76 ist ja kein Alter für einen Pianisten, und immerhin ist der Amerikaner Richard Goode jünger als die beiden Herren Joe B. und Bernie S., von denen einer im November 2020 zum 46. Präsidenten der USA gewählt werden wird. In den USA ist Goode eine ziemlich große Nummer, hierzulande fast unbekannt, was wohl für die Ignoranz des deutschen Musikbetriebs spricht. Richard Goode jetzt eine halbe Stunde lang im Konzerthaus Mozart spielen zu hören, ist erfüllte Lebenszeit – zumal im Zusammenwirken mit Vladimir Jurowski und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB).
Endlich mal ein Chef, der Mozart richtig gut macht, jubelten sie im Januar in München, wo Jurowski bald Chefdirigent der Bayerischen Staatsoper wird. Auch im Konzerthaus ist Wolfgang Amadeus Mozarts letztes Klavierkonzert B-Dur KV 595 alles andere als ein glattes Vorgeplänkel vor dem Brucknerhauptbrocken. Klare Akzente und Proportionen schaffen scharfe Konturen, ohne dass der „schöne Klang“ darunter litte. Die Balance innerhalb der Streichergruppen und zwischen den Streichern und den sehr profilierten Holzbläsern scheint optimal. Dasselbe gilt für die Balance zwischen Orchester-Instrumenten und dem Solisten. Hört man etwa das Mit- und Ineinander von Klavier und Flöte im zweiten Satz, wähnt man sich im Elysium.
Ein Vulkan ist Richard Goode nicht, eher Grandseigneur, mit kultiviertem Anschlag und Tendenz zum Understatement. Und er ist einer jener Pianisten, die auch ganz leise Töne durchklingen zu lassen vermögen. Der Steinwayflügel scheint in einem fort mitzusummen, aber dieser Mozart hat jederzeit Fluss und Leichtigkeit, auch in den nachhaltigen Eintrübungen des Stücks.
Was zudem für Mr Goode einnimmt: 1) dass er aus Noten spielt, die er eigenhändig umblättert; 2) eine höchst konzentrierte Sarabande aus der 1. Englischen Suite von Bach als Zugabe (diese dann auswendig); und 3) dass Mr Goode nach der Pause im ersten Rang des Konzerthauses sitzt, um sich Bruckner anzuhören.
Sehnsucht nach dem Frühling, hat das RSB sein Programm übertitelt, nach dem Lied, an dessen Melodie das Final-Allegro von Mozarts Klavierkonzert so deutlich erinnert. Die Kombination Mozart/Bruckner ist gängig, Blomstedt macht sie gern, auch bei Skrowaczewski gab’s sie. Mir leuchtet sie, ehrlich gesagt, nie so richtig ein. Was für ein Frühling blühte einem wohl in Anton Bruckners 5. Sinfonie B-Dur? Vielleicht ein Frühling als Chiffre einer höheren, ja der höchsten Weltordnung. Das hieße dann wohl, dass der Akzent auf der Sehnsucht nach jener höchsten Ordnung liegen könnte.
Wie auch immer, dieser Bruckner-Frühling ist ganz Proportion, die Architektur eines Weltgebäudes. Jurowski gelingt aber das Kunstwerk, dass diese Bruckner-Fünfte sowohl hochgradig abstrakt als auch durch und durch beseelt klingt – jede mächtig auffahrende Klangwand, jede ewig scheinende Pause: eine atmende Kathedrale. Denn sakral und erhaben und reich an Chorälen ist das alles, dieser fast provozierend kleinteilige Schematismus des Weltgebäudes, die ewig in den Kontrapunkt schreitenden Viertelnoten.
Wenn im Finale das Gehörte wiederkehrt, ist das nicht wie bei Mozart erfüllte Zeit im emotionalen Sinn, sondern wirkt wie erfüllte Zeit im fast religiösen Sinne. Dass Jurowski dieses ellenlange Werk geradezu als eine Sinfonie in einem Satz auffasst (oder besser: als Spirale in einem Satz), spürt das Publikum nicht nur, wenn Adagio und Scherzo – der direkt aufeinander bezogene innere Kreis der Sinfonie – direkt ineinander übergehen. In der langen Pause vor dem Finale herrscht vollkommene Stille, wie man sie in Berliner Konzertsälen selten erlebt. Und das in Zeiten einer globalen Hustenseuche! Aber vielleicht will sich bloß niemand Corona-verdächtig machen …
Herrlich übrigens das anonyme Zitat über Anton Bruckner von 1894, das man im Programmheft lesen kann (Hervorhebungen von mir): Eine so grausame Entschiedenheit liegt in diesem Profil, eine solche Härte steckt in diesem untapezierten Schädel (…) Und dabei ist dieser Gewaltmensch eine „Seele“, wie es wenige gibt.
Fast überflüssig zu sagen, dass Jurowski die Bruckner-Lautstärken so umsichtig disponiert, wie man es bei einigen Dirigenten, die den Konzerthaus-Saal ebenso gut oder noch besser kennen sollten, nicht leicht erlebt. Die perfekte Steigerungswelle. Die überwältigende Wirkung des Schlusses verdankt sich dieser Umsicht. Und ebenso überflüssig zu betonen, dass das Rundfunk-Sinfonieorchester auf bestechendem Niveau musiziert und unter Jurowski immer noch bestechender zu werden scheint. Ein Konzert ist das, das dem Leben des Hörers Schönheit und Größe schenkt. Sonntagabend nochmal.
Definitiv „zufällig“! (Ich wollte, nach einer tollen 4. von Mahler im Januar, einfach das RSB nochmals hören und war auf das Klavierkonzert von Mozart gespannt; den Bruckner habe ich einfach ‚mitgekauft‘ – was für ein Glück!)
Oh, wie schön, dass Sie meine Klangeindrücke analytisch aufarbeiten! Jetzt verstehe ich das eine oder andere besser als gestern in diesem Konzert, in dem ich mich so manches Mal – offenbar ähnlich wie Sie – im Musik-Himmel wähnte (wenngleich ich Kretin meinen allerersten Bruckner nur mit einem Zitat aus dem „fünften Element“ charakterisieren könnte: „Mächtiger Badabumm“, immer wieder mal und dann abgelöst durch eine reiche Stille, wie ich sie bislang selten hörte).
Danke dafür und beste Grüße aus dem Witwesk von
Corinna Laude
Wow, Ihr erster Bruckner – gratuliere! Und dann gleich die Fünfte. Die Vierte ist sonst beliebt zum Einstieg oder auch die, klanglich leichter zugängliche, Siebte. Aber wer die Fünfte mag, kann alles von Bruckner hören. Jedenfalls haben Sie (zufällig oder instinktsicher?) eine hervorragende Aufführung erwischt.