Innovationsgipfelnd

RSB und DSO erproben neue Konzertkonzepte und Konzeptkonzerte

Innovationsgipfel erwarten dich

„Innovative Formate“ sind für manch emsigen Konzertgänger eher Drohung denn Verheißung. Trotzdem, man will nicht borniert sein, also imma rin inne jute Innovationsstube. Denn jene beiden vortrefflichen Berliner Orchester, die ohnehin häufig die originelleren, mutigeren Programme bauen als die berühmten Philharmoniker-Kollegen, präsentieren zum „World Earth Day“ Unbekanntes wie auch Wohlvertrautes auf ungewohnte Weise: das Rundfunk-Sinfonieorchester erdwühlend mit Vladimir Jurowski im Haus des Rundfunks, und in der Philharmonie das Deutsche Symphonie-Orchester gipfelstürmend mit Andris Poga anstelle des erkrankten Robin Ticciati sowie (nanu?!?) Reinhold Messner.

„Hotspot Erde“ nennt sich die dritte Ausgabe der RSB-Konzertreihe „Mensch, Musik!“. (Der vierte Teil „Wanderer“ mit Musik von Schubert bis Rammstein wird am 10. Juni stattfinden.) Rundherum passt’s hier: Im architektonisch reizvollen Foyer des Poelzig-Rundfunkhauses und den Gängen um den Konzertsaal sind Raumklang und Kunstinstallation angesagt, von William Russell und Gina Lo, alles recht ansprechend. „Kunst – bitte Ruhe“ steht zwar auf den Foyersäulen, wie auf den bemalten Moabiter Verteilerkästen „Kunst – nicht bekleben“, doch der Mensch ist ja, wie er ist, er klebt und kritzelt dort draußen und plaudert und säuselt hier drinnen trotzdem; aber macht nichts, weil der Faktor Human im Installationskonzept neben Nature und Machine schon listig eingeplant ist.

Im Konzertsaal allerdings sättigt die „szenische Einrichtung“ durch Neil Barry Moss und Teresa Reiber den Fremdscham-Akku schon hart. Da werden die traditionellen Generaltugenden und Todsünden auf Schultafeln einander gegenübergestellt und irgendwie aufs Thema „Klimawandel“ bezogen, was alles nicht weit trägt. In den ärgsten Durchhängern wird das zu elend konfusem Laientheater, so gut es gemeint sein mag; auch Luftballons in den Farben der ukrainischen Flagge werden auf die Bühne getragen. Ringsum sehen wir weitplundrig ausgebreitet einen Topffikus, Plastiksäcke voller Müll, einen rosa Teddybären vor einem Zelt und dergleichen, auch ein FCK TRUMP-Schild, das regelrecht aus der Zeit gefallen wirkt. Auf der obligatorischen Leinwand begegnen uns erwartungsgemäß Videobilder verdurstender Giraffen und verhungernder Eisbären oder Wassermassen im Ahrtal: allzu oft gesehen, zum einen Auge rein, zum anderen wieder raus. Die sedierte Behaglichkeit, die im so unbehaglichen wie tatenlosen Betrachten solcher Bilder liegt, wird immerhin in einem der Texte thematisiert, die Marion Brasch zwischendurch mit angenehmer Stimme vorliest. Eindringlich, verstörend rätselhaft wirken hingegen die Bilder der Walrösser, die sich von hohen Felsen anscheinend zu Tode stürzen. Wie überhaupt die Dramaturgie interessanter wird, wenn Szenen und Bilder offenere Assoziationen erlauben. Recht grusellustig sind gar die Aerobic-Videos von nicht endenden Beckenschwüngen und dem Eidotter verschlingenden Hulk Hogan, während das läppische Nachsteppen auf der Bühne dann wieder so lala ist: weil ihm entgeht, was der ästhetische Reiz der projizierten Turnbilder war.

Den allzu ausleiernden Bilderbögen steht die Straffheit der musikalischen Organisation entgegen. Das Orchester sitzt in der Mitte des Großen Sendesaals, weil die Bühne durch die Szenerie vereinnahmt ist. Um die akustischen Vorzüge der steil ansteigenden Terrassen-Staffelung dieser Bühne ist es etwas schade. Druckvoll, zugleich durchglüht und kristallklar klingt das RSB in den Sirènes aus Claude Debussys Nocturnes. Und Peter Sculthorpes Earth Cry, in einer gekürzten Fassung, ist packende Musik von höchster Energie, filmmusikalisch im besten Sinn, mit hypnotischem Bläserdruck und insistierenden Streichern, deren Kraft stellenweise an Janáceks Sinfonietta oder Prokofjew heranreicht. Publikumstauglich und dennoch nicht-banal sind die Uraufführungen von Mischa Tangian und Eden Lonsdale. Und beim Chaos-Akkord, mit dem Jean-Féry Rebels barocke Elemente beginnen, denkt man im ersten Moment: Hut ab, auch mal ein höchst effektvoller Jungkomponist!

Eindrucksvoll auch die abgründige Schein-Schlichtheit von Marys Lied, nach Puschkin aus einer Filmmusik von Alfred Schnittke, dargeboten in glockenhaft sinistrer Einfachheit von Martha Jurowski. Wie hier überhaupt fein gesungen wird, auch vom Tenor Siyabonga Maqungo in Ausschnitten aus Haydns Schöpfung oder dem summenden Cantus Domus mit Verstärkung durch ein Frauenstimmen-Ensemble namens (nun ja) Die Fixen Nixen. An das Schnittke-Lied schließt sich direkt Der Abschied aus Gustav Mahlers Lied von der Erde an. Es scheint wie ein Sakrileg, dieses Gipfelwerk ohne den vorhergehenden Anstieg, also die Teile 1 bis 5, aufzuführen, aber hinsichtlich Bühnenwirkung funktioniert’s. Jurowski nimmt den Abschied recht zügig, das Einschlafen der Welt will da nicht recht eintreten, dafür wird das lange instrumentale Zwischenspiel zu einem faszinierenden Weltabschieds-Schleichtanz, und es ereignen sich mehrfach wahrhaft webernhafte Momente, während die ägyptische Mezzosopranistin Gala El Hadidi den Vokalpart ausgezeichnet verlebendigt.

Referenten-Dampf-Bitonalität beim DSO

Mut zum musikalischen Zerstückwerk beweist auch das Deutsche Symphonie-Orchester an Richard Strauss` Alpensinfonie. Achtung, World Earth Day eben; wobei dieses Werk zur Beschäftigung mit ökologischen Fragen doch eher mittelprädestiniert ist. Hier wird es aber auch zum Illustrationsvehikel in Absicht gegenseitiger Erhellung für Erlebnisberichte aus dem echten Munde der lebenden Legende Reinhold Messner. Das ist eigentlich jene Sorte Kopfidee am Schreibtisch oder Einfall knapp vorm Einschlafen, die man dann beim nachmittäglichen Spaziergang oder beim Aufwachen am nächsten Morgen sofort wieder verwirft. Dass das DSO diese ziemliche Zirbenschnapsidee seines Orchesterdirektors Thomas Schmidt-Ott trotzdem einfach durchgezogen hat, verdient dann doch eine eigene Kategorie von Respekt: zuerst im März 2021 während des Lockdowns filmisch im Tempodrom, jetzt nochmal mit leibhaftigem Publikum in der Philharmonie.

Und natürlich ist das eigentlich indiskutabel, wenn der im Schweigen ganz schüchtern wirkende Messner auf Wink des Dirigenten in leise, gehaltene Passagen der Alpensinfonie oder gar Unterbrechung der Darbietung hinein loszureden hat. Und doch passiert da etwas Reizvolles, und zwar, weil der weltberühmte Messner eben auch ein echter Südtiroler ist, dem die gewisse liebenswerte Hölzernheit des Sprechens eignet, die derjenige kennt, der mit diesem Grenzland des deutschen Sprachraums etwas vertraut ist. „Die Verzweiflung trieb den Überlebenstrieb an“, heißt es da einmal, und auch ein Begriff wie erhaben klingt aus Messners Mund bodenständig, beinah bäuerlich; und das ist ehren- und schätzenswert. Messners Erinnerungen sind spannend, seine Reflexionen anregend und klug, auch anrührend: etwa, dass menschliches Glück aus der Hingabe an etwas entstehe selbst wenn dieses Etwas eine so „unnütze“ Sache wie das Bergsteigen sei, mit seiner Gefährdung des eigenen Lebens „für Außenstehende kaum vermittelbar“. Und beim Gedanken an dieses Glück durch Hingabe an eine unnütze Sache weht einem durch den Kopf: Musik.

Weil der sympathische Messner über existenzielle Erfahrungen im bescheidenen Referenten-Ton spricht, entsteht zudem ein herrlich bizarrer bitonaler Effekt mit dem Sound der Alpensinfonie, die ja doch in pathetischstem Tone eine vergleichsweise mediokre Bergtour imaginiert und symphonisch aufplustert. Messner ist ein ganz unstraussischer Typ, kein Dampfbläser. Während das DSO eben eine perfekte Riesendampfmaschine zu sein versteht, ein Strauss-Orchester par excellence. Man könnte allerhand loben, die Organisation des Klangs, die Gänseschauern machende Bläserpracht etc pp. Aber vor allen Dingen hervorhebenswert scheint der lettische Dirigent Andris Poga, der wie ein Musterbübchen aussieht, aber ein Teufelskerl zu sein scheint: Hat er doch nicht nur die Messner-Alpensinfonie-Chose vom erkrankten Chefdirigenten Robin Ticciati übernommen, sondern auch die Uraufführung einer anspruchsvollen Uraufführung, die es in sich hat.

Diese Exiles von Julian Anderson, Jahrgang 1967, reflektieren in fünf Abschnitten Verlassenheitserfahrungen von biblischen Psalmen über den Zweiten Weltkrieg bis hin zur Gefahr der Verzweiflung im Pandemie-Lockdown. Da brummt und basst es bedrohlich, während die Sopranistin Siobhan Stagg hell und klar singt: „je vous embrasse tous“ – die gesungene Umarmung, der geschriebene Kuss tötet nicht in Zeiten des Virus. Schwindelerregend die Polyphonie des Rundfunkchors im hebräisch gesungenen Psalm 137. Meeresschwellen, Bergestürzen, Leuchten der goldenen Stadt, das alles ereignet sich in den Stimmen des Chors im dritten Teil a cappella, der ein starkes halb-aleatorisches Finale hat, nachdem wir eingangs in Kirchengesangs-Manier Namen wie Bohuslav Martinů hörten: Menschen, die vom amerikanischen Diplomaten Varian Fry vor den Nazis gerettet wurden.

Nach einem rein instrumentalen Satz, der auch elektronische Elemente einbaut, Fernornithologisches, steht dann auch hier ein finaler Abschied, aber nicht allgemein weltschmerzig wie bei Mahler, sondern historisch verankerter und dinglich konkreter. Farewell and a scarf, heißt die englische Fassung eines Gedichts des tschechischen Surrealisten Vítězslav Nezval. Selten genug bei einer noch dazu über dreißigminütigen Uraufführung im Rahmen eines „normalen“ Sinfoniekonzerts: tosender Applaus am Ende. Was Julian Anders geschrieben hat, ist auch wirklich eine sehr gelungene Komposition, sinnlich bis rauschhaft, dabei persönlich und emotional – wozu die akribische Darbietung von DSO und Rundfunkchor und die eindringliche Interpretation von Siobhan Stagg das Ihre beitragen. Allein wie man darauf kommt, diese tiefschürfende Musik ausgerechnet mit Strauss‘ so großartiger wie impertinent selbstgefälliger Alpensinfonie zu koppeln, deren Gipfelreiz am Ende doch in schamloser Oberflächlichkeit liegt: Das bleibt Geheimnis des abwesenden Ticciati. Vielleicht eine weitere Zirbenschnaps-Idee. Angesichts der Attraktionen dieses Konzerts ist es aber kein Einwand, eher Wundern.

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