Vom Martinsfeuer am 11.11. gehts direkt an den Scheiterhaufen. Oder die Scheiterhaufen, gleich drei; wobei die eh nur als Ausgangspunkt einer Ausschreibung fungieren, höchstens als sehr ferne Assoziationszusammenhänge. Drei neue, kurze Musiktheater sind unter diesem Titel in der Nebenbühne Tischlerei der Deutschen Oper Berlin zu besichtigen und behörigen. Premiere war am 5. November, Derniere zu St. Martin. Dabei scheint das Assoziative zugleich Stärke und Schwäche dieser jungen Gegenwartsmusikdramatik zu sein.
Stärke, weil das Assoziative zu drei sehr gegensätzlichen Ansätzen führt (keiner hat wörtlich etwas mit „Hexenverfolgungen“ zu tun). Schwäche, weil da halt alles mit allem zusammenhängt, was sich dann natürlich auch in die weidlich berüchtigten verplapperten Exposé-Seligkeiten der Gegenwartskunst ergießt. Zum Glück ist auf der Bühne aber viel mehr unmittelbare Plausibilität zu erleben als im Theaterbegleitfaltblatt.
Kein Museum ohne Konzert heutzutage, so will es das Spartenübergriffs-Eventgesetz! Das Deutsche Symphonie-Orchester macht seit langem Notturni bei Nofretete & Co, die Capella de la Torre neuerdings Sounding Collections auf der Museumsinsel. Und so bleibt natürlich auch die frisch sanierte Neue Nationalgalerie (nur die Fahrradbügel vorm Haus stehen noch aus, die Löcher sind aber schon im Trottoir) nicht ohne Klangereignis. Selbstverfreilich in dieser Quadrathedrale der „Klassischen Moderne“ nicht irgendwas, sondern gleich eine „neue Neue Musik“.
Die Erkenntnis, dass das Frauenbild im Großteil des Opernrepertoires unter aller Sau ist, rennt offene Türen ein. Das heißt natürlich noch lange nicht, dass das Publikum durch diese offenen Türen auch hindurchginge. Vielleicht ist sogar alles noch schlimmer geworden, denn selbst die alte Opern-Weisheit It’s not over till the fat lady sings ist obsolet geworden: Heutzutage müssen die Sentas, Carmens und Desdemonas auch noch jung und schlank sein, um schön zu lieben und schön zu sterben. Aller Grund also, dass ein freies Opernprojekt im Prenzlauer Berg sich mit solchen Weiblichkeitsvorstellungen auseinandersetzt: unter dem prägnanten Titel FUCK MARRY KILL, nach dem gängigen Teenager-Spiel, und zugleich sowas wie das „Kinder Küche Kirche“ des Musiktheaters. Die Krone der Schöpfung nennt sich der erste von vier geplanten Teilen.
Was für unerwartete, aufregende, bewegende Anfänge in einem Ende stecken können! Als die 83jährige Komponistin Ursula Mamlok im Jahr 2006 nach dem Tod ihres Mannes von New York nach Berlin zog, war das nicht irgendein Umzug in einen Altersruhesitz. Denn Berlin war die Stadt, die die gerade 16 gewordene Ursula Lewy im Februar 1939 mit ihrer jüdischen Familie gerade so noch hatte verlassen können. Heimat mochte sie den Ort verständlicherweise nicht mehr nennen, der zur Heimstatt des Völkermords geworden war und an den sie dennoch an ihrem, noch taghellen, Lebensabend zurückkehrte. Frank Sumner Dodge aber verwendet das Wort mehrmals in seiner kurzen Begrüßung vor dem Konzert im Kammermusiksaal der Philharmonie – der amerikanische Gründer jenes seit 1988 bestehenden, hochwertvollen, unkaputtbaren Formats Spectrum Concerts, bei dem Mamlok (wie sie seit ihrer Heirat 1947 hieß) ein spätes musikalisches Zuhause fand. Heimat vielleicht. Ihr, die 2016 in Berlin starb, ist das ganze Konzert gewidmet.
Alles ist anders derzeit, aber manches doch wieder gleich: zum Beispiel, dass zum Kultursaisonstart nicht nur das Musikfest in der Philharmonie stattfindet, sondern auch der Monat der zeitgenössischen Musik. Der dauert angemessenerweise gleich 35 Tage. Er findet auch im Rahmen des Musikfests statt, zum Beispiel mit Konzerten des Ensemble Musikfabrik, aber vor allem über die Stadt verstreut: wie in dem ambitionierten Projekt ECHOES OF SILENCE letzte Woche in der St. Elisabeth-Kirche, einer der Schinkelschen Vorstadtkirchen, die heute als Kulturraum genutzt wird.
Auf kleiner Post-Bayreuther Alpen- und Süddeutschlandreise, vielleicht nicht zur Wagner-Entgiftung, aber durchaus als Gegengewicht. Unter anderem mit einem feinen Kammerkonzert in München, wo die Karl Amadeus Hartmann-Gesellschaft in einem Schwabinger Keller ein feines Programm rund um ein Thema ihres Namenspatrons präsentiert: Eine Melodie aus dem dritten Satz seines Kammerkonzerts von 1935, die man „jüdisch“ nennen mag (oder melismatisch, wehmütig), bildet den Rahmen, dreimal wird sie von Musikern des ensemble hartmann21 vorgestellt, zuerst auf der Klarinette (Georg Lamprecht), dann auf der Flöte (Serena Aimo), schließlich auf dem Vibrafon (Marcel Morikawa). Dazwischen gibt es drei sehr hörenswerte Stücke, eins für Flöte solo von Altmeister Luca Lombardi und zwei, bei denen die Harfe von Melis Çom den Klangraum erst erfüllt: eine reizvolle Uraufführung Fensterblick der sehr jungen Komponistin Maline Euen, ideenreich und mit viel Klangsinn, und ein meisterlich facettenreiches Fenster.Shloshim von Sarah Nemtsov, bestehend aus 30 Miniaturen. Nemtsovs Ehemann Jascha gab übrigens kürzlich ein kurzes, doch interessantes Interview, in dem er erklärte, warum er niemals nicht keinen Fuß auf den Bayreuther Grünen Hügel setzen würde. Seiner Reduzierung des Wagnerhörens auf „Rausch“ würde ich zwar nicht zustimmen, aber natürlich ist es bedenkenswert, und dass manche Wagnerianer statt Fenster zur Welt einen geistig-moralischen Dachschaden haben, evident. Über solche Dachschäden, aber auch über sowohl berauschende als auch ästhetisch und intellektuell aufregende Bayreuth-Erfahrungen mit Walküre, Tannhäuser und den Meistersingern von Nürnberg habe ich inzwischen einen weiteren,sehr ausführlichen Artikel fürs VAN Magazin geschrieben. (Mein Bericht über die Premiere des Fliegenden Holländersist dort auch noch zu lesen.)
Entcoronaisierung allüberall (hoffnungsvoll), die Cafétische sind voll, die Parks sowieso, die Single gebliebenen Nachtigallen trällern sich die Seele aus der Brust – wer jetzt kein Weib hat, balzt sich keines mehr, schreibt Rilke, aber das wissen die Vögel ja nicht. Wir hingegen radeln beschwingt, frischgetestet und halbgeimpft zum Pierre-Boulez-Saal, wo pilotprojektweis‘ konzertiert wird. Großer Radlerpulk auf der noch immer peinlich radspurlosen Monsterfahrbahn Unter den Linden, einzig und allein der Tagesspiegelkritiker wartet gutbürgerlich aufs Ergrünen der ewig roten Ampel.
Die großen Opernhäuser und institutionalisierten Orchester werden den neuen Wellenbrecher-Lockdown schon überleben, wir leidenschaftlichen Konzertgänger auch irgendwie, selbst die Junkies unter uns. Arg wird es für die freien Künstler, nie klang das Wort „frei“ darin so bitter wie derzeit. Aber klagen und jammern hilft nichts, konkrete Forderungen schon. Helge Schneider hat gerade einen herrlichen offenen Brief dazu veröffentlicht, den ich unten in diesem Beitrag (damit Sie weiterlesen!) wiedergebe. Naja, und bevor die Schotten dicht gehen, wollen wir nochmal „freie Künstler“ hören: Hymnen der Zeit mit dem Kaan Bulak & Ensemble im Kammermusiksaal der Philharmonie.
Alljährliche Aufführung eines zeitgenössischen Werks an der Staatsoper Unter den Linden – wo das Publikum schon vor Corona Abstand hielt und wo der vereinzelte Kenner sich bereits keinen Crémant leisten konnte, als die Bar noch geöffnet war. Mit Vereinzelung hat auch (wieder mal und natürlich, möchte man fast sagen) Luca Francesconis 2011 uraufgeführte Oper Quartett zu tun, deren zweite Vorstellung ich besuche. Denn nirgends ist der Mensch so vereinzelt wie in der Folgeaufführung eines Neue-Musik-Stücks nach der Premiere sowie im Auf und Ab des Liebesbegehrens.
Eine halbe Erdkugel aus Beton füllt die Bühne, eine Mischung aus Todesstern und Hodscha-Bunker; oder auch ein riesiger abgespielter Fußball (Bühne Barbara Hanicka). Endlich erfährt man mal, wie es im Inneren so eines abgespielten Balls aussieht: sehr trostlos, momentweise nicht unerotisch, aber viertelstundenweise langweilig.
Johannes Brahms, mit dessen Vierter heute Abend (nach Igor Levits Auftakt) Kirill Petrenko & sein Hausorchester die liebe Philharmonie wiederaufschließen, ist für den Konzertgänger ja auch ein Zeitgenosse. Bei der gleichzeitig stattfindenden Eröffnung des Monats der Zeitgenössischen Musik wird trotzdem nicht Brahms gespielt, sondern Romitelli, Nemtsov, Cvijović.
Dreierlei Tanzmusiken in der Philharmonie. Nein, viererlei. Denn nach dem Konzert der Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko tanzt es sich erst so richtig sternwärts – im nächtlichen Foyer.
In besonderen Fällen schreibt hier auch einmal eine Phremde Pheder – dann aber nur die ethelste: Julia Kaiser über die Uraufführung von Jüri Reinveres Oper MINONA – EIN LEBEN IM SCHATTEN BEETHOVENSin Regensburg
Nur doofe Männer sagen noch „starke Frauen / Schriftstellerinnen / Komponistinnen etc pp“. Denn das klingt, als wäre es etwas Besonderes, ganz Außergewöhnliches. Vielleicht besser so: Drei großartige Komponistinnen haben den Konzertgänger beim diesjährigen Ultraschall-Festival für neue Musik besonders beeindruckt. Für die Tiefpunkte scheinen hingegen, sprechen wir’s aus, vorwiegend Männer verantwortlich.
Wichtige, lobenswerte, erfreuliche Durchlässigkeit vom Spezialistenreservat in den normalen Konzertbetrieb und umgekehrt: Der aus Serbien stammende Stuttgarter Komponist Marko Nikodijević, dessen Musik das Rundfunk-Sinfonieorchester unter Vladimir Jurowski vor Mahlers Vierter spielt, ist auch beim gerade laufenden Ultraschall-Festival für neue Musik zu hören. Und Nikodijevićs „да исправится / gebetsraum mit nachtwache“ scheint beim RSB-Publikum im Konzerthaus großteils gut anzukommen; trotz einer Dame, die zwanzig Minuten lang immer wieder „Das ist doch keine Musik“ murmelt, wie dem Konzertgänger in der Pause berichtet wird.
Hohe Präsenz von Insekten in der neuen Musik: Wespe hieß mal ein Stück von Enno Poppe (der dieses Jahr ausnahmsweise nicht beim Ultraschall-Festival für neue Musik zu hören ist), und Wespen kommen gleich in zwei Titeln der italienischen Komponistin Clara Iannotta vor, deren Werk das JACK Quartet ein ganzes Programm widmet.
Clara Iannottas musikalische Handschrift ist hoch charakteristisch, nicht nur, weil alle gespielten Stücke Streichquartette sind.
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