Alljährlicher Grigory Sokolov-Aufschlag in Berlin, ein Aufprall wie eine kosmische Feder. Beethoven und Brahms stehen heuer auf dem Programm, aber ein bisschen spielt Sokolov immer Sokolov. Man verstünde allerdings, wenn er bald mal mit dem jungen Beethoven riefe: Für solche Schweine spiele ich nicht! Und dann nur noch in Kartäuserklostern aufträte. Denn im Großen Saal der Philharmonie ist es ein Must-go der Adabeis mittlerweile. Es blitzlichtert schon, wenn der Pianist hereinschlurft. Spielen muss er in Bronchialgewittern und unter Bonbonpapierknister-Tröpfchenfolter. Und eh nur das Adagio aus Beethovens 3. Sonate C-Dur op. 2/3 vorbei ist, haben schon mehrere Handys gebimmelt.
Aber Sokolov spielt, unbeirrbar. Mit so komplexer wie bodenständiger Dramaturgie, dass man (obwohl Sokolov etwelche Raserei vermeidet) jederzeit begreift, warum Young Beethoven um 1795 in Wien derlei Furore machte: ständige Überblüffungen im Kopfsatz, Anmut und Zusammenzucken im Adagio, wenn aufs p immer wieder ein ff trifft. Vor allem aber zeigt Sokolov die hohe Kunst des beseelten Staccato und führt auf tausend Arten nuancierte Triller vor, lässt auch paradox klare Donnerwetter grollen – und das alles mit diesem speziellen Sokolov-Anschlag, der auf sanfteste Weise den gewaltigen Raum erfüllt. Tönende Perlen vor die zahlenden Säue.
Lauter Perlen auch die 1823 erschienenen, aber zum Großteil viel früher entworfenen 11 Bagatellen opus 119, über die Verleger Peters schrieb: Ihre Stücke sind des Preises unwert, und Sie sollten es unter Ihrer Würde halten, die Zeit mit solchen Kleinigkeiten, wie sie jeder machen könnte, zu verbringen. Tja. Wir hören nun Apotheosen auf engstem Raum, irgendwie auch die Synthese von Frühwerk und Spätwerk. Das Opus 111 für Elise. Nummer 10 dauert ja nur ein paar Sekunden. Und natürlich könnte sie jeder machen, und es könnte sie natürlich nicht jeder machen. Und jeder spielen könnte sie schon gar nicht. Wer hat nicht die eine oder andere dieser Bagatellen im Klavierunterricht befingert. Hört man Sokolov, bereut man hart, was man da getrieben hat.
Sogar einzelnen von Johannes Brahms‘ Klavierstücken Opus 118 und 119, letzten Sachen wahrlich von 1893, ist der Konzertgänger anno dunnemal im Klavierunterricht begegnet, den ersten beiden Intermezzi in (zunächst verschleiertem) a-Moll und A-Dur nämlich. Schwamm drüber, pianistisch war er nur ein a/A-dabei. Größere Räume durchschreitet diese Musik, weite Landschaften und auch die ganze Breite der Tastatur. Wehmut gerade in den reduzierten, teils fast abstrakten Ausbrüchen; und selbst in der melancholisch scheinenden Wucht des allerletzten Stücks, der Rhapsodie Es-Dur, die in es-Moll endet. Über-Es, bald nimmer-dabei. Bittersüßes Glück, über dem Schmerz und Wonne des Abschieds liegen. Und wieder fragt man sich, wie lang Sokolov sich das noch alljährlich antun wird, bis er irgendwann nur noch für sich selbst spielt. Oder halt für die Kartäuser.
Aber einstweilen liefert er noch, wie immer, seine sechs Zugaben ab, darunter einige Sokolov-Zugabe-Evergreens:
- Schuberts Impromptu As-Dur D 935/2, die Rahmenteile in äußerster Langsamkeit und mit so zarthin getupftem rechten Daumen im Mittelteil, dass die Konzertgängerfrau ihren Mann zu demütigen nicht umhin kann: Hast du gehört? Hast du gut aufgepasst?
- Chopins a-Moll-Mazurka opus 68/2 mit diesem sufihaften Triller auf den dritten Schlägen
- Rameaus Les Sauvages
- Brahms‘ Intermezzo b-Moll opus 117/2
- Rachmaninows Prélude gis-Moll opus 32/12
- Debussys Des pas sur la neige aus den Préludes I
Das pawlowsche Bravoschreien am Schluss ist bald so unangenehm wie die schweinische Husterei und all das zuvor. Sokolov aber, bei dem man nie weiß, ob er weiß, in welcher Stadt, welchem Jahr, welchem Jahrhundert er sich gerade befindet, lässt sich nichts anmerken. Auch ein Blumenübergabeversuch aus dem Publikum scheitert an Sokolovs Nichtwahrnehmung. Und vielleicht ist ja aus Sokolovs Sicht auch ein Schweinestall ein Kartäuserkloster.
Nächster Sokolov-Aufschlag in Berlin am 9. März 2020.
Hatte den Eindruck, dass Handygeklingel allmählich ausstirbt. Selbst Senioren beherrschen mittlerweile das Lautlos-Stellen.
Die Hoffnung starb im Sokolov-Rezital einen qualvollen Tod.