Erwartbar unerwartet: John Eliot Gardiner, Vladimir Jurowski & die Ihren

Zu den erwartbaren Höhepunkten beim Musikfest Berlin gehören die Konzerte von John Eliot Gardiner und Vladimir Jurowski mit ihren jeweiligen Ensembles. Was nicht heißt, dass alles, was da in der Philharmonie kommt, erwartbar wäre – im Gegenteil: Erwartbar ist, dass man überrascht wird. Und belehrt und beglückt.

J.S. Bach und G.F. Händel in ihrer Jugend (Symbolbild) / Quelle Bundesarchiv, Bild 183-K1218-0016 / CC-BY-SA 3.0
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14./15.1.2017 – Vielsingend: Vladimir Jurowski beim RSB und beim ensemble unitedberlin

egon_schiele_068Was für ein interessanter, vielseitiger Dirigent ist Vladimir Jurowski.

Am Samstag dirigiert er das Rundfunk-Sinfonieorchester, dessen Chef er im Sommer wird, mit einem Programm von (auf den ersten Blick) gediegener tschechisch-deutsch-russisch-schweizerischer Moderne. Am Sonntag das ensemble unitedberlin, dessen Artistic Advisor er seit 2015 ist, mit einem Programm von (auf den ersten Blick) schwieriger, ja mörderischer italienischer Avantgarde.

Beides im Konzerthaus.

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14.10.2016 – Frühunvollendet: Ein Abend für Lili Boulanger beim RIAS Kammerchor

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Nadia und Lili Boulanger

Eine  Rarität, mit der man keine Zuhörerfluten hinter dem Ofen hervorlockt, doch gerade deshalb um so wertvoller: Während Tugan Sokhiev und die Berliner Philharmoniker im ausverkauften Großen Saal kalorienreiche russische Kost auftischen, serviert der RIAS Kammerchor im Kammermusiksaal erlesene ätherische Klangdüfte, Chorwerke der fast vergessenen Lili Boulanger.

Vorzeitig ist kein Ausdruck für Lili Boulangers frühen Tod, mit ihr verglichen wurden Pergolesi, Mozart und Schubert steinalt: Sie starb 1918 im Alter von nur 24 Jahren. Ihre große Schwester Nadia hängte auch aus Ehrfurcht vor dem Werk ihrer unerreichbar talentierten Schwester das Komponieren an den Nagel und wurde eine der bedeutendsten Musikpädagoginnen des 20. Jahrhunderts. Sie berichtete von den Worten ihrer sterbenskranken Schwester während einer häuslichen Probe: Es ist komisch, jedermann wird diese Musik hören außer mir.

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29.5.2016 – Rar: Christoph Eschenbach und Iskandar Widjaja beim DSO

Raritätensonntag in der Philharmonie: Nachmittags spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester, nach einem Gezi-Park-Klavierkonzert von Fazil Say, Alexander Zemlinskys Seejungfrau (der Konzertgänger war familiär verhindert), abends das Deutsche Symphonieorchester ein Violinkonzert und eine Symphonie, die kein Schwein kennt. Das ist schon mal ein Verdienst von Christoph Eschenbach.

Ein zweites Verdienst ist es, dass er einen vielversprechenden jungen Solisten mitbringt, sogar einen echten Berliner Jungen: Iskandar Widjaja. Einige Fans sind zu sichten und zu hören (in Indonesien scheint er schon eine Berühmtheit zu sein), vereinzelte Jubelrufe bereits, als er das Podium betritt. Trotz Starpotenzial strahlt er eine sympathische Schüchternheit aus. wieniawskiHenryk Wieniawskis Violinkonzert d-Moll (1862/1870) spielt er mit gesteigertem Vibrato und warmem Klang, was bei diesem wohlklingenden Virtuosenvehikel ganz richtig ist. Trotz großer Geste scheinen Widjaja noch mehr die stillen, gefühlvollen Töne zu liegen, wie er im zweiten Satz mit langem Strich beweist. (Sein, durchaus angenehmer und der Konzentration förderlicher, leiser Ton mag auch mit dem Instrument von Geissenhof zu tun haben.) Das Zingara-Finale dagegen feurig, rasant und tänzerisch, die Füße dicht vor dem Moonwalk.

In Robert Schumanns ebenfalls nicht hyperkomplex komponierter, aber sehr rührend zwischen äußerlicher Pracht und äußerster Zerbrechlichkeit changierender Fantasie für Violine und Orchester C-Dur op. 131 (1853, kurz vor Schumanns Zusammenbruch) kommen Widjajas leise Qualitäten noch besser zur Geltung, dank Fritz Kreislers (den Schumannfreund nicht nur erfreuender) Überarbeitung von 1937 auch die virtuosen Fähigkeiten.

Gerahmt werden die beiden Violinstücke von einem hyperaktiven, knalligen, teils ohrenbetäubenden Till Eulenspiegel von Richard Strauss zu Beginn des Konzerts und einer sehr lohnenden Seltenheit am Schluss, die sich ein Teil der indonesischen Fans leider nicht mehr anhört: Paul Hindemiths Symphonie in Es, 1940 im amerikanischen Exil komponiert. Hörbar besser geprobt als Strauss (bei dem die Orchestergruppen für sich durchaus überzeugten, allen voran die Hörner), herrscht bei Hindemith statt schillernder Klangfarben eine spröde, archaische Begeisterung, die nach erstem Befremden einen enormen Sog entfaltet: Härte ist hier eine Tugend – zumal wenn sie so perfekt austariert klingt wie beim DSO. Der große zweite Satz weitet sich nach fast bluesartigem Trompeten-Intro monumental wie ein Brucknersatz. Außerordentlich die flirrenden Mittelinseln des dritten und der sardonisch rumpelnde Witz des vierten Satzes.

Überraschend überzeugendes Plädoyer für ein kaum mehr gespieltes Werk. Man sollte ab sofort jede 7. Aufführung von Schostakowitschs Fünfter durch Hindemiths Es-Symphonie ersetzen.

Nachtrag: Die Geigenlehrerin der Tochter des Konzertgängers weist darauf hin, dass vielleicht kein Schwein, aber jeder gute Geiger das Wieniawski-Konzert kennt.

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27.+28.11.2015 – Bruckner-Wochenende mit Marek Janowski und dem RSB

Zweimal Bruckner…

Ach, der Beckenschlag! Sogar der Sohn des Konzertgängers hat schon mal davon gehört: Dass ein Musiker in einem über einstündigen Werk nur einen einzigen Einsatz hat, findet er toll. Dass dieser Umstand bereits einen Neunjährigen beeindruckt, der Anton Bruckners 7. Sinfonie E-Dur noch nie gehört hat, beweist: 1. dass Bruckners Einflüsterer ganz richtig kalkulierten, als sie ihm den effektvollen Beckenschlag aufschwatzten; und 2. dass der besonders seriöse Interpret diesen Effekt guten Gewissens weglassen kann. Wie es mancher Tintenbube verlangt.

Marek Janowski muss seine Seriosität aber nicht beweisen, indem er naive Hörer vor den Kopf stößt: So wenig wie die Siebte den Beckenschlag braucht, so wenig braucht sie es, ihn wegzulassen. Dass Marek Janowskis Bruckner eine Bank ist, weiß man; aber wie gut diese Siebte ist, verschlägt einem trotzdem den Atem. Bereits der Anfang ist ein Wunder an Klarheit. Je durchsichtiger Bruckner klingt, desto mysteriöser: Der erste Satz scheint wie eine Phrase, ein einziger langer Atemzug, und alles taghell; umso eindrucksvoller dann der erdige Klang der Wagnertuben zu Beginn des Adagio und später das Herniedersinken der Nacht. Bis ins Finale hält der Sog: Über einen Tremoloteppich gelangen wir in die Ewigkeit, über einen Tremoloteppich müssen wir wieder hinaus. Für so einen Bruckner ist man: dankbar. (Obwohl der Konzertgänger etwas eifersüchtig auf Bruckner ist, diesen Hagestolz, der in den Frauen Ekstasen hervorruft, wie es dem schnöden Gatten nie gelingt.)

Die Siebte am Samstagabend ist der krönende Abschluss eines originellen Konzertpaares, das das Rundfunk-Sinfonieorchester am Freitag mit Bruckners Messe Nr. 2 für achtstimmigen Chor und Bläser e-Moll begann. Der Verzicht auf Streicher hat einen äußerlichen Grund, Bruckner komponierte die Messe für eine Freiluftaufführung auf der Baustelle des neuen Linzer Doms 1869. Sie fördert aber auch einen Eindruck von Strenge, der mit den eklektischen Elementen (Gregorianik-Sound, Kontrapunktik, Wagner-Anklänge im Agnus Dei) eine eigenartige und faszinierende Verbindung ergibt. Überraschende Assoziationen stellen sich ein, die Holzbläserketten zu Beginn des Gloria erinnern an Strawinsky, das gleißende Hosanna in excelsis im Sanctus an Messiaen, die fast poppige Auferstehung im Credo gar an Michael Nyman… Vor allem aber glänzt hier der von Florian Benfer geleitete MDR Rundfunkchor Leipzig, der etwa im miserere nobis des Agnus Dei Momente von überirdischer Schönheit schafft.

… und dazu Bach, Britten, Hindemith

Eigenartig und faszinierend auch, wie Janowski und das RSB Bruckner kombinieren: Im Anschluss an die Messe für Chor und Bläser erklingen zwei Werke, in denen nur die Streicher des Orchesters spielen – und natürlich das Cembalo in J.S. Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 3 G-Dur. Bach hat hier einen satten Sound, der fast altmodisch wirkt. Zugleich geht Janowski es, wenn auch gewiss nicht „historisch“, so doch ziemlich flott und mit scharfen Kontrasten an. Wunderbar die Grummelpassage der Bässe im ersten Satz. Der motorische Schlusssatz erinnert fast an den Kopfsatz einer Schumannsymphonie; trotz Hochdruck wirkt dieser Bach aber geradezu beiläufig.

In Benjamin Brittens Les illuminations nach Texten von Arthur Rimbaud  (1939) gibt es jede Menge Bläser, aber sie werden alle von Streichern gespielt: so bereits die Fanfare im ersten Stück, die die Bratschen schmettern. Auch Gläser und Glocken (Phrase) oder Lauten (Antique) können die Streicher des RSB. Es singt Jacquelyn Wagner , die beim RSB 2014 bereits Florence Schmitts durchgeknallten 47. Psalm darbot, ein unvergesslich irres Konzerterlebnis. Mag ihr nicht gerade fragiler Sopran das Mysteriöse etwa des Being Beauteous vielleicht etwas subilluminieren, so beeindrucken die famosen Wogen des Marine (das dann als Zugabe wiederholt wird) umso stärker.

Eine harte Nuss, die Janowski mit der geradezu bizarren Kombination Brucknermesse – Bach – Britten/Rimbaud dem denkenden Hörer zu knacken gibt!

Etwas ratlos machte den Konzertgänger hingegen Paul Hindemiths Konzert für Orgel und Orchester (1962), das am Samstag vor der Siebten erklang: Mal etwas anderes als Saint-Saëns‘ Orgelsymphonie, freut man sich – und hört dann ein behäbiges Klangspektakel für ausgemachte Hindemith-Fans, eine aussterbende Spezies. Orchester und Orgel treten sich als zwei gleichmächtige Blöcke gegenüber, die Registerwechsel sind auf Dauer wenig faszinierend, trotz eindrucksvoll sirrender Passagen und kräftiger Steigerungen fühlt der Konzertgänger sich wie auf einem rauh bezogenen Altherrenohrensessel mit Fernet branca und Werther’s Echten. Oder wie der gemeine Hindemith-Skeptiker gern sagt: Es klingt spröde. Aber das mag auch an den Ohren des Hörers liegen, nicht an Hindemith.

Ganz sicher liegt es nicht an der großartigen Organistin Iveta Apkalna (im weißen Hosenanzug und mit güldenem Haarkranz & Schuhwerk). Die Zugabe, ein Stück von Thierry Escaich, fegt jeden Hörer vom Sessel.

Und dann folgt ja noch Bruckners Siebte.

Zum Konzert am 27. und am 28. November

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5.10.2015 – Wild: Namjoong Kim spielt Brahms, Hindemith und Bowen im Kammermusiksaal

Tonschönheit ist Nebensache, gebietet Paul Hindemith im 4. Satz seiner Solo-Sonate dem Bratschisten: Rasendes Zeitmaß. Wild. Wenn ein alter Europäer junge Asiaten hört, dann muss der Musiker stets auch gegen das Vorurteil anspielen: absolute technische Perfektion auf Kosten des individuellen Ausdruckswillens. So stehen die jungen Musikerinnen, die auf Initiative des Vereins New York City Artists in den kommenden Monaten fünfmal im Kammermusiksaal der Philharmonie spielen, vor keiner leichten Aufgabe.

Fast ist man erleichtert, bei der südkoreanischen Bratschistin Namjoong Kim schon in Johannes Brahms‘ ursprünglich für Klavier und Violine komponiertem Scherzo aus der F.A.E.-Sonate einige intonatorische Rauheiten zu hören, die nur zum Teil dem Charakter der Viola zuzuschreiben sind. Angemessen ungebärdig spielen Namjoong Kim und Zheeyoung Moon am Klavier diesen kraftmeierischen frühen Brahms, dritter Satz eines Gemeinschaftswerks mit Robert Schumann und dem vergessenen Albert Dietrich. (Man liest oft von dieser Sonate, bekommt sie aber leider nie im Ganzen zu hören.) Auch optisch sind die beiden ein eindrucksvolles Gespann. Die eher zurückhaltende Moon vermeidet es, vom Steinway aus die Bratsche zu übertönen, und tritt das Pedal mit Schuhen, mit denen sie kaum Autofahren dürfte. Kim schließt beim Spiel oft die Augen, platzt aber auch heraus und stampft bisweilen mit dem Fuß, dass man zusammenzuckt.

Die Klangschönheit kommt dann in Brahms‘ später dreisätziger Sonate Es-Dur op. 120,2 zu ihrem Recht. Man kennt sie als Klarinettensonate, Brahms selbst gab sie wegen des Mangels an guten Bläsern auch für Bratsche heraus, und in dieser Form hört man ein ganz anderes Werk: mit einem amabile, das nie weichgespült klingt, einem schroffen appassionato und geschmeidigen Zweiunddreißigstel-Ketten im grazioso des Variationenfinales. Sehr guter Brahms, lernt der alte Europäer. Und die jungen Asiaten lernen ebenfalls: dass auch in Berlin, dem Mekka der klassischen Musik, die Hörer zwischen den Sätzen klatschen.

Was bei Brahms kaum stört, aber bei Paul Hindemiths Sonate für Bratsche Solo op. 25, 1 (1922) schon ziemlich lästig ist, eine Art Händehusten. Kim lässt sich davon nicht beirren und zeigt die ganze Palette ihres Könnens und ihres Instruments, im Sehr langsam etwa die schwebend-sphärischen Flageolettklänge, die die Tochter des Konzertgängers im Geigenunterricht Flötentöne und Zaubertöne nennt. Im Rasend fetzen die Haare vom Bogen. In der spröden Schönheit des Passacaglia-Finales, definitiv einem Höhepunkt der überschaubaren Viola-Literatur, erreicht das Konzert seine Klimax.

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Die Fantasie für Bratsche und Klavier F-Dur (1918) des in Deutschland völlig unbekannten englischen Komponisten York Bowen (1884-1961) passt dazu wie die Faust aufs Auge: gepflegt elegische Musik mit großem Soßenfinale, bedenkenlos zusammengeschustert, aber stets schön anzuhören – und, obwohl der lange elegische Strich vorherrscht, mit einer großen spieltechnischen Bandbreite für die Bratschistin. Ein gelungener Auftritt, der den alten Europäer erfreut und ein wenig beschämt.

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