Zumutig: Silvesterkonzert mit RSB, Rundfunkchor, Vladimir Jurowski

Beflügeltes Jahresendkonzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin und des Rundfunkchors, mit dem der Chefdirigent Vladimir Jurowski seinem Publikum im Konzerthaus einiges zutraut und einiges zumutet.

Gut so! Denn eine zumutungsfreie Neunte ist die eigentliche Zumutung. Nicht nur montiert Jurowski (wie vor 40 Jahren Michael Gielen in Frankfurt) Arnold Schönbergs A Survivor from Warsaw mitten in Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie d-Moll hinein. Er spielt überdies den Beethoven-Remix von Gustav Mahler, der für seine eigenen Aufführungen spätromantische Orchesterretuschen an den Sinfonien verübte. Historisch informierte Aufführungspraxis mal anders, aber sowas von.

Wäre ein Programm ein literarischer Text, würde man vielleicht von überkodiert sprechen. Aber aufregend ist das, und erschütternd. Also mal wirklich Neunte!

Wer weiß, wie der Beethoven klang, den der junge Arnold Schönberg (*1874) von Mahler dirigiert hörte? Wie Mahler in den Beethovensinfonien herumretuschierte, war offenbar schon seinerzeit sehr umstritten; in den Hamburger Kapellmeisterjahren 1891-1897 war das, noch vor der Wiener Zeit. In dieser Neunten vom RSB gibts also je 16 erste und zweite Violinen, acht Kontrabässe etc pp. Das tönt gewaltig süffig einerseits und zugleich paradox deutlich und durchstrukturiert. Wenn schon pimpen, dann gekonnt und kohärent.

Das verdoppelte Holz (16 Holzbläser im Tutti, plus Piccolo und Kontrafagott) scheint überproportional hervorzutreten, und das Ohr staunt, wie viel da sonst verschluckt wird. Weil Jurowski auch relativ breite Tempi wählt, zeigen sich verblüffend stark gesangliche Elemente. In manchen pendelnd kantablen Kopfsatz-Momenten stellen sich beim Konzertgänger sogar Rachmaninow-Assoziationen ein. Darf das sein? Zugleich das Gefühl eines gewissen Verlusts an Menschlichkeit, weil durch die Verdopplung im ersten Satz kaum einzelne Bläser zu hören sind. Aber es ist eine so irritierende wie faszinierende Klangerfahrung, auch das dralle und fast behäbige Scherzo und erst recht der langsame dritte Satz, der in sämiger Wärme den Saal flutet: maestoskantabel und doch wohlproportioniert. Das überwältigt durch Überzeugung und bleibt dabei produktiv befremdlich.

Dann aber Schönberg. Quasi attacca zwischen drittem und viertem Satz. Die vier Solisten für die Ode stehen vor der Orgel zwischen dem Chor, der inzwischen hereingekommen ist; der Bass Dietrich Henschel gibt auch den Sprecher in Schönbergs Survivor from Warsaw (1947). Im Orchester hört man plötzlich lauter Einzelstimmen: eine Figur der ersten Violine, das Cello martelliert … lauter Schreckensstimmen sind das, vom RSB zwölftönig-eindringlich dargeboten, es dringt in jede Pore des Ohrs. Dann singt die Männerhälfte des Rundfunkchors das Sch’ma‘ Jisrael, das die Deportierten im Warschauer Ghetto anstimmen.

Unerträglich, wenn unmittelbar die Schreckensakkorde folgen, mit denen das Finale von Beethovens Neunter beginnt. Unerträglich, wenn dieselbe Stimme, die eben den englischen Bericht des Überlebenden aus Warschau gesprochen und auf Deutsch gebellt hat In einer Minute will ich wissen, wieviele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen! — wenn dieselbe Stimme nun singt: O Freunde, nicht diese Töne! Da krampft sich das Herz des Hörers zusammen und das wird man in der ganzen Ode nicht mehr los. Wenn der Chor Freude schöner Götterfunken singt, klingt das Sch’ma Jisrael der zur Gaskammer Abgelieferten nach.

Und führt zugleich vor Augen, Ohren und Herzen, wie ungeheuerlich und krass Beethovens Menschheits-Utopie war. Das Entsetzen macht die Neunte wieder lebendig, indem es sie in unendliche Ferne schleudert und das bequeme Zurücklehnen durchkreuzt. Beethoven ist eine Zumutung.

Diese drastische Wirkung überschattet sogar die leuchtenden Farben, mit denen Mahler Beethoven übergießt. Am skurrilsten gewiss das Fernorchester von draußen, das Mahler vor dem Abschnitt Wem der große Wurf gelungen einsetzt. Und die schönen Einzelstimmen, die man hier im vierten Satz nun endlich hört, angefangen mit dem herrlichen Fagott.

Das RSB spielt wunderbar, aber noch imposanter sind die Überzeugung und das unbedingte Engagement, womit die Musiker den Anschlag ihres Chefs auf die wohlige Jahresendbesinnlichkeit umsetzen. Das Solistenquartett ist von etwas unterschiedlicher Qualität: der Bassbariton Dietrich Henschel so packend wie als Sprecher im Survivor, Sopran und Alt Christina Landshamer und Maria Gortsevskaya scheinen ihre Sache gut zu machen, mit dem quetschigen Tenor von Torsten Kerl allerdings wird der Konzertgänger sich nicht mehr anfreunden. Über den von Benjamin Goodson einstudierten Rundfunkchor lässt sich alles wiederholen, was hier der Mahlerretusche von Beethoven nachgesagt wurde: gewaltig süffig und deutlich durchstrukturiert und pendelnd kantabel, kohärent und gekonnt. Der Rundfunkchor ist fantastisch.

Die Berliner Philharmoniker geben auch ihr Silvesterkonzert, das DSO geht jedes Jahr in den Circus. Mag sein, dass einige jahresendlich gestimmte Ode-an-die-Freude-Stammgäste des RSB den neuen Chef Jurowski als Spaß- und Champagnerbremse empfinden. Aber schwer vorstellbar, dass ein anderes als dieses Beethoven-Mahler-Schönberg-Menschheitskonzert das aufregendste Silvesterkonzert 2017 ist.

Weitere Kritiken: Morgenpost, Stagescreen

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5 Gedanken zu „Zumutig: Silvesterkonzert mit RSB, Rundfunkchor, Vladimir Jurowski

  1. Meine „Kurzkritik“ von gestern Abend (an eine Freundin gesendet):
    Bin gerade aus der Aufführung einer aufwühlenden, kritischen und großartigen Neunten von Beethoven raus.
    Nach dem Adagio und vor dem Finale hart geschnitten Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ und die ganze unsägliche Aufführungs-Tradition ist für diesen Augenblick aufgehoben und man hört wie zum ersten mal. Wirklich GROSS!
    J

  2. Das hört sich ja wirklich mutig und interessant an.
    Gut, das Konzert unter Rattle ist sicherlich gefälliger und wenn man den Kritiken glauben kann, auch recht interessant.
    Über das Konzert in der Staatsoper ein Wort zu verlieren, lohnt sich sicherlich nicht

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