Im 6-Monats-Takt setzt Sir Roger Norrington, 81, seinen Vaughan-Williams-Zyklus fort: Nach der aufwühlenden Sechsten im Juni gab es nun im Dezember die Fünfte, bevor im nächsten Juni die Neunte folgt. Die Siebte und Achte fehlen dann noch.
Der Anfang der Fünften erinnert allgemein an Sibelius (man vergleiche mal die Anfänge, hier und hier) und konkret an ein böhmisch-amerikanisches Cellokonzert: Bei Vaughan Williams ist der zweite Teil von Dvořáks zackigem Thema allgegenwärtig, in dem es untenrum zum Grundton zurückgeht:
Da wir seit Shakespeare ohnehin wissen, dass Böhmen am Meer liegt, passt es bestens, das Konzert mit Antonín Dvořáks Cellokonzert h-Moll op.104 (1894/95) zu eröffnen. Norrington und das Deutsche Symphonie-Orchester gehen es mit extremen Temporückungen an, den Anfang äußerst gedehnt, dann mit starker Beschleunigung. Das lyrische zweite Thema ist wieder sehr langsam. Zunächst befürchtet man, die Musik würde zerfasern. Aber der Ansatz kommt dem Stück zugute. Brahms konnte sich (vor Dvořák!) nicht vorstellen, dass das Cello als Solo-Instrument taugen könnte wie Klavier oder Violine, und der Kanadier Jean-Guihen Queyras ist erst recht kein musikalischer Kraft- und Schönheitsprotz: Offenhörlich im Herzen ein Kammermusiker, wirkt sein Spiel zunächst fast schwachbrüstig, jedenfalls zu intim für den Großen Saal und das romantische Konzert. Aber der Eindruck lichtet sich sehr: Mögen die Tutti auch heftig sein, breitet Norrington diesem zarten Spiel einen roten Teppich aus. Schon das Zusammenspiel mit der wunderbaren Flöte (Gergely Bodoky) im zweiten Satz ist pures Glück. Der Schluss des Adagio und der todeswehmütige Epilog des Finales könnten ergreifender nicht klingen; obwohl Queyras tief in die Saite geht, klingt sein Ton ganz leicht, ja zerbrechlich. Wie gern säße man bei der Sarabande aus Bachs G-Dur-Suite, die Queyras als Zugabe spielt, in einem kleineren Raum!
Nicht nur das kleine, um einen Ton kreisende Grundmotiv, sondern auch das Liedhafte, Gesangliche verbindet Dvořáks Cellokonzert mit Ralph Vaughan Williams‘ 5. Symphonie (1938-43, rev. 1951) in der Paralleltonart D-Dur. Während Dvořák die Erinnerung an ein Lied seiner einst geliebten, nun sterbenskranken Schwägerin Josefina einkomponierte, ließ Vaughan Williams Musik aus seiner spirituellen Oper The Pilgrim’s Progress einfließen, mit der er nicht vorankam.
Und diese Musik aus der schlimmen Kriegszeit fließt tatsächlich: ein großes, ruhiges Dahintreiben. Selbst wenn man unterwegs in geheimnisvoll leise Strudel (das Scherzo Presto misterioso) gerät oder momentweise heftige Erregung aufwallt, zweifelt der Hörer nie am glücklichen Weitertreiben. Das Gegenteil von Kontrastextremismus, auch in ihren Steigerungen bleibt diese Musik immer flächig. Aber diese Gewässer sind nie seicht. Die archaische Harmonik der Streicher im Preludio evoziert eine faszinierende Atmosphäre. Von klarem, kalten Wasser, das er seinen Hörern zu trinken geben wolle, schrieb Sibelius, und altklug denkt der Konzertgänger bei Vaughan Williams‘ Fünfter: So hätte der späte Hindemith komponieren können, wenn er nur vom klaren, kalten Wasser Sibelius‘ getrunken hätte.
Höhepunkt der Fünften sind die anschwellenden Mischklänge im dritten Satz, der Romanza, meist sehr zart, später auch strahlend. Wunderbar die Zwiesprachen des Englischhorns mit der Oboe und den anderen Holzbläsern. Totaler Flow beim Hörer!
Am Ende des Finales, einer Passacaglia, kehrt der Anfang der Symphonie wieder; eine Symphonie, die stärker aus einem Guss wäre als diese Fünfte, ist kaum vorstellbar. Und was für ein schöner, lang anhaltender D-Dur-Schlussakkord! In den leider eine ungehobelte Besucherin lauthals hineinkräht; möge sie für diese ruchlose Tat an der tiefsten Stelle des Meeres versenkt werden.
Und möge Gott Sir Roger Norrington noch viele gesunde, glückliche, tatkräftige Jahre schenken!
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