Nur doofe Männer sagen noch „starke Frauen / Schriftstellerinnen / Komponistinnen etc pp“. Denn das klingt, als wäre es etwas Besonderes, ganz Außergewöhnliches. Vielleicht besser so: Drei großartige Komponistinnen haben den Konzertgänger beim diesjährigen Ultraschall-Festival für neue Musik besonders beeindruckt. Für die Tiefpunkte scheinen hingegen, sprechen wir’s aus, vorwiegend Männer verantwortlich.
Etwa einer der bekanntesten Namen im Programm: Jörg Widmanns Musik füllte, auch wenn das ungeplant kam, zwei Drittel des Eröffnungskonzerts (mehr dazu) und steuerte auch zu einem Termin im Radialsystem das deutlich längste Stück bei. Nun ja. An sich ist es erfreulich, wenn ein lebender Komponist auf zwei Beinen steht: sowohl im symphonischen Konzertbetrieb als auch auf dieser Art Gegenwartsfestival, wo jeder jeden kennt. Aber deutlich überzeugender als Widmann gelang der Spagat dieser Tage dem Komponisten Marko Nikodijević, der zweimal beim Rundfunk-Sinfonieorchester zu hören war: am Freitag außerhalb von Ultraschall vor Gustav Mahler im Konzerthaus und am Sonntag bei Ultraschall in einer akustisch suboptimalen Dachgarage der alten Akademie der Künste im Tiergarten. Nachdem Nikodijević die Mahler-Abonnenten ziemlich begeistert hatte, konnte man sich fragen, ob er zwischen seinen Zeitgenossen Francesca Verunelli, Maja Solveig Kjelstrup Ratkje und Gordon Kampe vielleicht wie der dumme August wirken würde. Aber nix da: Obwohl sein abgesang für Sopran und Orchester frei von allen zeitgenössischen Zickzackintervallen und Stimmbandmätzchen ist, stattdessen ein tief empfundener elegischer Gesang, durchaus an späten Mahler erinnernd, klingt es nicht naiv – höchstens am Ende etwas zu lang. Ergreifend gestaltet die Sängerin Anna Sohn die Worte eines ungarischen Gedichts von Molcer Mátyás aus der Zeit des Balkankriegs: gelb wird das Gras / auf zeichenlosen / Gräbern, so die deutsche Übersetzung der ersten Verse, die sich am Ende des Gedichts umdrehen.
Zum Lachen statt zum Weinen reizte ein anderes Stück desselben Programms, Ratkjes Concerto for Voice (moods IIIc). Selbst einige rsb-Musiker konnten nur mühsam an sich halten, als die norwegische Stimmkünstlerin Ratkje zu hecheln, schnalzen, knurren, pfeifen begann. Was auch daher kam, dass der festgeschriebene Orchesterpart separat eingeübt wurde und die improvisierende Komponistin erst kurz vor der Aufführung dazu stieß. Natürlich ist man als Hörer oder Aufführender dem Kichermuskel ausgeliefert, wenn man nur einmal an Loriots Kunstpfeifer denkt. Aber der Akzent bei Ratkje liegt doch auf Kunst, nicht auf pfeif: Sehr seltsame Dilettanto-Virtuosität ist das. Aber wo sollte das Ungewohnte eine Stärke sein, wenn nicht bei einem Festival wie Ultraschall? Das nimmt also doch ein.
Eher wirft es Fragen auf, was manche Komponisten mit dem Potenzial eines Riesenorchesters anfangen, wenn ihnen denn mal eins zur Verfügung steht statt der gewohnten Spezialensembles. Auch bei Ratkje sind die etwas (wie der Konzertgängersohn sagen würde) random wirkenden Vorgänge im Orchester das größere Problem als alles Schnalzen und Schnuckeln. Und so packend Gordon Kampes Masque vorantreibt (im Energie-Level an einen Grenzgänger wie Michael Nyman erinnernd), spielt hier doch das Kampe vertraute Ensemble LUX:NM mächtig gewaltig auf, während das rsb eher eine Art verdickende Maisstärke beizutragen hat – das wirkt wie eine Unterforderung dieses vorzüglichen Orchesters. Ganz anders als die hochdifferenzierten Klänge in Francesca Verunellis The narrow corner, einem nur zehn Minuten langen Stück aus fünf kurzen Abschnitten, die die Komponistin als Betrachtung eines einzigen Ortes aus verschiedenen Blickwinkeln beschreibt. Analytisch kann der erstmalige Hörer aus dieser Metapher wenig machen, aber als Brücke fürs Hören funktioniert sie ganz ausgezeichnet.
Denn das Reden über Gegenwartsmusik ist ja auch so ein Thema. Oft vergeht einem schon alle Lust aufs Hören, wenn man die verschwafelten, überschraubten Selbstexplikationen mancher Künstler liest. Andersrum ist es aber auch misslich – Anbiederung etwa: Stand up heißt Vito Žurajs Stück im Abschlusskonzert des Festivals mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter Leitung von Johannes Kalitzke. Wenn Žuraj zuvor programmatisch von seinem Ärger über Donald Trump und Fake-News spricht, kann das Publikum sich in behaglicher Empörung entspannt zurücklehnen; und noch tiefer relaxen, wenn der prominente Percussion-Part als Verkörperung des populistischen Lärms genau so klingt wie bei Edgard Varèse anno dazumal. Welche Kraft jenseits aller Verbalisierungen hat dagegen Antar Atman von Francisco Guerrero: In der Verbindung von (beim Hören zu ahnender) struktureller Strenge einerseits und archaischer Wucht andererseits erinnert dieses 1980 entstandene Stück des viel zu jung verstorbenen spanischen Komponisten tatsächlich an Iannis Xenakis.
Solche Ausgrabungen sind ein besonderer Schatz bei Ultraschall. Wie es auch schön ist, dass hier viele Wieder- und nicht nur Uraufführungen zu erleben sind. Natürlich sind diese Wieder- auch preisgünstiger als Uraufführungen, aber fünf Tage wollen ja gefüllt sein. Etwas teurer wirds, wenn der Komponist ein paar Noten verändert und darum die Uraufführung der revidierten Fassung draus wird. Und manchmal hört man sich bei der Revision der revidierten Fassung der Uraufführung wieder.
Wie Musik im nicht behaglichen Sinn politisch sein könnte, testete viel mutiger als Žuraj Sarah Nemtsov in einem aufregenden Klavierrecital von Christoph Grund im Radialsystem aus. Klaviermusik und Keyboardsamples zu dokumentarischen Bildern eines zehnjährigen Mädchens in Indien, das mit seiner Familie neben, auf und von einer gigantischen Müllkippe lebt: Darf man das? Darf man sich das im elfenbeinernen Turm einer öffentlich finanzierten Kunstveranstaltung und dann doch recht bequem sitzend reinziehen? Und darf man die so ästhetischen wie unerträglichen Bilder (gefilmt von Shmuel Hoffman und Anton von Heiseler) verkomponieren? Alles schnürt sich einem ein bei diesem Erlebnis mit dem Titel Mountain & Maiden. Aber Nemtsov hat diese Fragen offenkundig mitreflektiert, ihre Musik nimmt sich bemerkenswert zurück. Das lässt einen nicht los; und den heimeligen Raum des Neue-Musik-Festivals auf unvorhergesehene Weise aufzusprengen, das ist dann doch etwas, was man pathetisch eine politische Tat nennen könnte.
Womit ja nichts gesagt ist gegen das frugale Schwelgen in Nachhallen, wie man es in Rebecca Saunders crimson für Klavier erlebt – Musik, die durch das Fehlen jeder rhythmischen Sphäre etwas Wirbelloses hat. Für den Konzertgänger ist das wie für den Dreijährigen, der den Kopf auf dem Spielplatz in den ausgehöhlten Summstein steckt: Es erschöpft sich. Der Witz und die Coolness von Iris ter Schiphorsts viel pianistischerem Eden cinema hält ihn stärker bei der Stange.
Zehn Stunden selbstgenügsames Saunders-Nachhallen wären ihm allerdings immer noch lieber als diese halbe Stunde, die er bei dem läppischen Also sprach Golem-Musiktheater des Kommando Himmelfahrt aushält, bevor er das Handtuch wirft. Dann lieber das zugrundeliegende Buch von Stanisław Lem lesen oder einen Wikipedia-Artikel über Künstliche Intelligenz, als sich derart lecture-hölzern etwas vorrumstehtheatern zu lassen. Zum Glück wird dann im Nachtkonzert im Radialsystem noch alle Fadesse fortgeblasen. Das ist nämlich der phantastischen Mirela Ivičević gewidmet und gehört wie Sarah Nemtsovs vielfältige und Clara Iannottas stille Musik zu den Höhepunkten von Ultraschall 2020: hier vorwiegend laut. In der eröffnenden Orgy of References vertont Ivičević dreist das elendste und ödeste aller Textgenres, nämlich ihre eigene offizielle Künstlerbiographie. Her oeuvre includes multimedia performances etc pp, lasziv hingehaucht von der femme fatale Kaoko Amano – ein Geniestreich! Was folgt, hält das Niveau. Turbulent ist gar kein Ausdruck dafür, wie die Musik des Wiener Black Page Orchestra knallt. Nur Ivičević fehlt im Radialsystem, an diesem ihrem 40. Geburtstag: Wenige Tage zuvor hat sie nämlich ein Kind bekommen. Und das gibt dem Festivalnamen Ultraschall doch eine ausgesprochen schöne Nebenbedeutung! Musikalisch aber konnte man sich in den fünf Tagen des Festivals wieder so einiges zusammen sonografieren.
Hier gibts das Abschlusskonzert mit dem DSO zum Nachhören – inklusive Pausengespräch mit dem Konzertgänger alias „Kritiker Albrecht Selge“
Kritik zum Abschlusstag auch bei Schlatz
Interessant, dass 2020 keine der Elektro-Frickeleien im Programm waren, die sonst die Nachtprogramme bei Ultraschall füllten. Auch personell war die Akzentuierung etwas anders. Poppe, Odeh-Tamimi, Eres Holz (leider) sind nicht mehr dabei.
Haben Sie das Stück von Fabien Lévy nicht mehr gehört? Hätte mich interessiert, was Sie davon halten.
Ja, mir sagt Widmann etwas mehr als Ihnen, aber einen Komponisten, der von Philharmonikern und Staatskapelle häufiger gespielt wird als Mendelssohn (oder täusch ich mich?), muss man nicht unbedingt noch bei Ultraschall präsentieren.
Die Untermischung von Werken der Altmeister macht Ultraschall besonders charmant. Das ist, wie wenn die Philharmoniker ab und an Haydn ins Programm nehmen.
Ja, am Freitag (konnte ich leider nicht) gab es ja auch noch Aperghis, Lachenmann, Donatoni, sogar Gubaidulina. Zählt Neuwirth auch schon als Altmeisterin?
Fabien Lévy am Schluss hab ich gehört, bin am Anfang nicht recht reingekommen, am Ende hab ich dann ganz gern mitgewippt und hätte noch weiter, aber ich kann nicht wirklich viel dazu sagen. Irgendwas muss auch weglassen. Aufs Minguet Quartett hätte ich auch noch eingehen können.
Odeh-Tamimi und Eres Holz hab ich mehr vermisst als Poppe, der mir manchmal fast zu präsent ist – bei aller Klasse.
Was Widmann und Mendelssohn angeht, werde ich mal zu zählen beginnen.
Nein, Neuwirth ist noch jung an Geist und Jahren.
Das ist völlig richtig und meine rhetorische Frage war wohl etwas uncharmant. Aber ich habe das Gefühl, sie ist schon länger im Geschäft als alle anderen ihrer Generation; sogar in meinem Harenberg-Opernführer aus dem 20. Jahrhundert hat sie einen eigenen Abschnitt (zwischen Mussorgsky und Otto Nicolai!).
Übrigens finde ich auch Altmeister wie Aperghis jung an Geist.