Deconquista!

Accademia del Piacere beim Barock-Festival in der Philharmonie

Auf welcher Insel der Seligen man lebt, wird einem bewusst, wenn man in der Berliner Philharmonie entzückt beim Barock-Festival sitzt, während gerade ein demokratisches Land von den Panzern eines gewissenlosen Großmachtpsychopathen überrollt wird. Die Ukraine liegt näher an Berlin als Spanien, Kiew näher als Madrid oder gar Sevilla, wo die Accademia del Piacere ihren Sitz hat. Deren Zugabe im Kammermusiksaal widmet der Leiter Fahmi Alqhai der Kraft des Friedens; so wie die Berliner Philharmoniker nebenan im Großen Haus ihr Mahler-Konzert mit Gustavo Dudamel den Menschen in der Ukraine zueignen.

Hier also nur einige inselselige Notizen zum köstlichen Konzert der Accademia del Piacere. Spanische Tänze und Melodien aus dem 16. und 17. Jahrhundert, in aufregender, aber nicht anbiedernder Verzeitgemäßung. Notierte Quellen sind offene Grundlage der Musik, nicht fertige Vorgabe. Nach zwei gediegenen, fast schulbuchmäßigen tänzerischen Nummern beginnt es schlagartig zu lodern: Über stehendem Bordunton setzt ein improvisatorisches Gambensolo von Fahmi Alqhai ein, immer wieder ins Mikrotonale pendelnd, rhythmisch sehr frei gefärbt vom Percussionisten Agustín Diassera.

Der charismatische spanische Gambist Alqhai ist syrisch-palästinensischer Herkunft, allein dies ein berührendes Signal der Humanität: Deconquista der Menschheit im Zeichen der Musik. „Rediscovering Spain“ nennt sich das Programm, Entdeckung, nicht Eroberung. Drei Gamben sind in der Accademia del Piacere, eine spielt der professoraler wirkende Rami Alqhai, offenbar Fahmis Bruder, eine weitere Johanna Rose. Gitarrist und Cembalist sind zwei Spanier mit Jungmanndutt, den man heutzutage auch ergraumelierend noch tragen kann. Dass Fahmi Alqhai das Kraftzentrum des vorzüglichen Ensembles ist, spürt man jederzeit. Allein die fast kubistische Verbiegung der Töne, mit denen er in eine Passacaglia bzw spanisch Pasacalle hineintastet, ist stupend. Alqhai lässt einen spüren, dass die Grundlage wahrer Virtuosität eine beinah schüchterne, suchende Haltung ist. Zartes Innehalten, Zögern als Kern musikalischer Explosivität.

Dennoch ist es Ensemble-Leistung, die hier begeistert, ansteckende Freude, infektiös im besten Sinn, alles bei fabelhafter musikalischer Haltung. Unerschöpflicher Einfallsreichtum, was perkussive Möglichkeiten an einer einfachen kleinen Rahmentrommel angeht. Klang von Holz und Knöcheln treten hervor, wenn die Gamben übers Knie gelegt eine Nummer daherzupfen. Wie es überhaupt ständige Farbwechsel gibt. Und während Alqhais Gambe mit allen Freiheiten bis hin zu Distortion-Effekten erfreut, ohne aber je der Versuchung einer reißerischen Teufelsgambistenmanier zu erliegen (dabei hat Alqhai langes schwarzes Lockenhaar und vollen Bart), so zeigt Javier Nuñez am Cembalo eine Spannbreite von Anmut oder Tiefenmelancholie bis zu silbernen Tastengewittern. Und das an einem schmucklosen, unverzierten Zweckkasten, der ein bisschen wie ein Sparsarg von Ikea aussieht. Am Sonntag spielt Nuñez dann im benachbarten Musikinstrumentenmuseum Cembalo.

Frühes Beispiel von Gamben-Punk: Engel mit experimenteller Bogenführung

Überhaupt bietet das Programm Aufschwünge von Schwermut bis hin zu wilden Freudentänzen. Alle Weiten des Menschseins, stets in kurzen Nummern. Dass die sechs Instrumente des Ensembles materialgemäß selbst in höchster Ekstase relativ leise bleiben, verleiht dabei eine besondere Aura der Ferne, die aber dem direkten Ins-Blut-Gehen der Musik paradoxerweise nicht entgegensteht. Denn dieses mitreißende, so lustvolle wie kompetente Musizieren ist fern jeglicher Seminarhaftigkeit, von der zumindest einige höhersemestrige deutsche „Alte Musik“ auch heute nicht immer ganz frei ist.

Bach, der den Schwerpunkt des Barock-Festivals der Stiftung Berliner Philharmoniker bildet, steht hier nicht auf dem Programm. Die Komponistennamen wie Antonio und Hernando de Cabezón, Gaspar Sanz oder Santiago de Murcia sind den meisten Hörern im Kammermusiksaal vermutlich ganz unbekannt, auch mir. An zwei Wochenenden findet das Festival statt (nicht zu verwechseln mit dem herbstlichen Barockfest der Staatsoper oder etwelchen Barockfestspielen). Dass neben bestbekannten, häufig präsenten Stars und Institutionen (Anna Prohaska oder das Freiburger Barockorchester spielen am ersten Wochenende, Anfang März dann Les Arts Florissants, Collegium 1704 und der gerade gewaltig angesagte Jean Rondeau) ein Geheimtipp wie diese Accademia del Piacere oder auch tags darauf der englische Lautenist Thomas Dunham dabei sind, ist sehr schön. Der Auftritt von Fahmi Alqhai und seinen Mitspielern war erfrischend bis begeisternd.

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