Ultraschall: Sarah Nemtsov und Geschwister Widmann zur Eröffnung

Eröffnungskonzert von Ultraschall, des alljännerlichen Neue-Musik-Festivals, in dem ganz altmodisch die Musik im Mittelpunkt steht und nicht Diskurse, Desen, Demperamente. Das Deutsche Symphonie-Orchester kommt in den rbb-Sendesaal, vor dem sich die von allen Berliner Konzerthäusern schlechtesten Fahrradständer befinden, nämlich gar keine (angesichts der gigantischen Parkplatzlandschaft auf und um die circa 150spurige Masurenallee fast schon eine Leistung). Aber musikalisch fängt das Festival prima an; zumindest die ersten 18 Minuten.

Reich mir das halbleere Glas! (Quelle: Wellcome Library)

Harfe und Klavier sind präpariert und verstärkt in der großen Orchesterbesetzung von Sarah Nemtsovs dropped. drowned. Das hat eine positiv unruhige Klangwirkung, als schwappte da dauernd etwas über das suchende Flappern der Streicher. Die halb fließende, halb treibende Musik entwickelt von Beginn an einen starken Sog. Zweimal verdickt sich der Klang, durchaus schroff, rau, ja abweisend. Beim ersten Mal ertönen dazu von fern, gerufen von Gongs, die bisher stillen Oboen und Trompeten, die Nemtsov im Rückraum des Publikums postiert hat. Von einer goldgelben Farbwirkung spricht die Komponistin, die sie durch elektronische Zuspiele gleich wieder verunklaren möchte, verschmutzen. (Überhaupt muss man sagen, dass Orchesterklang und Zuspiel hier ideal ineinander greifen.) Die zweite Verdickung scheint martialischer, ein Stampfen entsteht, das verwandelte Flappern des Beginns. Am leisen Schluss dann werden, pling, die Plastikhaarklammern aus den Harfen- und Klaviersaiten gezogen.

Halbvoll, der Herr! Und mehr als das.

Allein der literarische Bezug des Stücks (eine schöne Stelle von Janet Frame über die Stille wie klares Wasser, das jedes Hindernis offenbart – das Benutzte, die Toten, die Ertrunkenen) wirkt nicht sehr erhellend. Aber egal. Denn das am leichtesten fasslichste Qualitätskriterium für neue Musik: Würde ich es gern nochmal hören? ist hier erfüllt. Ja.

Man könnte das Stück sogar zweimal spielen, denn wegen der Erkrankung des Dirigenten Marc Albrecht wurde eine geplante, ebenfalls gut viertelstündige Komposition von Dieter Ammann gestrichen. Der kompetente Johannes Kalitzke ist einigermaßen kurzfristig eingesprungen.

Und ja, man könnte dropped.down sogar drei, vier, fünfmal spielen, wenn man Jörg Widmanns 2. Violinkonzert ebenfalls wegließe. Jörg ist bekanntlich der Bruder der großartigen Geigerin Carolin Widmann (nicht umgekehrt), und von der lässt man sich noch bekanntlicher alles vorgeigen, von Biber über Bruch bis Sciarrino, auch das Telefonbuch oder einen HTML5-Code, warum also nicht auch Jörg.

Das alte Jörg Widmann-Dilemma: Seine Musik hat, trotz enormen Könnens, oft etwas deprimierend Unentschlossenes. Weder gibt sie sich ihren schwelgerischen Klängen restlos hin, ohne immer gleichzeitig Klugheit und Contemporary-Credibility demonstrieren zu wollen (etwa durch würzende Mikrotöne), noch folgt sie einem schrägen Einfall je weiter als ein, zwei Trippelschritte. Am Anfang beklopft und betastet die Solistin ihr Instrument, als hätte sie es gerade gefunden – und diese Idee wird exakt so ausgeführt, wie man es halt erwartet hätte. Jeden Witz, den diese Musik macht, erklärt sie auch gleich. Viele Zitate außerdem, und lauter abgegriffene Violinkonzert-Gesten: aber jedesmal mit dem schlauen Zwinkern, wir wissen ja, wie abgegriffen das ist. Una ricerca (ja doch), Romanze (ja ja) und Mobile (ist ja gut!) heißen die – natürlich – drei Sätze des Violinkonzerts, und Carolin Widmann erzählt, singt, zupft und irisiert das alles äußerst wunderbar. Nicht ihr gelten, das dürfte sicher sein, die nachdrücklichen Buhrufe eines hinten sitzenden Konzertbesuchers.

Sehnsucht nach den herrlichen Violinkonzerten, die die Musikgeschichte post Sibelius ja schon hingekriegt hat, von Janáček über Karl Amadeus Hartmann bis zu Ligeti! Jörg Widmann aber hört man immer mit einem lachenden und einem weinenden Ohr: lachend, weil seine Musik in den Normalprogrammen der großen Sinfonieorchester ihren Platz findet und eher bei einer Spezialveranstaltung wie Ultraschall fehl am selbigen wirkt. Und weinend, weil man sich fragt: Hat das Chancen, in hundert Jahren (falls es dann noch Konzerte im heutigen oder ähnlichem Sinn geben wird) Konzertrepertoire zu sein? Oder werden das nicht doch eher Sachen sein, die heute in Spezialistennischen klemmen?

Zum Beispiel Sarah Nemtsovs dropped.drowned. Das könnten die Berliner Philharmoniker ruhig spielen. Ehrlich. Erstmal gilt aber Nemtsov ein Schwerpunkt des diesjährigen Ultraschall-Festivals, das ein vielseitiges, ausgewogenes Programm hat. Besonders loben kann man die Selbstverständlichkeit, mit der Komponistinnen hier genauso viel gespielt werden wie ihre männlichen Kollegen. Sehr präsent wird auch die italienische Komponistin Clara Iannotta sein.

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