Blau: Víkingur Ólafsson im Pianosalon Christophori

Zwei Ereignisse, die das Menschengeschlecht voranbringen, ereigneten sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf Island: Erstens wurden Fußbälle auf die einsame Insel gebracht, zweitens Klaviere.

Um sich von der segensreichen Wirkung des Letzteren zu überzeugen, radelt der Konzertgänger an der schönen blauen Panke entlang zum Weddinger Pianosalon Christophori. Dort erwartet ihn ein tiefgestimmter, ja blauer Novemberabend: Das Klavierrezital von Víkingur Ólafsson bewegt sich in zweieinhalb Stunden nur einen Halbton aufwärts, von e-Moll nach f-Moll.

Und ganz am Schluss wieder abwärts, in einer letzten e-Moll-Zugabe von Jean-Philippe Rameau. Die Tonart e-Moll ist Klage ohne Murren, wie Christian Friedrich Daniel Schubart 1774 schreibt, weiß mit einer rosaroten Schleife am Busen.

Mit Johann Sebastian Bachs Partita Nr.6 e-Moll BWV 830, die den Abend eröffnet, gab der Rising Nordstar Ólafsson bereits vor sechs Jahren sein Berlindebüt, wie er in seiner pointierten Einführung erzählt. Schon bei der einleitenden Toccata wackelt einem immer wieder die Schleife am Busen vor Schreck und Entzücken über die harmonischen Wendungen, die da vorkommen. Ólafsson spielt introvertiert, aber alles andere als gelöst oder entspannt. Unter Hochdruck, zumal rhythmisch. Anschlagsfarben und Dynamik sind so extrem differenziert, dass man meinen könnte, Bach habe jeden einzelnen Ton determiniert wie ein Serialist. Wenn diese Musik nicht so unmittelbar und hochemotional klänge, wie sie es hier tut.

Der wunderbare Bösendorfer-Flügel springt auf jede noch so kleine Differenzierung an, statt besäuselnd auszugleichen. Aber die Zerrissenheit findet ihren Ausgleich im großen, so über- wie ergreifenden Lamento-Charakter.

Dazwischen jede Menge f-Moll, a blue key, wie Ólafsson findet, der mit sechs Jahren verblüfft mitbekam, dass nicht alle Menschen Tonartenfarben sehen wie er. Blau oder auch obscur (Charpentier 1690) passt besser als Schubarts Leichenklage und Jammergeächz.

Zu Bach passt Chopin, weil Ólafsson ihn kontrapunktisch versteht, mehrstimmig. Und zu Chopin passt Philip Glass, zu dem Olafsson ein besonderes Verhältnis hat. Im Opening der Glassworks modelliert Ólafsson das 2 vs 3-Muster fast überdeutlich heraus, so dass ein Fluss entsteht, der überhaupt nicht einlullt, sondern einen hellwach mittreiben lässt. Muss man wohl mal die Vorurteile gegen Glass revidieren.

In Frédéric Chopins Etüde opus 10, Nr.9 hört man die Glass-patterns deutlich wieder. Das ist die erste von drei f-Moll-Etüden, es folgen attacca die aus opus 25 und eine nachgelassene, in der man Triolen gegen Achtel hört. Und in der Ballade Nr. 4 f-Moll op. 52 zieht Ólafsson das Lied aus derart zerbrechlichem Himmelsblau herab, dass man den Atem anhält. Und wie in der letzten Minute das Blau im Farbenrausch explodiert!

In Johannes Brahms‘ ausladender Sonate Nr. 3 f-Moll op.5 zieht Ólafsson alle Register und dirigiert das wohldisponierte Bösendorfer-Orchester meisterlich. Frage an Musikgeschichtskenner: Hat schon mal wer diese Sonate für Orchester gesetzt? (Das wäre eine Gelegenheit, Schönbergs scheußliche Orchestrierung des g-Moll-Klavierquartetts in den Schatten zu stellen.)

In diesem Brahms-Spätwerk der speziellen Art (allerletzte Sonate, aber mit 20 Jahren) zeigt der Bösendorfer-Klangkörper sich im superlauten Diskant des Kopfsatzes zwar manchmal etwas strohig, aber die Mittellage glänzt und der Bass wummt und samtet um so mehr. Und auch der Diskant samtet und summt, wenn im zweiten Satz die Terzen erotisch herabsteigen. Frage an Genrekenner: Wurde dieser Satz schon mal in einem Softporno verwurstet?

Und weitere Frage: Wurde der vierte Satz schon mal in einem Kunstfilm verwurstet? Auch wenn man es schon mal gehört hat, haut es einen aus den Socken, wie in diesem Rückblick die Liebesterzen wiederkehren, aber diesmal nicht ins warme Liebesnest sinken, sondern in den Trauermarsch-Abgrund. Da wird die blaue Stimmung doch zu Leichenklage und Jammergeächz.

Die erste Zugabe, Chopins Mazurka op. 68/4, natürlich in f-Moll, bevor es mit Rameau wieder einen Halbton runtergeht.

Ein an- und aufregendes Programm eines an- und aufregenden Pianisten. Das Publikum im Pianosalon Christophori ist enthusiasmiert, ein anschwellendes Hu! ist nix dagegen. Ólafsson kann, da er alles auswendig spielt, nicht vor Bescheidenheit auf die Noten verweisen, also zeigt er in den Bösendorfer-Korpus: Dem applaudiert, weil er so schön bläut!

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2 Gedanken zu „Blau: Víkingur Ólafsson im Pianosalon Christophori

  1. Schönes Programm, auch mit Glass. Alle Ehre den Isländern. Ja, mir kam es immer so vor, als verleugne Schönberg in seiner Klavierquintett zugleich Brahms und Schönberg. Obwohl die wiederholten Aufführungen unter Rattle sehr schön waren.

    • Ich hab die Brahms-Schönberg-Chose zweimal gehört, glaube ich, mit Sokhiev und Iván Fischer. Beim ersten Mal macht es noch Spaß, weil es so gekonnt wie gaga ist. Aber dann… Es wird meiner Meinung nach auch mittlerweile zu oft gespielt, wie diese „fertigkomponierte“ Zehnte von Mahler.

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