Zu den erwartbaren Höhepunkten beim Musikfest Berlin gehören die Konzerte von John Eliot Gardiner und Vladimir Jurowski mit ihren jeweiligen Ensembles. Was nicht heißt, dass alles, was da in der Philharmonie kommt, erwartbar wäre – im Gegenteil: Erwartbar ist, dass man überrascht wird. Und belehrt und beglückt.
John Eliot Gardiners Dirigieren mag kein explodierender Ausbund an Spontaneität sein, aber der Klang seiner Musiker ist derart fein durchgearbeitet, dass jedes aufgeführte Werk ins hellste Leben tritt. Die Instrumentalisten der English Baroque Soloists überzeugen, die Stimmen des hinreißenden Monteverdi Choir entzücken. In Händels Kantate Dixit Dominus treten mehrere Sängerinnen und Sänger auch einzeln aus dem Kollektiv hervor, und es ist jedes Mal vorzüglich. Ich erinnere mich, wie ich dieses Werk vor etlichen Jahren zum allerersten Mal hörte, erwartend eine etwelchige Psalmvertonung, und dann regelrecht weggeblasen wurde von der Wucht des Knallers, mit dem der junge Hallenser Georg Friedrich H. ein paar Jahre nach 1700 römisches Aufsehen erregte. Heute bin ich wieder fasziniert, von welch schlagender Eingängigkeit (bei aller Kunstfertigkeit) wirklich jeder Abschnitt ist. Und wie man die lebenslange Hit machine George Frederic Handel spuert.
In Händels ebenfalls früh entstandener Kantate Donna, che in ciel di tanta luce splendi tritt der Chor erst gegen Ende hinzu, bei der Anrufung Mariens, mit betörend sich auflösenden Dissonanzen: ein überwältigender Effekt, nachdem man vorher der schwedischen Mezzosopranistin Ann Hallenberg gern gefolgt ist durch Höhen und Abgründe, Aufruhr und Kontemplation, dabei ihre akrobatischen Koloraturen genossen hat und mehr noch die anrührende Wärme ihrer Darbietung. Zwischen Händels italienischen Arienzyklus und das Dixit hat Gardiner Johann Sebastian Bachs Christ lag in Todes Banden programmiert, ebenfalls eine frühe Kantate, 22 Jahre war Bach da, der im selben Jahr geboren wurde wie Händel (und auch Domenico Scarlatti). Und hier treibt die Differenzierungskunst des Monteverdi Choirs noch berückendere Blüten als bei Händel. Zugleich ist das aufregender als jede Opernszene mit all diesen Kämpfen, Duellen und Dualismen, Wechseln zwischen den Chorgruppen und permanenten musikalischen Überraschungen. Die Kombination mit Händel rückt das Klischee vom tiefspirituellen Verinnerlichungsbach weit weg. Das ist absolut effektbewusstes Renommieren – ohne dabei je religiös oberflächlich zu sein. [Kritik zu diesem Konzert von Sascha Krieger hier]
Wohlan denn! Stellen wir die Frage der Fragen: Verhält sich Paul Hindemith zu Igor Strawinsky wie Bach zu Händel? Die Antwort lautet: Nein, diese Frage ergibt keinerlei Sinn, außer dass 1. die beiden ebenfalls ungefähr gleichzeitig lebten (nur dass Hindemiths Leben etwas später anfing und früher aufhörte als Strawinskys) und 2. sie den Übergang in diesem Bericht von einem Konzert zum anderen bildet.
Vladimir Jurowski setzt beim Rundfunk-Sinfonieorchester immer eher ein Stück zu viel als eins zu wenig aufs Programm. Aber dann ist es doch alles derart interessant und reizvoll, dass man froh ist, dass es keins weniger ist. Stattdessen wird es sogar noch eins mehr, denn das letzte von vier weithin unbekannten Strawinsky-Stücken lässt er gleich noch einmal spielen. Weil es kurz ist, und weil es niemand verstanden hat, und weil es Strawinskys letzte Komposition für große Besetzung ist: die Variationen für Orchester (Aldous Huxley in memoriam) von 1965. Ich weiß nicht, sagte Strawinsky, wie ich die Zuhörer anleiten kann, außer ihnen zu raten, nicht einmal, sondern wiederholt zuzuhören. Simon Rattle machte das mal mit Anton-Webern-Kompositionen, überhaupt sollte das viel öfter passieren. Mit Jurowskis Erläuterungen hören wir das Stück theatralisch, jede „Variation“ ein Ballettcharakter.
Und wie schon in Agon mit dem Concertgebouworkest vor einigen Tagen merken wir, dass Zwölftonmusik bei Strawinsky eine ausgesprochen vergnügliche Angelegenheit ist. Ebenso an diesem Abend bei Abraham und Isaak: Georg Nigl singt diese „geistliche Ballade“ wie vorgeschrieben auf Hebräisch (das Strawinsky selbst nicht konnte). Aber was heißt singt – Nigl deklamiert so hochgradig sprechend, dass es zum Hörer spricht, auch wenn er kein Wort kapiert. Spröden Witz hat dieses Werk, ohne irgend zur Farce zu werden. Eher ist das ein fremdartiges Mysterium, mit dem uns ein einlullender Rhapsode in eine nicht neblige, sondern seltsam klare Trance versetzt. Ohne alle Lautmalerei oder Theatermusik zu erleben, ahnen wir einen ungeheuerlichen Vorgang, ohne ihn zu begreifen.
Diesen beiden Spätwerken stehen zwei Stücke des mittleren Strawinsky aus den 1920er Jahren gegenüber: die hörenswerten Symphonies d’instruments à vent, völlig unsinfonische Bläser-Zusammenklänge, und das Konzert für Klavier und Blasinstrumente. Die Pianistin Tamara Stefanovich ist nicht nur hochkompetent, sondern scheint vor Freude fast zu juchzen, und man möchte mitjuchzen, etwa angeohrs dieser durchgeknallten Nähmaschine im ersten Satz, die irgendein Zauberlehrling, dem die Sache dann aber komplett entglitten ist, zum Bachhacken verdonnert hat. Der Zaubermeister ist natürlich Igor Strawinsky, der vor 50 Jahren starb und dem das Musikfest einen Schwerpunkt widmet.
Zum Abschluss des wunderbar langen Abends (mit Pause sogar, wann gab es das zuletzt in der pandemierten Philharmonie) ist noch Paul Hindemiths 1933/34 entstandene Sinfonie ‚Mathis der Maler‘ zu hören. Vor Jahrzehnten noch eins der ganz vielgespielten Werke in Deutschland. Heute ist Hindemith in der großen Komponistenschachtel eher ein bisschen das, was Herbe Sahne in der Merci-Packung ist. Aber die Mathis-Sinfonie ist heute Abend von enormer Live-Wirkung, das Rundfunk-Sinfonieorchester klingt glanzvoll, von ebendieser Herbheit bis zu glorioser posaunischer Pracht. Selbst wenn die Paarung Strawinsky/Hindemith für mich an diesem Abend nicht allzu erhellend wirkt. Aber der ganze Abend beweist wieder mal, dass die besten Konzerte nicht die ausverkauftesten sind, denn ceterum censeo, Jurowski-Konzerte lohnen immer.
Ein Gedanke zu „Erwartbar unerwartet: John Eliot Gardiner, Vladimir Jurowski & die Ihren“