Kein Museum ohne Konzert heutzutage, so will es das Spartenübergriffs-Eventgesetz! Das Deutsche Symphonie-Orchester macht seit langem Notturni bei Nofretete & Co, die Capella de la Torre neuerdings Sounding Collections auf der Museumsinsel. Und so bleibt natürlich auch die frisch sanierte Neue Nationalgalerie (nur die Fahrradbügel vorm Haus stehen noch aus, die Löcher sind aber schon im Trottoir) nicht ohne Klangereignis. Selbstverfreilich in dieser Quadrathedrale der „Klassischen Moderne“ nicht irgendwas, sondern gleich eine „neue Neue Musik“.
Das klöppelt und knispert, zupft und klimpert los, als gäbs kein Morgen. Die Virtuosität der vier Musiker ist enorm: Die vielseitige Pianistin Tamara Stefanovich ist gegenwartsmusikaffinen Besuchern der nahgelegenen Philharmonie vertraut. Ihr steht das Jazztrio Dell/Lillinger/Westergaard gegenüber. Schon die Kurzbio des Vibraphonisten Christopher Dell ist einschüchternd, er ist nicht nur jazzpreistragender Musiker, sondern auch noch habilitierter Städtebau- und Architekturtheoretiker. Kommt man sich immer wie ein Zeit- und Geistvertändler vor, wenn man dergleichen liest. Im freien Spiel wirkt Dell wie außer Rand und Band, wild wackelnder Kopf und konzises Spiel am goldenen Instrument. Gleicht fast jenen kleistschen Marionetten, Donnerlüttchen. Der Schlagzeuger Christian Lillinger und der Kontrabassist Jonas Westergaard surfen auf ebensolchem Energielevel, Stefanovich an den Tasten sowieso, rasender Klangstrom. Auch wenn dem Laien phasenweise scheint, da brausejedes Teil ganz für sich, entsteht wie von selbst ein rauschendes Ganzes. Das hat mal mehr Wumms als die x-te frickelige „Erforschung des Klangs“ bei Zeitgenössfestivals.
In dem großen gemaserten dunklen Quader, vor dem die Musiker spielen, erkennt der Wikipedia-Leser zwar den freistehenden, raumhohen Versorgungskern Heizung/Lüftung/Dach-Entwässerung. Aber es hat dies dennoch alles was von der mythischen Irren Anrufung Des Großen Steins. Allein die Mobiles von Alexander Calder, der in der oberen Haupthalle gerade ausgestellt wird, hängen ungerührt im Raum. Und Mies van der Rohes rechte Winkel (allein an der Decke 14 mal 14 Quadrate, in denen je 8 mal 8 weitere ruhen) lassen sich nicht erweichen.
Nur der Ignorant wagt zu denken, es klingt exakt so, wie er sich Experimentellen Jazz vorstellt. Dessen Pole sind: einerseits das obligatorische Wippen des Jazzfreunds mit dem Fuß, andererseits der verstohlene Blick auf die Uhr. Doch in dubio pro Avantgardeo, schön sind die dialogischen Kapriolenpingpongs des Klaviers mit dem Vibraphon oder das Tastenrepetitionsgeprassel, das vom Schlagzeug beantwortet wird. Wenn der Klangstrom einmal in ruhigere Abschnitte verebbt, strukturiert sich die Musik. Eine Stunde dauert das und endet beinah abrupt. Man fühlt sich dann selbst wie ein unscharf gewordenes, bissl zur Seite gekipptes Quadrat.
SDLW nennt sich diese neu gegründete Combo aus Avantgardepianistin und Jazztrio: Stefanovich-Dell-Lillinger-Westergaard. Sie begreift sich als „Experiment“ zwischen Komposition und Improvisation und ist gleichzeitig der Versuch, eine Lücke zu schließen, die sich zwischen den Szenen gebildet hat. Skeptischer könnte man von zwei Nischen sprechen, die beide etwas (selbstverursachtes) Hermetisches haben. Insofern ist jeder Durchbruchsversuch zu begrüßen. Als Raumerfahrung ist das ohnehin sehr eindrucksvoll, als Zeiterfahrung schwieriger. Den großen Rauschewumms braucht es hier wohl allein schon wegen der akustischen Verhältnisse in der Halle der Neuen Nationalgalerie, die alle feinzerziselichten Töne schlucken würde.
Demnächst nehmen SDWL für das ambitionierte bastille-Label ein gemeinsames Album auf. Es wird interessant, dort oder in genuinen Musikräumen zu hören, wo dieses hochkompetente Quartett unter differenzierteren Klangbedingungen hinkann. Auf jeden Fall sind den Musikern so offene Ohren zu wünschen wie jene des graubärtigen Tippelbruders, der vor der großen Scheibe (außerhalb der Neuen Nationalgalerie und also unserer versammelten Kulturinteressiertheitsbourgeoisie) gebannt lauscht, mit bewegtem Fuß, den Tee im Pappbecher. Bis zum Schluss bleibt er konzentriert dabei, vielleicht der beste Hörer von allen.