Zephyrisch: Michael Spyres und Il pomo d’oro

Nein, am betrüblichen Deckenteilsturz im Foyer ist nicht der Sänger schuld, jener Baritenor, der die scheinbar natürlichen Obergrenzen seines Stimmfachs sprengt. Auf dem Weg zu Michael Spyres im Kammermusiksaal passiert der Konzertgänger eine weiträumige Absperrung neben der Treppe, an die noch Putzstücke angelehnt sind. Ein Glücksfall, dass das nicht in Andrangzeiten herunterfiel, in Zeiten des ohnehin grassierenden Abonnentenschwunds. Aber wie gesagt, der Sänger ist unschuldig. Nach dem Konzert wird er noch erzählen, dass er als junger Mann, der aus Missouri kam, auch als construction worker arbeitete. Doch dass er sich auch noch des Berliner Konzertsaalverfalls annähme, wäre zu viel verlangt. Denn an diesem Abend hat der Hochkunstschwerstarbeiter Spyres (am Vortag sang er noch in Antwerpen, am Vorvortag in London!) genug Außerordentliches geleistet.

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Spinettriesig: erst Grigory Sokolov, dann Lugansky, Gerzenberg, Grosvenor beim Klavierfestival

Der sanftspinettige Virtuose und seine Jünger

Sanfter Spinettismus statt Virtuosengepranke, das sich in der heurigen Auflage des alljährlichen Grigory-Sokolov-Besuchs in Berlin nur einmal nebenher ereignet, aber nein, auch da ohne Gepranke, nur virtuos oder eben meisterlich: bei einer konzentriert hinbrillierten Rachmaninow-Zugabe, dem Prelude op. 23/2 als einem jener stets sechs Encores des dritten Konzertdrittels, in dem das Sokolov-Ritual erst seine Erfüllung findet. Die anderen sind zweimal Rameau (Les sauvages und Le Tambourin), zweimal Chopin (Prélude 28/15 und Mazurka 63/3) sowie einmal Bach (BWV 855a) im vollfülligen, dennoch faszinierenden Siloti-Ornat.

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Märchenkess: Gala- und Kinderkonzerte an der Staatsoper und beim DSO

Gala, Kinder!

Jedes Kinderkonzert ist ein Galakonzert: Da wird im Publikum mitdirigiert, mitgewippt und mitgetanzt im Sitzen und im Stehen (eingeübt instruiert von der blauberockten Tänzerin Lea Hladka und ihrem Partner Christoph Viol in Rot). Und noch höher steigt der Festpegel, weil es das erste rbbKultur-Kinderkonzert seit fast zwei Jahren ist. Da war das zullende Baby, das jetzt wie ein listiges respice finem aus Reihe 17 oder 22 zu hören, als am Ende der Prinz seine schöne Aschenputtelin heimträgt, noch gar nicht geboren. Es ist Sergej Prokofjews Cinderella, die das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) dem jungen, jüngeren und jüngsten Publikum vorstellt, klangschön und engagiert wie eh und je.

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Musikfest 2019: Les Siècles spielen Rameau, Lachenmann, Berlioz

Abruzzen-Gebirgler pfeifen dir eins!

Das Musikfest auf der Zielgeraden: unter anderem mit einem Klavierdonnerstagabend von Pierre-Laurent Aimard (bei dem man sich ein wenig fragt, wozu) und einem Sonntagskonzert des französischen Orchesters Les Siècles mit seinem Dirigenten François-Xavier Roth: die zwingende und unbedingt notwendige Antwort auf eine Frage, von der man nie wusste, dass man sie hat.

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Sauhimmelnd: Grigory Sokolov spielt Beethoven, Brahms und 6 Zugaben

Alljährlicher Grigory Sokolov-Aufschlag in Berlin, ein Aufprall wie eine kosmische Feder. Beethoven und Brahms stehen heuer auf dem Programm, aber ein bisschen spielt Sokolov immer Sokolov. Man verstünde allerdings, wenn er bald mal mit dem jungen Beethoven riefe: Für solche Schweine spiele ich nicht! Und dann nur noch in Kartäuserklostern aufträte. Denn im Großen Saal der Philharmonie ist es ein Must-go der Adabeis mittlerweile. Es blitzlichtert schon, wenn der Pianist hereinschlurft. Spielen muss er in Bronchialgewittern und unter Bonbonpapierknister-Tröpfchenfolter. Und eh nur das Adagio aus Beethovens 3. Sonate C-Dur op. 2/3 vorbei ist, haben schon mehrere Handys gebimmelt.

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Récréatiös: Christophe Rousset & Les Talens Lyriques hofieren Rameau & Co

Apollo beim Schäferinnenstündchen

Viele Wege führen im Barock zum Ziel, so zeigen mehrere Nachmittagskonzerte im Apollosaal bei den (nun zu Ende gegangenen) Barocktagen der Staatsoper: Während der Pianist Alexandre Tharaud Rameau und Couperin auf einem modernen Flügel spielte und mit dem späten Beethoven kontrastierte, stellen der Cembalist Christophe Rousset und sein Ensemble Les Talens Lyriques den Barocktage-Schwerpunkts-Maître Jean-Philippe Rameau nur französischen Zeitgenossen gegenüber. Und zwei Tage vor dieser pastoralen Begegnung kombiniert Rousset in einem Solo-Konzert Rameau mit Rameau sowie Rameau. Weiterlesen

Galantwindig: Les Musiciens du Louvre retten zweimal Rameau

Endlich ungetrübter Rameau-Genuss bei den Barocktagen der Staatsoper! Zwei Tage nach der durch Regiepfusch versaubeutelten Premiere von Hippolyte et Aricie. Ólafur Elíassons Diskokugel hängt noch an der Decke des Großen Saals, doch diesmal kann sie keinen Schaden anrichten; es sei denn, sie stürzte herab und erschlüge Marc Minkowski, den liebenswerten Fondateur et Directeur der in Grenoble ansässigen Musiciens du Louvre. Bevor’s losgeht, hält er eine kuriose Eingangsrede. Aufs Inhaltliche reduziert dürfte das die sinnloseste Einführung aller Zeiten sein; aber es kommt hier nicht aufs Was an, sondern aufs Wie.

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Verlichtert: Rameaus „Hippolyte et Aricie“ an der Staatsoper Unter den Linden

Prima la luce, poi la musica e le parole; und Gedanken überhaupt nicht. Mit der Premiere von Jean-Philippe Rameaus Hippolyte et Aricie kommen die Barocktage der Staatsoper an diesem Wochenende so richtig ins Rollen. Leider prägt Ólafur Elíassons Licht-, Leucht- und Lampenkunst die Inszenierung aufs Unbeste, das Fazit fällt düster aus. Dafür erflackert aus der Begegnung des Freiburger Barockorchesters mit Simon Rattle ein strahlender Rameau. Und auch was das in der Oper unvermeidliche Gesinge angeht, für das die Regie sich nicht so zu interessieren scheint, ist hier mehr Licht als Schatten. Weiterlesen

Blau: Víkingur Ólafsson im Pianosalon Christophori

Zwei Ereignisse, die das Menschengeschlecht voranbringen, ereigneten sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf Island: Erstens wurden Fußbälle auf die einsame Insel gebracht, zweitens Klaviere.

Um sich von der segensreichen Wirkung des Letzteren zu überzeugen, radelt der Konzertgänger an der schönen blauen Panke entlang zum Weddinger Pianosalon Christophori. Dort erwartet ihn ein tiefgestimmter, ja blauer Novemberabend: Das Klavierrezital von Víkingur Ólafsson bewegt sich in zweieinhalb Stunden nur einen Halbton aufwärts, von e-Moll nach f-Moll.

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Also sang „Zoroastre“: Rameau an der Komischen Oper

Wetten, dass das die lustigste Premiere der Saison ist? Jean-Philippe Rameaus Oper Zoroastre 261 Jahre nach ihrer Entstehung erstmals überhaupt in Berlin, ausgerechnet an der Komischen Oper.

ClavisArtis.MS.Verginelli-Rota.V1.003rDass man en passant erfährt, dass Sarastro von Zoroaster (alias Zarathustra) kommt, ist nur ein willkommener Nebeneffekt. Oder hat das die ganze Welt schon immer gewusst, nur der Konzertgänger nicht? Insofern passt Zoroastre wie der Tofu-Fisch aufs E-Bike zur Zauberflöte, mit der die Komische Oper gerade in Moskau war.

Auch Rameaus Librettist Louis de Cahusac war ein Freimaurer, und auch Zoroastre handelt vom Kampf des Lichts gegen die Dunkelheit, des Tags wider die Nacht. Wie der Regisseur Tobias Kratzer die verworrene Auseinandersetzung zwischen Weiß und Schwarz auf die Bühne bringt, ist nicht weniger als: saukomisch. Wie er aber Weiß und Schwarz dann in ein grelles Grau vermengt: saugut. Weiterlesen

Fegend: Akamus, Emmanuelle Haïm, Sandrine Piau mit Rameau und Händel

Wenn Rameau kommt, pfeift’s im Kamin der Musikgeschichte. Rameauneurs nannte man seine von den Lully-Treuen geschmähten Anhänger: Schornsteinfeger (ramoneur). Hat der grandiose Teodor Currentzis deshalb bei seinem Rameau-Projekt so mit der Licht-Metaphorik genervt? Die Akademie für Alte Musik führt jedenfalls im Konzerthaus einen feineren, aber ebenso wirksamen Besen, die Dirigentin Emmanuelle Haïm ist eine famose Oberkehrerin und die Sopranistin Sandrine Piau ohnehin der heißeste Feger auf jedem Dach. Die Anna Magnani des Barockgesangs, hat Alfred Brendel sie genannt, und ein Fan sagt: bestangezogene Sängerin überhaupt.

1024px-Vilhelm_Pedersen,_Hyrdinden_og_Skorstensfejeren,_ubt Weiterlesen

Sorgfältig: Grigory Sokolov spielt Mozart, Beethoven und 6 Zugaben

Man solls ja nicht übertreiben mit den religiösen Metaphern, aber hat Grigory Sokolovs alljährliches Rezital nicht etwas Epiphanisches oder Österliches? Wen sein Mozart nicht Hammershoientrückt, den verklärt sein Beethoven. Dabei tut Grigory Lipmanowitsch gar nichts Weihevolles oder Hohepriesterliches, sondern tapst (rechte Hand frei schwingend wie die Frackschöße, linke Hand auf dem Rücken) aufs Podium der Philharmonie und spielt dort Klavier.

Das allerdings besonders sorgfältig.

Darum ist es auch so schummrig: nicht von wegen Erhabenheit und Zeremonie, sondern damit Grigory Lipmanowitsch besser spielen und wir besser zuhören können. Wir versuchen ihn in diesem Jahr übler denn je zu stören, hustend, niesend, mehrmals zur Unzeit reinklatschend und überhaupt mit frenetischem Jubel, der ans Peinliche grenzt. Aber Grigory Lipmanowitsch lässt sich nichts anmerken, unklar, ob er überhaupt weiß, dass wir da sind. In welcher Stadt er sich befindet. Er hat ja auch Besseres zu tun. Er spielt Klavier. Weiterlesen

25.9.2016 – Glückfruchtend: Ton Koopman und Avi Avital mit dem DSO

Die Glückskombi schlechthin heißt Ton Koopman und Avi Avital, wie sich in diesem nachgerade befruchtenden Konzert zeigt.

medieval_musician_playing_gitternJohann Nepomuk Hummels Mandolinenkonzert G-Dur (1799) mag ein im Großen wie im Kleinen recht übersichtlich gebautes Werk sein, mit so ebenmäßigen Perioden, dass man im Kopfsatz schon 4/4-Takt-Überdruss verspüren könnte. Zudem sind die Klangfarben der (Nachtrag: unverstärkten) Mandoline ja nicht unbegrenzt. Aber Avi Avital spielt sie mit solch mitziehendem Schwung, dass man sie vom ersten bis zum letzten Ton für die Königin der Instrumente hält.

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25.2.2016 – Arachnophonia: Rattle und die Philharmoniker spielen Roussel, Szymanowski und Rameau

Insektenalarm in der Philharmonie! Mit Geigenglissandi lässt die Spinne ihren Faden herab, zum Marschrhythmus der Kleinen Trommel ziehen die Ameisen ein, die Flöte bläst sanft den Schmetterling durch den Garten. Albert Roussels Le Festin d’araignée (1913) ist ein Wunder an Farbigkeit, ein gefundenes Fressen für die Instrumentenzauberer der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle. Im Fressen und Gefressenwerden endet auch das Stück, diesen Karneval der Insekten könnte nämlich ein Kinderschreck komponiert haben: Da flattert der Schmetterling aufs herrlichste, und… hat ihn schon, um mit Donald Duck in der Übersetzung von Erika Fuchs zu sprechen. Die Spinne wird ihrerseits von der Gottesanbeterin verzehrt, und das kurze Leben der Eintagsfliege (Celesta) endet in Nacht und Trauermarsch. Vergänglichkeit der Schönheit, flüchtig wie Musik.

Acht Arme scheint auch Konzertmeister Daniel Stabrawa zu haben, der in Karol Szymanowskis Violinkonzert Nr. 2 (1933) als uneitler Solist im geigerischen Dauerlauf brilliert. Szymanowski hat sich in diesem späten Werk von bäuerlichen musikalischen Traditionen der Goralen in der Tatra inspirieren lassen. Aber obwohl diese Musik mit ihren eindringlichen, fast penetranten Terzwiederholungen stampft und schrubbt, Lichtjahre entfernt von den sirrenden Visionen des Vorkriegs-Szymanowski, ist sie softer und geschmeidiger als Bartók-Folklore: Allegretto barbaro, volkstümlich aus dem Geist der Décadence. Ihr Intro ist so schwebend wie die Andantino-Brücke zum Schlusstanz, und ziemlich genau in der Mitte klopft die Kadenz an Himmelsgefildetüren.

Reines Glück sind Les Boréades von Jean-Philipppe Rameau, ein Lieblingsstück von Simon Rattle, der die hier aufgeführte Suite aus Rameaus letzter Oper (1763) selbst zusammengestellt hat. Obwohl man jedes Stück wiedererkennt, ist es völlig andere Musik als der spektakuläre, ruppige Rameau von Teodor Currentzis und MusicAeterna, der vor einem Jahr im Radialsystem zu hören war (mit Polonaise-Zwang fürs beklommene Auditorium): Bei Rattle ist alles filigran und ausgewogen, dafür paradoxerweise umso kontrastreicher. Denn es gibt hier nicht nur Stürme, sondern auch jede Menge sanfte und heitere Winde.

Wie es sich für eine Oper über Liebes- und Standeshändel unter Windgöttern gehört, dominieren die Holzbläser, die nicht umsonst auf Englisch winds heißen. Die damals neue Klarinette kommt vor, von der Rameau gleich in der Ouvertüre reichlich Gebrauch macht (Wenzel Fuchs). Später zarte Flötenklänge (Mathieu Dufour), in der Gavotte dann zwei Piccoloflöten, die von den Fagotten immer wieder in die Luft gestoßen werden. Herrlich der brummige Ohrwurm im Contredanse en Rondeau; und in der brausenden Suite des Vents freut sich die ehrwürdige Windmaschine, mal etwas anderes zu erleben als immer nur Alpensymphonie und Holländer. Die bizarr stockende Bourrée: Les Vents perdent leurs forces lässt Rattle gleich zweimal spielen, um das staunende Publikum zu überzeugen, dass man sich nicht versehentlich zu Strawinsky verlaufen hat.

Mit einem hat Currentzis Recht: Rameau zaubert Licht in die Herzen seiner Hörer. Ein beglückendes Konzert der Berliner Philharmoniker.

Nochmal am Freitag und Samstag. Noch einige Karten erhältlich. Samstag auch in der Digital Concert Hall.

Dieses Konzert wurde auch von Kultursenator Schlatz rezensiert.

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