Ordnend: Quatuor Diotima spielt Ligeti & Janáček, Berliner Philharmoniker mit Alan Gilbert

Unordnung greift nach dem modernen Künstler (Symbolbild)

Muss das ein Vergnügen sein: einen ganzen Abend lang nur Leoš Janáček und György Ligeti zu spielen, zwei der tollsten Komponisten, wo überhaupt gibt unter Gottes weitem Ohr. Das französische Quatuor Diotima gönnt sich, und dem Publikum. Und zeigt damit (nach Bertrand Chamayous Klavierabend) noch einmal, dass bei der Halb-Ligeti-halb-ganz-anderes-Biennale der Berliner Philharmoniker die stringentesten Beiträge im kleineren Rahmen stattfinden.

Vor ein paar Tagen im DSO-Konzert, wo es Ligeti + Haydn + Haydn + Ligeti gab, ließen mich die entfesselten Huster an ein Weltraummonster denken, über das der Held in Ian McEwans Zementgarten liest – Captain Hunt soll das Monster zur Strecke bringen! Nun, bei György Ligetis zweitem Streichquartett kam mir in den Sinn, wie ebenjener Captain Hunt in seinem Raumschiff für Sauberkeit sorgt:

Kippen, Plastikbesteck, alte Zeitschriften, Tassen und verschütteter Kaffee schwebten unordentlich durch den Raum. „Jetzt, wo uns keine Schwerkraft mehr die Sachen an ihrem Platz hält“, sagte Commander Hunt zu den Computertechnikern, „müssen wir uns besonders anstrengen, dass Ordnung herrscht.“

Vor ähnlicher Herausforderung stand der in weite Weiten aufgebrochene Ligeti: Während sein erstes Streichquartett von 1953/54 noch ganz aus Bartók hervorrhapsodierte (was ja kein Makel, sondern, wie man beim Quatuor Diotima hört, sehr schön ist), ist im zweiten von 1968 nach Flucht in den Westen und kompositorischem Neuanfang à la Apparition und Atmosphères ebenso neue Ordnung gefragt. Aus silenzio assoluto geht es hervor, einer eröffnenden Pause; was die Interpretation der Quatuor Diotima auszeichnet, ist die absolut organische Wirkung auch der heftigsten Kontraste. Man könnte es vielleicht auch anders spielen, aber es wirkt in sich ideal, weil es bebt vor kontinuierlicher Spannung, noch in den allerfernsten Klängen irgendeiner transzendentalen Glasharmonika. Und als Hörer empfinde ich immer die Anwesenheit eines ordnenden Prinzips, ohne es konkret benennen zu können. (Man kann dann nachlesen über „Klangflächenkomposition“; man kann es aber auch lassen und dennoch begreifen.)

Das Quatuor Diotima ist auf Gegenwartsmusik spezialisiert, aber scheint mit seinen Indirektheiten auf den ersten Blick geradezu prädestiniert für Leoš Janáčeks 1. Quartett „Kreutzersonate“ von 1923. Denn der Name des Ensembles hat nichts mit der lustigen Figur Diotima in Musils Mann ohne Eigenschaften zu tun und auch mit der Diotima bei Hölderlin oder gar in Platons Symposion nur (doppelt) indirekt: weil Luigi Nono sich in der Widmung seines Quartetts Fragmente – Stille an Diotima natürlich auf die letzteren beiden bezog (in erster Linie auf Hölderlin). Die „Kreutzersonate“ von Janáček bezieht sich durch die gleichnamige Erzählung von Leo Tolstoi indirekt auf Beethoven, ignoriert diesen aber souverän. Und er dreht auch den misogynen, sexual-, jugend- und musikfeindlichen Text des alten Tolstoi (dessen Ehefrau ebenfalls eine Gegen-Erzählung schrieb) in genialer Sinnentstellung um: indem der Komponist sich hörbar mit der von Erzähler und Autor verachteten Frau identifiziert. Als Musik ist das dann alles andere als indirekt: stattdessen mitleidend, mitlebend. Man könnte sagen, dass diese sich ständig zerfetzende Musik aus gar nichts anderem besteht als Kippen, zerrissenen Zeitschriften und verschüttetem Seelenkaffee.

Genau das lässt mich aber mit der technisch vorzüglichen Interpretation des Quatuor Diotima nicht ganz glücklich werden. Das kompetent hervorgekehrte „Moderne“ in Janáčeks erstem Quartett wirkt im Diotima-Spiel genuin, auch fast organisch, aber bei weitem nicht so schroff, wie es bei einem von eher romantischem Repertoire kommenden Ensemble klänge. Eben nicht zerrissen, sondern von beinah ätherisch schwebender Schönheit. Und die abrupten Stimmungsumschwünge, das Hineinexplodieren in Glücks- oder Sehnsuchtsinseln, das so typisch für Janáček ist, überwältigt hier nicht so krass, wie es könnte. Mich zumindest. (Bei einer Schubert-Aufführung der Diotimas ging es mir einmal ähnlich.) Anders dann bei Janáčeks zweitem Quartett, „Intime Briefe“, von 1928. Darin entsteht das emotionale Dauerbeben aus anderen Dingen, und hier hält das Quartett meine Seele, oder was es ist, in permanenter Schwebung.

Die „Biennale“ der Berliner Philharmoniker neigt sich dem Ende zu. Als Grundkrux des an sich löblichen Festivals bleibt festzuhalten: Eine Ligeti-Biennale wäre vielleicht zu speziell gewesen, aber das ausweichende Thema „50er und 60er Jahre“ ist wiederum zu allgemein. Clemens Haustein hat das Überkompromisshafte der Biennale in der FAZ ganz gut formuliert.

An eigenen Orchesterformaten der Berliner Philharmoniker gibt es zum Schluss (nach den Programmen mit Harding statt Petrenko und mit Pintscher statt Rattle) ein Konzert, dessen Werke seltsamerweise zu zwei Dritteln aus den 40er Jahren stammen und wo Ligeti ganz durch Abwesenheit glänzt. Als „eines der beliebtesten Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts“ wird das 1941 ur- und 1949 revidiert uraufgeführte Werk von Samuel Barber im Programmheft bezeichnet, was dieses Violinkonzert aber nicht daran hindert, heute Abend mit Dirigent Alan Gilbert zum ersten Mal überhaupt bei den Berliner Philharmonikern gespielt zu werden. Ich will nicht sagen, dass ich es auch weiterhin nicht sonderlich vermisst hätte, aber … ich hätte es nicht sonderlich vermisst. Mit janz viel Jefühl (denn Technik braucht es nur im dritten und letzten Satz) schrubbt Joshua Bell sein Instrument. Wenn jemand sein Gesicht anpiekste, was wohlerzogenerweise natürlich keiner tut, würde ein Tränenmeer herausplatzen.

Dafür, dass er einmal eine solche (lokale?) Größe war und seine Musik von solchem Schmiss ist, wird Boris Blacher in Berlin auch nur mehr erstaunlich selten gespielt. Noch größer ist das Erstaunen, weil die viertelstündigen Paganini-Orchestervariationen von 1947 famos runterzuhören sind. Sen-saz-jo-nell, wie der ältere Herr hinter mir ruft. Es macht Spaß, jeder im Orchester darf mal, teils herrscht rasantes Bigband-Flair. Und da entsteht auch eine unerwartete Berührung mit dem Hauptwerk des Abends, der 2. Sinfonie „Le Double“ von Henri Dutilleux, komponiert 1955-59 fürs Boston Symphony Orchestra. Dieses Werk hat nämlich mit dem als Orchester im Orchester halbrund um den Dirigenten aufgestellten Zwölfer-Ensemble sowas wie Concerto-grosso-Flair. Aber mit Pauke, Celesta, Cembalo als prägnanten Farben, grummelnd und silbern. Und so wie Joshua Bell in seiner Gershwin-Summertime-Zugabe mit einem Herabflimmer-Glissando entzückte (das für mich mehr Reiz hatte als der komplette Barber), beginnt Dutilleux mit einem Hinaufblubbern der Klarinette, das immer wiederkehrt und verblüffende Einheit stiftet.

Höchst eigenartig auch, dass ein in Berlin weltberühmter Opernkritiker sich heute Abend zwar Blacher und Barber/Bell reinzieht, dann aber auf Dutilleux verzichtet. Oder hat er sich nur von mir weggesetzt? Wie dem auch sei, jeder ist seines Glückes Schuster, aber vor Dutilleux geht man doch nicht, wegen Dutilleux kommt man. Die Double-Sinfonie ist Silbergespinst vom Feinsten, pures Glück. Für sowas existiert die Brillanz dieses Orchesters. Noch für die Akten sei erwähnt: Unter Alan Gilbert betont das Orchester vielleicht mehr das Amerikanische als das Französische, statt nebulité klare Brillanz, mehr animato als misterioso, im fuocoso authentischer als im sostenuto. Aber das passt schon. Und man geht aus dem Konzert, dessen Programm zuvor einen solch zusammengewürfelten Eindruck machte, dann doch belehrt – überraschende Ordnung im chaotischen Raumschiff, nämlich: drei erfolgreiche Arten, in den 40er und 50er Jahren und auch heute direkt die Publikumsherzen zu erreichen. Blachers hotte Egal-Coolness (Kippe & Plastikbesteck), Barbers sentimentales Anbiedern, hart an den Marken der Lächerlichkeit (eine Tasse Tränen). Und Dutilleux‘ Klangfülle (die verschüttete Milch- und Kaffeestraße da draußen).

Eine Dutilleux-Biennale wäre auch mal was, aber es wird wohl erstmal Boulez oder so dräuen, von wegen hundertster Geburtstage, was es ja leider heutzutage immer als Aufhänger braucht. Oder zu brauchen meint.

Zum Konzert des Quatuor Diotima / Zum Philharmoniker-Konzert mit Gilbert

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