Viele Wege führen im Barock zum Ziel, so zeigen mehrere Nachmittagskonzerte im Apollosaal bei den (nun zu Ende gegangenen) Barocktagen der Staatsoper: Während der Pianist Alexandre Tharaud Rameau und Couperin auf einem modernen Flügel spielte und mit dem späten Beethoven kontrastierte, stellen der Cembalist Christophe Rousset und sein Ensemble Les Talens Lyriques den Barocktage-Schwerpunkts-Maître Jean-Philippe Rameau nur französischen Zeitgenossen gegenüber. Und zwei Tage vor dieser pastoralen Begegnung kombiniert Rousset in einem Solo-Konzert Rameau mit Rameau sowie Rameau.
Und mag es draußen auch nieseln und jammern, im Apollosaal scheint die Cembalo-Sonne. Christophe Rousset spielt die e-Moll-Suite aus dem 2. Buch der Pièces de Clavecins, die G-Dur-Suite aus den Nouvelles Suites de Pièces de Clavecin und die Suite zur Ballett-Oper Les Indes Galantes. Wenn Rousset (selten genug) auf den zwei Manualen mal einen falschen Ton erwischt, verzieht er die Augen, keineswegs blasiert, sondern ehrlich inkommodiert; und ist auch sonst eine sympathische Erscheinung mit Fliege, karierten Socken und barockcembalistischer Kompetenz. In der e-Moll-Suite finden sich bekannte Stücke wie Le Rappel des Oiseaux und ein in Schrumpfform Klavierschülern als Zigeunertanz vertrauter Tambourin, in der G-Dur Suite Bizarrerien wie das galanteste Huhn (La Poule) und die galantesten Wilden (Les Sauvages) der Musikgeschichte. Diese Klassiker treffen etwa auf eine irritierend experimentell wirkende Fantasie L’Enharmonique, deren stupende harmonische Wechsel Rousset mit starken Verzögerungen betont. In unaufdringlicher Deutlichkeit, wie auch das sinnige Wechselspiel von Zaudern und Drauflosstürmen in der Air pour les amants et les amantes aus der Indes-Galantes-Suite.
Zugabe: Les ciclops. Und so ein Applaus wirkt indezent laut angesichts des immer zarten Cembalos.
Es ist ein kitzliger Sprung zu und von Jordi Savalls Monteverdi-Gigs im Boulezsaal, die zwischen den beiden Rousset-Terminen liegen: nicht nur um 100 Jahre, sondern auch im Habitus der Affekte – und der Optik! Denn piaciert Luca Gugliemis Cembalo bei Savall/Monteverdi mit nüchternem Naturholz von gewissem Heimwerker-Flair, so pläsiert Roussets siebenbeiniges Instrument mit üppiger Ausmalung der Deckel-Innenseite. In bukolischer Szenerie schmausen links barbrüstige Beautés, von einem Geiger unterhalten, während rechts drei reizende Nudistinnen im Flüsslein baden; indes sich am anderen Ufer ein rotberockter Herr im Gras herumlümmelt.
Das passt natürlich bestens zu Rameaus Le berger fidèle, die das sonntägliche Konzert Roussets mit Les Talens Lyriques eröffnet, während es draußen noch ärger spätherbstschaurig regnet und nebelt . Die Mezzosopranistin Ambroisine Bré gefällt mit dieser Kantate, an der Rameau seine Vokalkompositionskunst schliff, ehe er sich im fortgeschrittenen Alter der Oper zuzuwenden wagte. Die Schäferseufzer wirken nun wahrlich höfischer, „affektierter“ als Monteverdis Affekte einen Tag bzw 100 Jahre zuvor. Den heutigen Hörer, das liegt nah, kicken sie nicht so leicht wie Monteverdis Madrigalkunst. Aber Mme Bré ist eine vorzügliche Advocateuse dieser Musik, höchstens gelegentlich un tic zu laut für den Apollosaal. Ihre klare Rezitation erfreut, und die drei Airs sind anmutig und differenziert; bis zum finalen Wörtlein plaisir in der mittleren Air gai – vibratolos strahlend beginnt es und dreht sich, hastenichgehört, in ein entfleuchendes Vibrato.
Am Ende des Konzerts wird dem Treuen Schäfer ein Tod der Lukrezia gegenübergestellt, auf Italienisch, komponiert von Michel Pignolet de Monéclair, der 16 Jahre älter als Rameau war. Zwischen den beiden Kantaten sind Les Talens Lyriques instrumental zu hören, neben Roussets Cembalo ein Cello und zwei Violinen, angenehm weicher Klang in angenehm weicher Akustik. Die beiden Récréations de Musique von Jean-Marie Leclair, 14 Jahre jünger als Rameau, klangen für damalige Hörer gewiss abwechslungsreich; heute scheinen sie doch ein bissl was für Hörer, denen Telemann zu nervenaufreibend ist. Zumal man nicht, wie dunnemal, beim Hören flanierend und am Champagner nippend sich rekreiert (oder beim Kaffee, den die Staatsoper-Bar bei ihren nachmittäglichen Apollosaal-Konzerten schlimmerweise nicht feilhat). So kann die Rekreation leicht jene Gestalt annehmen, die es freilich gewiss auch im 17. Jahrhundert öfter gab; dergestalt dass es unter der gepuderten Perücke galant hervorschnarchte. Was bei Rameau nie passiert.
Kritik im Tagesspiegel