Vor ein paar Tagen spielte Isabelle Faust mit dem französischen Orchester Les Siècles das Violinkonzert von Igor Strawinsky: Größer könnte ein Unterschied nicht sein als der Kontrast zu dem nur wenige Jahre später komponierten Violinkonzert von Karl Amadeus Hartmann, das nun Patricia Kopatchinskaja bei den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko spielte. Denn in Strawinskys Concerto en ré von 1931 geht es um exakt gar nichts, in Hartmanns Concerto funebre von 1939 buchstäblich um alles. (Was natürlich nix über die künstlerische Höhe der Werke aussagt; sofern ein „um gar nichts“ weiß, was es tut; was bei Igor natürlich der Fall ist.)
Aber was für ein Werk, Karl Amadeus Hartmanns Concerto funebre, mit dem Kopatchinskaja ihre Residence bei den Berliner Philharmonikern antritt – und das zugleich einen philharmonischen Saisonschwerpunkt „Lost Generation“ eröffnet, der an „zu Unrecht vergessene Komponisten zwischen Spätromantik und Neuer Musik erinnern soll“. Rückte eine eminente Figur wie Hartmann (1905-1963) öfter auf die Spielpläne, wäre das nur zu begrüßen; acht Sinfonien hat er komponiert, liebe Philharmoniker!
Musik der Trauer nannte Hartmann sein Violinkonzert, dessen Urfassung erstmals 1940 im schweizerischen St. Gallen aufgeführt wurde (eine revidierte Fassung entstand dann 1959). Im Nazi-Staat, von dem Hartmann sich, ohne zu emigrieren, standhaft fernhielt, war an eine Aufführung nicht zu denken. Es ist ein reines Streicherwerk, wie andere Trauermusiken der Jahre danach, etwa Witold Lutosławskis Trauermusik aus den 1950er Jahren oder auch das Spätwerk eines Komponisten, der sich im Gegensatz zu Hartmann nach 1933 heillos verstrickt hatte, Richard Strauss‘ Metamorphosen.
Hartmanns bestürzte, bestürzende Musik entstand aber nicht nach dem Krieg verzweifelt über Trümmern, sondern schon zu Beginn des Krieges, im Jahr 6 der Terrordiktatur. In der Largo-Introduktion scheint die Zeit stillzustehen, wie vereist ist die Solovioline, und doch sucht sie nach einer Möglichkeit zu singen. In den folgenden drei Sätzen ist Kopatchinskajas Spiel strikt entschöntont, dafür wirkt die Geige wie ein Lebewesen. Ein Tier, oder ein Mensch, der vom Grauen zum Tier gemacht wird; oder zum Tier gemacht werden soll, aber sich nicht dazu machen lässt. Indem er nämlich Leid singt, wie zerkratzt und gebrochen auch immer. Lieder sind ins Werk einkomponiert, Tschechisches, Russisches, Jüdisches. Die Geige aber winselt und fiepst einmal mittenmang ins Orchester, um gleich danach Flötentöne aus dem Äther zu holen, dass man spürt: Der Mensch ist ein elend quälbares physisches Ding und zugleich ein höheres Wesen, nicht unbrechbar zwar, aber er kann Exempel des Sichnichtbrechenlassens erschaffen, wie Hartmann mit dem Concerto funebre. Nach dem langsamen Adagio folgt ein Allegro di molto, keine Toccata, sondern blinde Raserei, wahrhaft erschreckend, mit einer improvisierten Kadenz nach dem Geigermotto: Was Sie schon immer herausschreien wollten, aber sich nie zu kratzen trauten. Im abschließenden Choral begegnen sich Trübnis und Momente schneidender Schärfe – eben das, woraus Trauer besteht. Der harte Schlussakkord nach einem fast verlöschenden Kerzenklang der Violine lässt einen bebend und pressend zurück.
Was kann man danach spielen? Kopatchinskaja kombinierte es in einer ausgefeilten Dramaturgie einmal mit Frank Martins religiösem Polyptyque, Bach und dem Kol Nidrei. Was gewiss nicht passt, ist Igor Strawinskys Feuervogel. Auch als Teil des Strawinsky-Schwerpunkts beim laufenden Musikfest wäre er nicht zwingend nötig, denn er wird ja ständig gespielt.
Was aber trotz der nicht ganz glücklichen Verbindung ebenso gewiss ist: dass L’Oiseau de feu von Berliner Philharmonikern mit Kirill Petrenko das pure Sinnenglück ist. Das Alles, um das es hier geht, ist prachtvoller Klangzauber in perfekter Ordnung. Der Feuervogel-Handlung verstehe ich zwar nie so recht zu folgen, aber das muss man ja auch nicht. Den Flammenfederich flattern hört man eh leicht und die Untertanen des bösen Zauberers höllentanzen sowieso, und diesen ganzen silbrigen Zaubergarten. Musik in allen erdenklichen und eigentlich sogar unausdenklichen Farben, das zu hören kann gar nicht falsch sein. Überdies: Die Philharmoniker lassen den Feuervogel noch einmal fliegen zur Unterstützung der UNO-Flüchtlingshilfe, dem UNHCR. Das Orchester ist nämlich neuerdings deren „musikalischer Botschafter“. Worum es geht, ist also nicht nur eine innermusikalische Frage.
Und, wie gesagt, Sinnenhammer. Nach dem Feuervogel fühlt man sich als Hörer im besten Sinn durchgeknallt. Auch wenn die Wirkung von Karl Amadeus Hartmanns Concerto funebre die nachhaltigere ist.
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