Den Namen Fanny Hensel aber kennt jeder, kaum jedoch Hensels Musik. Es sei denn, man ist bei dem unbedingt hörenswerten Chiaroscuro Quartett im Pierre-Boulez-Saal dabei.
Fanny Hensels Streichquartett Es-Dur von 1834 ist ein ergreifendes, extravagantes Werk. In Beethovens letzter Zeit sei sie drin stecken geblieben, rechtfertigte sie sich gegenüber ihrem Bruder Felix Mendelssohn Barholdy, der die neue und ungewöhnliche Wendung der Form und Modulation kritisierte. Überhaupt scheint die Familie Mendelssohn das hochbegabte Mädchen Fanny intensiv gefördert und ermutigt, die hochbegabte verheiratete Frau Hensel dagegen gehemmt, gedeckelt, entmutigt zu haben. Das Neue und Ungewöhnliche, das der Bruder bemängelte, erscheint für heutige Ohren gerade als unwiderstehliche Stärke von Fanny Hensels Streichquartett: Ein gefühlsgewaltiges, klangstarkes, fragendes Adagio gibt es darin – und zwar als ersten Satz! Im folgenden Allegretto beginnt die Bratsche auf einmal ein überaus rasantes Fugato, als steckte man in einem Finalsatz. Der dritte Satz ist eine Romanze, die teils eher nach einem Lamento klingt, mit bedrückenden Cello-Seufzern; dann stürmisch bewegt, emotional aufgewühlte Musik, aufwühlend vorgetragen von vier vorzüglichen Musikern. Das Schluss-Allegro scheint, aufs erste Hören, der konventionellste Satz zu sein, Sausewind mit brodelndem Cello, aber mitreißend ist auch dieser Satz. Dass das Streichquartett auf der Grundlage einer Klaviersonate von 1829 entstand, würde man übrigens niemals erkennen, wenn man es nicht in der informativen Einführung von Wolfgang Stähr gelesen hätte.
Man kann weinen mitunter bei diesem Streichquartett – nicht nur wegen der großen Schönheit der Musik, sondern auch bei dem Gedanken daran, wie viel Begabung und Berufung von Frauen beschnitten und unterdrückt wurde und welchen seelischen Preis diese Frauen dafür zahlen mussten. Die im Programmheft abgedruckten Zitate von Fanny Hensel lösen das aus, was die Schriftstellerin Berit Glanz anlässlich ähnlicher Fälle „Wutzittern“ genannt hat. Man verliert am Ende selbst mit der Lust an solchen Sachen das Urteil darüber, wenn sich nie ein fremdes Urteil, ein fremdes Wohlwollen entgegenstellt, schrieb Fanny Hensel, oder lapidarer: Kräht ja doch kein Hahn danach … It’s a Hahn’s, Hahn’s, Hahn’s world, and a woman is nothing. Mit bemerkenswerter Klarsicht und zugleich erschütternder Resignation formulierte Fanny Mendelssohn Bartholdy als 24jährige, ein halbes Jahr bevor sie qua Heirat zur Hensel wurde:
Daß man übrigens seine elende Weibsnatur jeden Tag, auf jedem Schritt seines Lebens von den Herren der Schöpfung vorgerückt bekömmt, ist ein Punkt, der einen in Wuth, u. somit um die Weiblichkeit bringen könnte, wenn nicht dadurch das Uebel ärger würde.
Wie viel große Kunst mag uns heutigen Hörern dadurch entgangen sein? Nur dieses einzige Streichquartett hat Fanny Hensel komponiert. Dieses eine aber gibt es, und es sollte gespielt werden. So wie hier, voll fremdem Wohlwollen.
Hier eine Aufführung des Quatuor Ebène:
Der Zugriff des Chiaroscuro Quartetts ist ein ganz anderer. Ähnlich intensiv und rund im Zusammenspiel, besteht die Eigenheit dieses jungen Ensembles im historischen Herangehen: auf Darmsaiten und mit historischen Bögen, sehr sparsam mit Vibrato. Bei Orchestermusik ist das häufig mittlerweile, auch Hammerklaviere scheinen allgegenwärtig – Streichquartette aber hört man selten so. Es klingt weniger glänzig, auch mal schrubbelig, aber alles andere als karg – warm vielmehr und sehr lebendig.
Geradezu himmlisch klingt das etwa am Bratsche-Cello-Beginn des Largo sostenuto von Joseph Haydns Streichquartett Hob. III:38 von 1781, das wie Fanny Hensels Werk in Es-Dur steht, aber im Gegensatz zu diesem geradezu ein Muster an klassischer Form ist. Beziehungsweise diese überhaupt erst prägt; und dabei voller Witz und Charme ist, etwa im sanften Aufjuchzen der Geige im Trio des Scherzo, das hier an zweiter Stelle steht. Wegen der Schein-Schlüsse im Presto-Finale trägt das Quartett den inoffiziellen Beinamen Der Scherz, und der voreilige Ansatz zum Applaus im Boulezsaal zeigt, dass der Witz immer noch funzt.
Wie diese Abrissversuche im Schluss-Presto von Franz Schuberts Streichquartett d-Moll D 810, bekannt als Der Tod und das Mädchen vulgo Der Unscherz. Da ist das Konzert in der zweiten Hälfte also um einen Halbton abgesunken und nach Moll gerückt. Das aufgerauhte Klangbild wirkt schroff, das ganze Werk in dieser Interpretation (noch) körperlicher, als man es kennt. Fahle Striche, gleißende Blitze. Beim balancierenden Beginn des zentralen Andante con moto hat man gar einige Sekunden lang die Empfindung, man höre süddeutschen Barock, so etwas Biberiges.
Sofortiger Wiederhörenswunsch mit der hohen, originellen Spielkultur des Chiaroscuro Quartett! 2005 wurde es gegründet, es besteht aus einer Russin, einem Spanier, einer Schwedin, einer Französin und residiert in London. Die Geigerin Alina Ibragimova ist sicher die bekannteste der vier. Einziger Wermutsrotz des Konzerts ist das ungezogene Publikum mit reger Hustentätigkeit, Handypiepen im Schubert-Andante und Mitfilmversuchen bei Haydn. Beethoven hätte gesagt, für solche Schweine spiele ich nicht.
Auf dem Youtube-Kanal der Wigmore Hall kann man sich ein ganzes Konzert des Chiaroscuro Quartetts reinziehen, mit Beethovens Opus 18, 4 (ab Minute 9) und Schuberts Der Tod und das Mädchen (ab Minute 39):
Und noch etwas besonders Reizvolles, Mozarts „kleines“ A-Dur-Klavierkonzert KV 414 in der Fassung a quattro, mit Kristian Bezuidenhout an den Hämmern: