20.5.2016 – Unvollendete letzte Liebestod-Verklärung: Kent Nagano beim DSO

Willard_Metcalf_May_NightVier letzte Lieder in der Philharmonie: Das erste letzte Lied heißt Tristan, das zweite Verklärte Nacht, das dritte Unvollendete, das vierte Vier letzte Lieder. Kent Nagano kombiniert bei seinem Maibesuch beim Deutschen Symphonie-Orchester wohltönend tiefstsinnige Evergreens, in denen es um die letzten Dinge geht.

Dabei wagt Nagano, der seriöseste und sympathischste aller Dirigenten, sich sonst auch todesmutig in höllische Niederungen wie Kinderkonzerte und Einkaufszentren – letzteres vor wenigen Tagen beim Symphonic Mob an einem Ort, dessen Name den Kulturfreund schaudern macht:

Dort stand Verdi auf dem Programm, nicht Wagner, obwohl ein Liebestod im Shopping-Center ja auch was hätte. Und so viel fehler am Platz als in einem Symphoniekonzert wäre er da auch nicht. Kein Geringerer als Richard Wagner selbst mag Vorspiel und ‚Liebestod‘ (vulgo Verklärungsszene) aus ‚Tristan und Isolde‘ schon konzertant gegeben haben, in den Ohren des Konzertgängers hat es trotzdem etwas Unverfrorenes: Man erwartet eben die Stimme des jungen Seemanns, da blasen Klarinette und Hörner bereits zur Transfiguratio praecox.

Trotzdem hat ein konzertanter Tristan-Auszug einige Vorzüge, Musiker wie Zuhörer-Ohren sind beim Liebestod noch frisch, und das Orchester klingt glanzvoller, wenn es nicht aus dem stickigen Graben heraufdumpft. Was beim grandiosen DSO besonders viel wert ist: Es geht das Vorspiel recht breit und mit ungewohntem kleinen Wackler im Holz an, aber sehr klangschön und äußerst deutlich. Dass sich keine rechte Ergriffenheit einstellt, sondern das Publikum in den Schlusston hinein röchelt und klatscht, liegt nicht an der Orchesterleistung, sondern ist der zwangsläufig ernüchternden Natur des Opern-Exzerpts geschuldet.

In angemessene Stille führt hingegen Arnold Schönbergs Verklärte Nacht (in der Fassung für Streichorchester). Nach dem Liebestodquickie wirkt die unendliche Melos- und Eros-Reise umso entgrenzender. Das Streichorchester ist klangvoll wie ein vollbesetztes Symphonieorchester, zugleich transparent wie ein Sextett. Die Stimmführer glänzen allesamt solistisch, aber das Ensemble spielt insgesamt so flirrend aufgefächert, dass man nie den Eindruck von Kammermusik verliert. Mag die Verklärte Nacht auch von Tristan-Anleihen triefen, kommt einem Wagner nach dieser Musik auf einmal höchst unfein vor.

Noch die Kontrabässe, die das mysteriöse Motto von Franz Schuberts h-Moll-Symphonie anstimmen, der Unvollendeten, klingen wie der Verklärten Nacht entstiegen; wenn dieses Motto die Durchführung fast allein trägt, dann aber erst in der Coda wiederkehrt, entsteht eine faszinierende Durchdringung mit Schönbergs Musik. Die Flöten hat man selten so leidensvoll seufzen gehört wie hier, und die leise Klarinette (Stephan Mörth) im zweiten Satz klingt wundervoll. Noch faszinierender ist die Wandlungsfähigkeit des DSO insgesamt, das die Unvollendete vor nicht langer Zeit in perfektem Roger-Norrington-Sound spielte, sie nun aber unter Nagano in mittlerem Tempo und mit teilweise massiven Klangballungen angeht; auf ganz andere Weise ebenso vollendet. (Der Konzertgänger bevorzugt Norrington, aber das ist Geschmackssache.)

Richard Strauss‘ Vier letzte Lieder gab es beim DSO vor einigen Jahren an einem Karsamstag in einer derart missratenen Aufführung, dass es hohen Erinnerungswert hatte (was aber nicht am Orchester lag). Auch sie klingen diesmal, zum Glück, ganz anders: Die Schwedin Miah Persson hat keinen umwerfend schönen, eher leicht metallisch timbrierten Sopran und anfangs auch etwas Mühe mit genauen Einsätzen, aber sie überzeugt doch mit sehr beweglicher Stimmführung sowie Durchsetzungskraft. Und durch höchste Leidenschaft! Als eine Art Finale der Unvollendeten sind die Vier letzten Lieder hier sehr originell angesetzt. Das Orchester schillert und strahlt ohnegleichen; wie die weite Klanglandschaft Im Abendrot leuchtet, ergreift nicht nur den, der David Lynchs Wild at Heart gesehen hat. Konzertgänger’s dream jedoch: dass eine Sängerin wie Miah Persson, statt betrübte Blicke aus der emotionalen Konfektionswarenabteilung in den Raum zu werfen, eine darstellerische Präsenz wie Laura Dern entwickelte. Dann käme man als Hörer nicht mit heiler Haut aus einem solchen Konzert. So verlässt man das Programm von vier Werken, in denen es von den letzten und allerletzten Dingen gesungen hat, irritierend unbeschwert. Schön war es zweifellos.

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21.4.2016 – Intonations: Martha Argerich, Barenboims & Co im Jüdischen Museum

Abschlusskonzert des sechstägigen intonations-Festivals im Jüdischen Museum. Wie bei einer guten Party sind die spätesten Gäste die besten, zumindest die berühmtesten: Martha Argerich und Daniel Barenboim spielen Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps in der Fassung für Klavier zu vier Händen, einer Transkription, die die Welt nicht braucht. Aber von diesen beiden Pianisten, Barenboim nonchalant, Argerich suggestiv, ließe man sich auch das Telefonbuch vorspielen. Erst kurz vor Ultimo, in der Action rituelle des ancêtres, als Argerich ihren lockenden, lodernden Ton rollen lässt, entsteht der erhoffte Sog. Weiterlesen

20.9.2015 – Haltlos: Arditti-Quartett spielt Schönberg und Ferneyhough

Malheurs, wie der Konzertgänger sie nur von seiner Geige übenden Tochter kennt: Schon im 1. Satz fallen dem zweiten Geiger die Noten zu Boden. Als er sich bückt, um sie aufzuheben, segelt die Kinnstütze durch die Gegend. Entscheidender Unterschied zur geigenden Tochter: Ashot Sarkissjan lässt sich nicht aus dem Konzept bringen, sondern spielt unbeirrt weiter.

Der Konzertgänger würde es zwar nicht merken, wenn in Arnold Schönbergs Streichquartett Nr. 3, op.30 (1927) ein paar Noten fehlten; aber es klingt ungeheuer vollständig, logisch und schlüssig. Und trotzdem schmissig: Das Stück, immerhin eine der ersten Kompositionen in Zwölftontechnik, ist absurd klassizistisch. Viersätzig natürlich, Kopfsatz mit pochendem Thema, Variationen-Adagio, menuettähnliches Intermezzo, Rondo-Finale. Für die Ausdrucksmittel gilt das noch mehr: Es klingt wie ein geradezu epigonales Streichquartett, nur eben mit „schiefen“ Tönen. Es wird wohl Schönbergs Anliegen gewesen sein zu beweisen, dass mit der neuen Technik Traditionen nicht über Bord geworfen, sondern fortgesetzt werden. Aber für den heutigen Hörer, der ganz andere Klänge achselzuckend hinnimmt, ist etwas die Luft raus. Zumindest für den Konzertgänger. Dabei ist die Brillanz des Arditti-Quartetts mit seinem Gründer Irvine Arditti, dem nervenstarken Ashot Sarkissjan sowie Ralf Ehlers (Bratsche) und Lucas Fels (Cello) äußerst beeindruckend.

Bei Brian Ferneyhough gibt es deutlich mehr als zwölf Töne. Sein Streichquartett Nr. 6 (2010) wäre ein guter Kandidat für die interessante Reihe 2x hören im Konzerthaus. Beim ersten Hören klingt es mit seinen ständigen Abbrüchen und Splittern, die gekratzt, gehauen und gefiepst werden, ungeheuer aufregend, aber der Hörer findet kaum einen Halt. Deshalb klammert er sich an das, was er findet: Hier ein gemeinsamer klirrender Klang, der die Frau des Konzertgängers an die mysteriöse Glasharmonika erinnert. Dort ein ausgiebiges Solo, in dem Irvine Arditti vorführt, was er auf der Geige alles kann (extrem viel, wenn auch ganz anderes als Paganini). Wenn gar nichts mehr hilft, kann man auch wie die ältere Dame vor dem Konzertgänger mit dem Smartphone die Decke des Kammermusiksaals fotografieren.

Konsequenz: Mehr Ferneyhough, bitte! Das Arditti-Quartett macht mit der Zugabe einen Anfang. Die schlechte Nachricht sei, so der Chef, dass man jetzt noch ein Streichquartett von Ferneyhough spielen werde; die gute, dass es nur anderthalb Minuten dauere. Von wegen! Der Konzertgänger geht jetzt, wo das Musikfest zuende ist, erstmal die Partitur studieren:

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Arditti-Quartett

18.9.2015 – Uudslukkelig: Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker spielen Herrmann, Schönberg und Nielsens Vierte

War Carl Nielsen ein Psychopath? Wenn man seine Musik mit Bernard Herrmanns Filmmusik zu Alfred Hitchcocks Psycho kombiniert, bekommt der Begriff des neurotischen Enthusiasmus, mit dem Leonard Bernstein Nielsen beschrieb, einen ganz anderen Klang. Aber wahrscheinlich sollte man nicht an Norman Bates, sondern rein musikalisch denken: Herrmanns zackige Linien und schroffe Konturen könnten gut zu Nielsens rustikaler Symphoniebauweise passen, in der die Fülle des Wohllauts auf den Drang zum Dazwischenfahren und Dreinschlagen trifft.

Im Konzertsaal stößt Bernard Herrmanns Psycho zunächst an seine Grenzen. Das Agitato, bei dem man sich an Marion Cranes Autofahrt erinnert, klingt bei den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle fast zu schön. Aber die leisen Passagen sind dann eine Offenbarung; ganz deutlich werden Herrmanns Wagner-Anklänge, Tristan vor allem, später sogar ein subtiler Walkürenritt. Eine Frau in Block B hustet sich dabei einen ab, so dass der Konzertgänger ihr in einem schwachen Moment einen Norman Bates an den Hals wünscht; nein, gute Besserung vielmehr! Später gespannte Stille, als die Fingerkuppen der Streicher fast unhörbar über die Saiten streichen… bevor die berühmten Duschen-Glissandi erklingen.

Der Konzertgänger zieht für sich noch eine Linie von Psycho zu den stochastischen Streicherattacken in Iannis Xenakis‘ Shaar, die das aufregende Konzert des DSO unter Ingo Metzmacher am Vortag eröffneten. Es gibt doch interessante Verwandtschaften! Während das DSO-Konzert in Schönbergs Jakobsleiter gipfelte, ist bei den Philharmonikern Arnold Schönbergs Die glückliche Hand (1910-13) eine Art Intermezzo. Das haarsträubende Libretto dieses 20minütigen Bühnenwerks tobt sich vor allem in den Regieanweisungen aus, so dass der gesungene Part von Florian Boesch überschaubar bleibt. Zunächst steht aber ein zwölfköpfiger Kammerchor wie ein Vorhang vor dem Orchester und singt von der Sehnsucht ans Unerfüllbare; dahinter murmeln die Instrumente, v.a. die Pauke. Dann hebt sich der Vorhang, zum Glück sanfter als im Motel Bates, und die Bühne gehört ganz dem Orchesterklang, schillernd und farbig dahinfließend, unvorhersehbar und völlig frei – man bedauert, dass Schönberg sich später unbedingt ein System überzwängen zu müssen meinte.

Featured imageDer zweite Teil des Konzerts gehört Carl Nielsen. Die Ouvertüre Pan og Syrinx (1917/18) ist schöne Musik mit wunderbaren Soli, v.a. das Englischhorn (Dominik Wollenweber) mit Glockenspiel, dann die Klarinette (Andreas Ottensamer). Sie hat einen überraschenden Schluss, ein leises, aber fast schrilles Geigensirren, auf dem ein Cellosolo erstirbt.

Die Aufführung der 4. Symphonie Das Unauslöschliche (dänisch unvergleichlich: Det uudslukkelige; 1914-16) ist der Höhepunkt nicht nur des Konzerts, sondern des ganzen Nielsen-Schwerpunkts beim diesjährigen Musikfest. Nielsensche Aufmüpfigkeiten aus allen Ecken, vielleicht hat das mit seiner frühen Existenz als zweiter Geiger zu tun: Die wüsten Schrammelattacken auf die Schönheit und das Glück beginnen schon im 1. Satz, v.a. die Holzbläser halten anmutig und vif dagegen, bis der großartige Hymnus der Blechbläser mit dem Hauptthema vorläufig obsiegt. Der zweite Satz gehört den Holzbläsern und im Mittelteil den Streicherpizzicati, idyllischer geht’s nicht. Im dritter Satz zunächst ein trauriger Streichergesang; dann regt und erregt es sich in allen Ecken, als würden sich die Frontlinien für eine Schlacht formatieren. Die auch stattfindet, und wie: Nach einem erneuten Luftholen im großartigen Finale, das die Philharmoniker, auch im Leisen, unter Hochdruck spielen, ein totales Inferno unter dem wüsten Donner der beiden Pauken, die sich hinter dem Orchester aus den Ecken duellieren. Schließlich aber steigt wieder der Bläserhymnus auf, glorioser denn je: ein Triumph des Lebens und der Schönheit, indiskutabel optimistisch vielleicht, aber überwältigend glanzvoll und beglückend.

Das war jetzt immerhin was Schönes, sagt beim Hinausgehen eine Frau, die offenbar den Schönberg nicht verkraftet hat.

Zum Konzert. Weitere Aufführungen am 19. und 20. September, noch einzelne Karten

Ichlöschend: Ingo Metzmacher und das DSO spielen Xenakis, Mahler und Schönbergs ‚Jakobsleiter‘

Schon vor der Pause fließen Blut und Tränen: Iannis Xenakis‘ Shaar für großes Streichorchester (1983) ist Neue Musik für Slayerfans – was den Druck angeht, nicht etwa den Lärmpegel. Der hält sich in Grenzen, auch wenn der Anfang klingt wie der Angriff der Killerbienen. Oder ein Fliegerangriff. Die Energie von Shaar entsteht aus dem Wechsel von Gleiten und Pochen: einerseits heftige Glissandi, oft gegeneinander verlaufend, und mächtige Cluster, andererseits vehemente Tonwiederholungen. Schließlich völlig überraschend ein Einschnitt, zarte Töne: eine einzelne Geige beginnt zu singen, dann eine zweite. Xenakis ließ sich, wie man im aufschlussreichen Essay von Habakuk Traber erfährt, von einer kabbalistischen Legende inspirieren: Verfolgung durch das geballte Böse und, anders als in der Sage, Zuflucht durch ein geheimes Tor (shaar) aus der Welt. Auch allerlei mathematische (oder eher zahlenmystische) Elemente verstecken sich in der Komposition. Seltsame Angelegenheit, die stochastische Musik, aber Xenakis ist immer packend, das hat der Konzertgänger schon bei einem Streichquartett im Konzerthaus und der Oresteia im Parkhaus der Deutschen Oper erfahren. Faszinierend und perfekt gespielt, wie in Shaar der Klang am Ende ins Nichts verschwindet und dann noch einmal anschwillt. Der Konzertgänger merkt, dass er aus der Nase blutet.

Tränen dann bei Gustav Mahlers Kindertotenliedern. Die alte Dame neben dem Konzertgänger fängt zuerst mit dem Weinen an, im dritten Lied Wenn Dein Mütterlein tritt zur Tür herein. Dabei drückt das Deutsche Symphonie-Orchester gar nicht auf die Tränendrüse, auch wenn Ingo Metzmacher beim Dirigieren öfter in die Knie geht. Wiebke Lehmkuhl singt ergreifend, wenn auch nicht immer sehr textdeutlich; jedenfalls ist sie keine Konsonantenspuckerin. Die Kindertotenlieder sind ohnehin kaum zu ertragen, aber wie sie hier aus dem Xenakis-Inferno hervorgehen, steigert ihre Wirkung noch erheblich. Im Saus und Braus und Graus des fünften Liedes hat man den vorhergehenden Shaar-Sturm wieder ganz präsent. Kaum jemand entwirft so aufregende Programme wie Metzmacher. Auch hier am Schluss ein Tor, eher Resignation als Hoffnung: von keinem Sturme erschrecket, von Gottes Hand bedecket.

Featured imageHauptwerk des Abends ist Arnold Schönbergs Fragment gebliebenes Oratorium Die Jakobsleiter. Trotzdem ist die Philharmonie ausverkauft: Das können doch nicht alles Alttestamentler sein? Nein, im Foyer sieht der Konzertgänger auch den Bäcker aus seinem Kiez.

Die Jakobsleiter ist theologisch nicht so gewieft wie die spätere (ebenfalls unvollendete) Oper Moses und Aron, sondern hat noch viel von expressionistischem Menschheitsdrama. Von den kollektiv Jubelnden (famoser Rundfunkchor) bis zum einsam Sterbenden (Edda Moser, sprechend) treten die Erdenbewohner dem oberlehrerhaften Erzengel Gabriel gegenüber; die Sanftergebenen mit ihrem schwebenden Ja, ja erinnern sogar an Kurt Weill. Die Hauptattraktion des Stücks ist aber der Schluss, wo vier Fernensembles aus der Höhe die Musik in die Ewigkeit verwehen lassen – das dritte Tor an diesem Abend. Der Blick in andere Sphären beginnt mit einer Sologeige auf der Empore und endet mit dem sterbenden Ich, das in D SONDERPLÄTZE verlischt. Ein Sopran singt dort oben lange Vokalisen auf A. Übrigens eine merkwürdige Querverbindung zu Carl Nielsens 3. Symphonie, in der gestern zu ganz anderen Zwecken ähnlich gesummt wurde: Pastorale statt Transzendenz. Ob das Summen der Seele bei Schönberg geschmackssicherer und tiefsinniger ist als bei Nielsen, sei dahingestellt. Aber zweifellos ist es eine große Konzerterfahrung: einschüchternd und beeindruckend.

Mal den Bäcker fragen, was er dazu meint.

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Aufhellend: Marek Janowski und das RSB spielen Mahler, Schönberg und Nielsens Dritte

Der Akkord! So wie die Kinder des Konzertgängers über einen Witz, den sie schon hundertmal gehört (oder erzählt) haben, immer wieder lachen, so erschrickt der Konzertgänger jedesmal von neuem, wenn in Gustav Mahlers Adagio  aus der unvollendeten 10. Symphonie der Akkord kommt: das dissonante Neunton-Ungeheuer. Marek Janowski lässt das Rundfunk-Sinfonieorchester nicht mal besonders laut spielen, aber das Blut gefriert einem in den Adern. Dabei hat man die ganze Zeit schon auf diesen Akkord gewartet.

Mit ihm verglichen wirkt beim frühen Schönberg alles harmlos, auch der Tod Toves, den das Lied der Waldtaube aus den Gurre-Liedern erzählt, hier in einer hörenswerten Fassung für mittlere Stimme und Kammerorchester, die Arnold Schönberg persönlich 1922 eingerichtet hat. Durch die kleine Besetzung, v.a. mit Holzbläsern, aber auch Klavier und Harmonium, kommt die Stimme wunderbar zur Geltung. Die schottische Mezzosopranistin Karen Cargill ist nicht nur eine beeindruckende Erscheinung, sondern singt mit umwerfend verschwenderischem Vibrato – für eine gurrende Waldtaube ganz angemessen.

Mit den Gurre-Liedern sind wir schon in Dänemark. Das Konzert ist, janowski-typisch sachlich, der heimliche Höhepunkt des Musikfestes, erstens weil unsere eigenen Berliner Orchester letztlich doch die besten sind (poltere nicht, flüstert seine Frau dem Konzertgänger zu) und zweitens, weil hier die drei Schwerpunkte Mahler, Schönberg, Nielsen in einem einzigen Konzert aufeinandertreffen. Etwas viele Schwerpunkte, Mahler zu hören ist immer schön, aber mehr Nielsen wäre noch schöner gewesen, da seltener; aber in diesem Konzert geht es auf. Schönberg ist hier das Bindeglied zwischen Nielsen und Mahler, über den er schrieb: Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe. Vielleicht wären die Rätsel dieser Welt gelöst, wenn einer von denen, die sie wissen, die Zehnte schriebe. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Featured imageCarl Nielsen ist mit seinen sechs Symphonien längst nicht so weit gekommen, und nirgends ist er von der Lösung der letzten Rätsel weiter entfernt als in der 3. Sinfonie Sinfonia espansiva (1910/11). Zum Glück! Viel einfacher gestrickt als die weltkriegserschütterte Fünfte, die das Royal Danish Orchestra gespielt hat, und die zerfledderte Sechste, die das Mahler Chamber Orchestra in einer Kammerversion vorgestellt hat, ist die Dritte genau das Richtige für die schöne Schwangere, die in der Pause im Foyer ihren Bauch streichelt: eine Extradosis Lebensenergie. Der begeisterte Schwung des ersten Satzes Allegro espansivo ist pure Freude, frei von jeder hässlichen vitalistisch-biologistischen Ideologie. Im folgenden Andante Pastorale summen Sopran und Bass im Block H stehend auf Aah, ähnlich wie in der (viel abgründigeren) Pastoral Symphony von Ralph Vaughan Williams: Da bekommt der Konzertgänger das Gefühl, ganz allgemein über der Weite des Lebens zu schweben. Ein gutes Gefühl! Das bis ins Finale anhält: ein hymnisches, mitunter etwas redundantes Finale mit viel Posaune. Es kreist vor sich hin, könnte ewig so weitergehen, aber das wäre gar nicht schlimm. Das Gegenteil des Akkords. Expansive Freude allseits!

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Schön gewaltig: Det Kongelige Kapel spielt Nørgård, Schönberg und Nielsens Fünfte

Wenn das älteste Orchester der Welt die Welthauptstadt der klassischen Musik (poltere nicht, flüstert seine Frau dem Konzertgänger zu) beehrt, wer wollte da nicht kommen? Leider einige, die Philharmonie ist ziemlich leer, wie so häufig bei Gastspielen auswärtiger Orchester, die nicht Wiener Philharmoniker oder Concertgebouw Orkest sind. Schön, dass dass das Musikfest Berlin den Luxus erlaubt, hier Orchester vorspielen zu lassen, für die sich Gastspiele auf eigene Faust schwerlich rechnen würden. Sogar die dänische Prinzessin Benedikte ist mitgekommen! Auch wenn man als Berliner im Orchester- und Opernparadies lebt (poltere nicht, flüstert…), ist es gut, über den Tellerrand zu schauen.

Die Königliche Kapelle Kopenhagen, die hier als The Royal Danish Orchestra auftritt, aber auf Dänisch als Det Kongelige Kapel am schönsten heißt, gilt als das älteste Orchester der Welt: Sie existiert seit 1448 und damit glatt 100 Jahre länger als die Sächsische Staatskapelle; unsere 1570 erstmals erwähnte Berliner Staatskapelle ist dagegen ein junger Hüpfer. (Preisfrage: Welches ist das älteste Orchester Deutschlands? Keines der genannten. Die Antwort steht hier.)

Featured imageDet Kongelige Kapel ist aber auch das Orchester, in dem Carl Nielsen ab 1889 die zweite Geige spielte, der (wie der dänische Botschafter hübsch schreibt) in Dänemark weltberühmte Komponist. Ein Pflichttermin also für Nielsen-Fans und alle, die es werden wollen! Und das sind sehr viele Menschen, weltweit; einige von ihnen wissen es bloß noch nicht.

Nichts geeigneter, um Fan zu werden, als Carl Nielsens explosive Fünfte Symphonie von 1921/22. Dieses zweiteilige Werk ist eine Urgewalt, die jeden Hörer wegbläst – gerade im Kontrast mit den herrlichen idyllischen und hymnischen Passagen, die den Brachialpassagen Kontra geben. Den lieblichen Terzwellen, mit denen die Symphonie beginnt, den Gesängen und lustvollen Figuren der Fagotte und Flöten wird im Lauf der Symphonie böse zugesetzt, vor allem von der immer garstiger dreinfahrenden Trommel. Die ohnehin bescheidenen Klavierkünste des Konzertgängers stoßen bereits an ihre Grenzen, wenn seine Tochter im Nebenzimmer wüst gegen den Takt trommelt; aber bei Nielsen und der Königlichen Kapelle obsiegen Ordnung und Schönheit. Doch bis es soweit ist, tobt eine überwältigende Schlacht, der beizuwohnen jeden Hörer packen muss; auch wenn die die Königliche Kapelle unter Michael Boder das Werk eher nüchtern und vielleicht manchmal etwas penibel spielt. Mehr Gewalt wäre schön gewesen. Atemberaubend zart spielt der Klarinettist am Ende des ersten Satzes. Der zweite Satz führt dann von einer ulkigen Fuge in einer langen Steigerung zu einem anton-brucknersch-john-williams’schen Schlusshymnus, der abrupt endet.

Vor Nielsens Weltenkampf hat es bereits Regenbogen- und Mondmusik gegeben: zunächst Per Nørgårds Iris (1966), das wie eine Reflexion über das Einstimmen klingt, wenn die vielfach geteilten hohen Streicher sich mit den Flöten allmählich auf dem A treffen. Der Klang dehnt sich in die Tiefe aus, hin zu Posaunen, Basstuba, Bassklarinette, Tamtam. Als man allmählich fürchtet, dass das Werk auf dieser A-Suche erstarren wird, setzt die Klarinette einen einfachen, in Vierteln schreitenden Gesang entgegen, der im Orchester sein Echo findet, u.a. in der gestopften Trompete – ein schwebender, mystischer Klang, der den Konzertgänger an Charles Ives‘ The Unanswered Question erinnert.

In Arnold Schönbergs Erwartung (1909) darf der Mond in Celesta und Harfe silbrig schimmern; wenn die schöne Harfenistin dann wehende Papierfetzen in die Harfe flicht, um den fast unhörbar besungenen blutigen Kuss zu begleiten, wird auch der erratische Hörer zum Anhänger der freien Atonalität. Die hervorragende Sopranistin Magdalena Anna Hoffmann singt inbrünstig und deutlich, mit rasend bewegtem Gefühl. Da zittert und zagt der erratische Hörer mit, als wäre es Puccini; trotz des kruden Textes, eines hysterischen Psychodramas voller Auslassungs-… wie Robert Musils Verwandlungen. Schade, dass Schönberg keine atonale Manon geschrieben hat.

Schönberg prophezeite bekanntlich, in unferner Zukunft werde man seine Melodien auf der Straße pfeifen. In unserer (schon ziemlich fernen) Zukunft gelingt das an diesem Abend nicht, denn unmittelbar nach dem Applaus beginnen die Flöten, sich mit den markanten Figuren aus Nielsens Fünfter warmzuspielen. Man geht schon mit dem Nielsen-Sound in die Pause, mit dem man später das Konzert verlässt.

Eine Aufzeichnung des Konzerts wird am 25.9. auf Deutschlandradio Kultur gesendet.

Weitere Nielsen-Konzerte am 16.9. (Dritte) und 18., 19., 20.9. (Vierte) beim Musikfest in der Philharmonie sowie den ganzen Herbst über in den Nordischen Botschaften.

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