Alljährliche Aufführung eines zeitgenössischen Werks an der Staatsoper Unter den Linden – wo das Publikum schon vor Corona Abstand hielt und wo der vereinzelte Kenner sich bereits keinen Crémant leisten konnte, als die Bar noch geöffnet war. Mit Vereinzelung hat auch (wieder mal und natürlich, möchte man fast sagen) Luca Francesconis 2011 uraufgeführte Oper Quartett zu tun, deren zweite Vorstellung ich besuche. Denn nirgends ist der Mensch so vereinzelt wie in der Folgeaufführung eines Neue-Musik-Stücks nach der Premiere sowie im Auf und Ab des Liebesbegehrens.
Eine halbe Erdkugel aus Beton füllt die Bühne, eine Mischung aus Todesstern und Hodscha-Bunker; oder auch ein riesiger abgespielter Fußball (Bühne Barbara Hanicka). Endlich erfährt man mal, wie es im Inneren so eines abgespielten Balls aussieht: sehr trostlos, momentweise nicht unerotisch, aber viertelstundenweise langweilig.
Eine Marquise und ein Vicomte scharwenzeln als abgefuckte Betonballbewohner umeinander, Begehren als menschliches Lebenselixier ist noch in der Endstufe Zynismus spürbar. Hinter dem Libretto steht Heiner Müllers Bearbeitung der Liaisons dangereuses von Choderlos de Laclos, im Vordergrund aber stehen mit hoher physischer Präsenz der Mann Thomas Oliemans und sein Bariton und die Frau Mojca Erdmann und ihr Sopran. Letztere zuvörderst! Frau Erdmanns abruptes Umschlagen zwischen Verlangen und gekonnt schneidender Höhe ist formidabel, auch akrobatisch, manchmal ist das wie ein Monolog von richtigem Poulenc-Schwung.
Schneidend aber auch das Schnipsen der Schere, mit dem Erdmanns Marquise gleich zu Beginn ihre Haare malträtiert und das die notorische Live-Elektronik des Pariser IRCAM durch den Raum pustet. Dieses Multiplizieren etwelcher Geräusche wirkt etwas beliebig, so ausgefuchst es sein mag; es fügt nicht wirklich räumliche oder existenzielle Weite hinzu, und manchmal klingt es auch bloß so, als ob sich hinter einem ein Nilpferd schnäuzt.
Ist es nihilistisches Urgrunzen oder etwa ein Echo des Schnarchens des zunächst schlafenden Vicomte ? Oder gar Nachhall noch stubenunreinerer Geräusche aus dem Unterstübchen? Alles vergessen, wenn Thomas Oliemans aufwacht. Der schöne Schluckauf seines markanten Baritons ins Falsett harmoniert mit dem gewissen Slapstick-Esprit, den Francesconis Musik diesseits des Elektronik-Konfettis haben kann. Witz, durchaus! Leider verfliegt er. Später ist dann auch mal länger permanentes Hibbeln und Aufregen zu hören, was ein klein wenig langweilig werden kann.
Aber insgesamt sind das halbwegs einnehmende Klänge, die die mit irgendwas zwischen 20 und 30 Musikern besetzte und von Daniel Barenboim dirigierte Staatskapelle sich gründlich erarbeitet hat. Durchaus angenehm zu hören, aber vielleicht etwas arm an Haken strömen die Klänge dahin; vielleicht ist die Komposition doch zu sehr auf die Elektro-Chose hinkonzipiert. Fein aber sind die träumerischen Stillstandsinseln, etwa das meditativ um wenige wiederkehrende Töne schwingende Tugend ist eine Infektionskrankheit. Unsere Seele, ein Muskel. Überhaupt bringt dieses Umschlagen in Träume und Erinnerungen die stärksten Szenen hervor, etwa wenn eine Bildergalerie verflossenen Fleisches herabsinkt und Mojca Erdmanns Marquise über die verweste Lieben des Lebens nachdenkt.
Die Regisseurin Barbara Wysocka stellt vernünftigerweise das (Nicht-)Paar Erdmann & Oliemans ganz in den Mittelpunkt, obwohl auch immer wieder eine Tänzerin durchtänzelt und eine junge Statistin durchstatistelt. Ein bissl statisch ist es schon, hier und da wird wohl auch publikumsseits ein wenig in Morpheus‘ Armen gesägt (oder ist das wieder Raumklang?). Aber Erdmann und Oliemans tragen den Abend irgendwie doch, und zwar mit erheblicher erotischer Reibungskraft wie auch deprimierender Reibungsverlustkraft. Was willst du machen? Raubbau an der Lust durch die Treue eines Gatten ist auch keine Lösung, wie die Marquise des Heiner Müller weiß. Und Heiner Müllers Sprachkraft ist das dritte Plus des Abends. Die ist was anderes als die läppischen Sprachkringel des Librettisten Händl Klaus in Beat Furrers Violetter Schnee, dem alljährlichen zeitgenössischen Lindenwerk anno 2019, das aber in musikalischer Hinsicht noch ein anderes Kaliber schien als das hier.
Stimmungsheber war weder dies, noch ist es das. In gewisser Weise ist das ja auch Feelgood-Oper, denn da kann sich noch jede Besucherin und jeder Besucher sagen: Puh, da ist unsereins beziehungs- und emotionsmäßig aber noch fein dran. Wenn man nicht wie zwei jener kreativen Kennerinnen, die sich schon vor Corona hier keinen Crémant leisten konnten, beim Aufschließen ihrer Fahrräder befindet: „Schon wieder nur was über kaputte Heteros.“
Premieren-Kritik bei Schlatz, dort auch weitere Links zu Kritiken
Hat der Francesconi Ihnen musikalisch doch etwas weniger gefallen als mir, wäre ja auch langweilig sonst… Ich werde vermutlich noch einmal gehen. Bisschen statisch, stimmt. Ist ja doch alles eine verflucht heikle Situation für die Opern und überhaupt für alle Veranstalter, und man muss dankbar sein, dass nicht wie an der Met die Saison abgesagt wird. Andererseits ist fast spannend, wenn die schwergewichtigen Hochglanz-Saisonvorschauen für die Tonne sind und quasi alle vier Wochen das Programm sich neu erfinden muss. Auf einmal stehen im November weitere zwei Walküren auf dem Spielplan. Die Oper wird spontan. Ich merke übrigens gerade, wie mir die 1-Stunden-Formate zu gefallen beginnen, man wird der 4-Stunden-Abende entwöhnt.
Orchestersachen von Francesconi hab ich öfter gern gehört. Aber ja, gut, dass was auf die Bühne kommt, auch und gerade Zeitgenössisches. Mit den 1-Stunden-Formaten stimme ich Ihnen zu.
Öfter frag ich mich aber doch bei Novitäten und Uraufführungen: Machen sich Komponisten Gedanken darüber, was auf diese weite weite Opernbühne passt, wenn sich denn mal die Chance für sie ergibt? Klaro, es muss kein Ausstattungsklimbim wie im 19. Jahrhundert sein. Aber wenn es allzu privat wird, hm. Dachte das z.B. bei Chaya Czernowin an der DO letztes Jahr.