Man solls ja nicht übertreiben mit den religiösen Metaphern, aber hat Grigory Sokolovs alljährliches Rezital nicht etwas Epiphanisches oder Österliches? Wen sein Mozart nicht entrückt, den verklärt sein Beethoven. Dabei tut Grigory Lipmanowitsch gar nichts Weihevolles oder Hohepriesterliches, sondern tapst (rechte Hand frei schwingend wie die Frackschöße, linke Hand auf dem Rücken) aufs Podium der Philharmonie und spielt dort Klavier.
Das allerdings besonders sorgfältig.
Darum ist es auch so schummrig: nicht von wegen Erhabenheit und Zeremonie, sondern damit Grigory Lipmanowitsch besser spielen und wir besser zuhören können. Wir versuchen ihn in diesem Jahr übler denn je zu stören, hustend, niesend, mehrmals zur Unzeit reinklatschend und überhaupt mit frenetischem Jubel, der ans Peinliche grenzt. Aber Grigory Lipmanowitsch lässt sich nichts anmerken, unklar, ob er überhaupt weiß, dass wir da sind. In welcher Stadt er sich befindet. Er hat ja auch Besseres zu tun. Er spielt Klavier.
Der unvorstellbare Bogen seines Programms erfordert nun auch besondere Sorgfalt: von der Sonata facile bis zur Arietta, von der Kindheit ins Jenseits – und zugleich bloß von C-Dur zu C-Dur.
Mozarts Sonata facile C-Dur KV 545 ist, da doch jeder einzelne Ton allseits bekannt, auch für ungeübte Hörer besonders geeignet, Grigory Lipmanowitschs Sorgfalt für jeden einzelnen Ton zu würdigen. Samtig weich, hauchzart die Linke, manchmal kaum hörbar; rechts jeder Ton eine leuchtende Perle. Traumversunken dann, zögernd, suchend und, wie noch manches in diesem Konzert, äußerst langsam die Terzen im finalen Rondo.
Welch Sprung danach in die Fantasie c-Moll KV 475 und die Sonate c-Moll KV 457, die Grigory Lipmanowitsch als ein Stück spielt. Das Publikum wird es sich in fast schon liebenswürdiger Trottelei nicht nehmen lassen, zwischen dem 1. und 2. Satz der Sonate erstmals in diesem Konzert zu klatschen. Grigory Lipmanowitsch wartet einfach, bis es aufhört, und spielt weiter: alles so zart, deutlich, sorgfältig, dass er dann nur wenig Kraft braucht, um heftige Erschütterungen hervorzurufen. Obwohl er Kraft hat und sie auch einsetzt, er ist kein Dauerleisespieler (wie der sorgfältig schlampige Radu Lupu).
Dem Konzertgänger fallen diese unter Vätern und Lehrern so raren Autoritäten ein, die nur einen strengen Blick werfen, nur mit dem Kopf nicken, nur eine Augenbraue heben müssen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Grigory Lipmanowitsch ist nicht autoritär, sondern hat Autorität.
Nach der Pause Beethoven, zwei mal zwei Sätze, die Sonaten opus 90 und 111. Analytiker könnten analysieren: Wie es Grigory Lipmanowitsch im ersten Satz der 27. Sonate e-Moll op. 90 gelingt, dass trotz äußerst gedehnter Übergänge nichts zerfällt, wie es wohl den meisten anderen passieren würde. Wie er es schafft, den zweiten Satz nicht nur sehr singbar vorzutragen, sondern jeden einzelnen singenden Ton scheinbar anschwellen zu lassen, als hörten wir wirklich eine menschliche Stimme.
Den direkten Übergang zur 32. Sonate c-Moll op. 111 verklatscht das Publikum erneut, nun nicht mehr liebenswert trottelig, sondern nur noch töricht; dass Grigory Lipmanowitsch durchspielen möchte, dürfte keinem entgangen sein. Er lässt sich nichts anmerken und spielt weiter; einige Basstöne im Maestoso gleichen einem furchterregenden Tier in tiefster Tiefe, markerschütternd.
Schließlich, in der Arietta, ereignet sich Unerhörtes. Es ist die langsamste Arietta aller Zeiten. (Oder wurde sie je langsamer gespielt? Kenner?) Joachim Kaiser könnte sicher erklären, warum das völlig verkehrt ist, und doch: Das Thema klingt nicht nach 9/16-Takt und nicht nach Lied, sondern nach dem fernen Material eines Liedes, das ganz allmählich, sehr sorgfältig, erdacht wird oder sich selbst erdenkt. Auch die Variationen 1 und 2 eher schreitend als fließend; und die dritte Variation erinnert weniger an einen Boogie-Woogie (wie Strawinsky meinte) als an Swing. Doch was man da auf einmal hört: jeden Ton.
Unbeschreiblich, wie die Musik sich dann ins Diskant-Elysium aus 32teln und Trillern zugleich auflöst und verdichtet. Wie die Klangspuren am Ende sich völlig unabhängig bewegen und doch eins sind, ist einzigartig, himmlisch, göttlich. Nein, sagen wir: sehr sorgfältig, Grigory Lipmanowitsch. Und so zerfällt die Musik in den letzten beiden Takten wieder ins zu Erdenkende.
Dass jemand in den pp-C-Dur-Schluss-Akkord-Nachhall laut reinniest, ist weder trottelig noch töricht, sondern eine Schweinerei. Wie kann ein Mensch sowas tun?
Aber Grigory Lipmanowitsch straft nicht; er verzeiht auch nicht, er spielt einfach weiter Klavier. Sechs, wie immer, sorgfältige Zugaben:
- Schubert, Moment musical Nr. 1 C-Dur
- Chopin, Nocturne op. 32, 1 H-Dur
- Chopin, Nocturne op. 32, 2 As-Dur
- Rameau, L’Indiscrète aus den Pièces de Clavecins
- Schumann, Arabeske C-Dur (diese sechs Basstöne in Takt 9-12 u.ö., ah! diese sechs Basstöne!)
- Chopin, Prélude op. 28, 20 c-Moll (beginnend mit einem Fortissimo, dass die Philharmonie in ihren Grundfesten wankt, endend in einem Pianissimo, dass die Welt vergeht)
Weitere Kritik: Tagesspiegel
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Hier bin ich wieder …
Das Grün des Neides ist dem Blau eines schwebenden und grenzenlosen Glückes gewichen, das Raum und Zeit vergessen ließ, denn Sokolov war letzte Woche in Frankfurt und hat das Göttliche der Musik zur Erscheinung gebracht (im Herbst, aber macht nichts).
Vor der Pause gab’s Haydn, auch durchgespielt, und das war wirklich sehr schön. Ein höheres Attribut kann ich leider nicht vergeben, weil es für mich nur Vorbereitung war. Armer Haydn, war da nicht was zwischen ihm und Beethoven, so von wegen Wertschätzung? Und jetzt ich auch noch.
Also, nach der Pause: der Himmel auf Erden, eine unbeschreibliche Intensität. Und die Frankfurter, die sich gerne mal ein bisschen kernig geben, waren still und wohl – wie ich – über weite Strecken atemlos.
Sokolov nimmt sich als Person extrem zurück, trotz seiner stattlichen Erscheinung ist er als Persönlichkeit sozusagen nicht richtig präsent, er zelebriert nicht, kommuniziert nicht mit dem Publikum, stoisch absolviert gerade so die Schritte, die ihn vom Flügel trennen, ist nur Musik, fast wie ein Medium, durch das die Musik hindurchfließt.
Und nein, diese Schwingungen, diese Verwandlung der Luft in Sphäre, das gibt’s nicht auf Schallplatte.
„Sorgfältig“ – diese Bezeichnung finde ich ja immer noch lustig. Also gut: ein sorgfältiges Glück, das lange anhält.
Beste Grüße nach Berlin
Elisabeth
Danke für die lebendige Schilderung!
Das Wort „Sorgfalt“ soll sich durch langes Klingen über die Alltagsbedeutung hinaus entfalten, als „sich entfaltende Sorge“. So etwa.
… endlich einen Blog gefunden, in dem viel Beethoven vorkommt – und der auch nach ihm benannt ist (hoffe ich mal, nehme ich einfach an). Danke !
Zu dem besprochenen Sokolov-Konzert fällt mir spontan nur eines ein: Neid ! Ich konnte Grigory Sokolov vor einiger Zeit erleben und war über alle Maßen beglückt. Aber gerade op.111 muss überwältigend gewesen sein.
Ach, nun fällt mir doch noch etwas ein: die Kritik ist wunderbar. Die von Sokolovs Spiel ausgehende Magie mit sorgfältigem Klavierspiel zu beschreiben, ist mehr als Understatement – es ist das Eingeständnis, dass diese Musik ohnehin nicht in Worte zu fassen ist.
Auch die Bilder in diesem Beitrag (und anderen, in die ich zunächst nur kurz hineingeschaut habe) gefallen mir; schade, dass ich keinen Hinweis auf die Quellen finden kann.
Vielen Dank für das Lesevergnügen und beste Grüße
Elisabeth Lindau
Klar ist das Blog nach Beethovens 111 benannt! Übrigens eine Idee meines naseweisen Sohnes.
Ja, bei den Bildern spare ich mir aus Zeit- und Designgründen die Mühe, sie alle auszuweisen.
Wenn eins Sie interessiert: mit rechter Maustaste draufklicken — „Grafikadresse kopieren“ — bei Google-Bildersuche einfügen https://www.google.de/imghp?hl=de (auf die Kamera klicken, Bild-URL einfügen). Schwupps, haben Sie’s!
Herzliche Grüße zurück!
Glückwunsch zu dem pfiffigen Sohn – das gibt ja zu schönsten Hoffnungen Anlass. Aber Ihre Kommenate (soweit ich sie bisher anschauen konnte – ach, die Zeit …) sind ja auch „nicht von schlechten Eltern“ und haben viel Sprachwitz. Sehr schön!
Elisabeth Lindau
Ok, ich les ja immer deine Konzertkritiken, ohne jemals selber ins Konzert zu gehen, und ich lese diese Kritiken mit der größten Freude, und doch machen sie mir eigentlich nie großartig Lust, selbst mal wieder in Konzertsäle reinzugehen, es gibt doch Schallplatten, wie ich Altmodischer die ihrerseits schon wieder überholten CDs immer noch nenne, aber – in dem Konzert, genau in diesem verhusteten und verniesten Konzert, wäre ich selber nun auch mal gerne drin gesessen. Danke für den Bericht.
Huch, o Schreck, das will ich natürlich gar nicht, dass die Leser keine Lust bekommen, ins Konzert zu gehen! Aber ich freue mich natürlich auch übers Lesen an sich.
Aufnahmen und Konzerte, ein weites Feld … Es gibt ja großartige Aufnahmen von Künstlern, die live enttäuschend wirken. Aber umgekehrt gibt es Musiker, von deren Kunst m.E. keine Aufnahme nur den entferntesten Begriff geben kann. Sokolov gehört unbedingt dazu.
Man kann ihn ja bis August vielerorts hören:
https://www.grigory-sokolov.com/concerts
Mein Favorit wäre Naantali in Finnland, aber es gibt auch Köln, Kiel usw.
Ich habe Sokolov in den letzten Jahren zweimal „doppelt“, d.h. mit dem gleichen Programm an verschiedenen Orten gehört und verbürge mich dafür, dass er gleich, wirklich exakt gleich spielt. Sowas habe ich noch nicht erlebt. Das verbindet sein Musizieren irgendwie auch mit Konserven. Aber ist doch was Anderes.