Dreierlei Tanzmusiken in der Philharmonie. Nein, viererlei. Denn nach dem Konzert der Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko tanzt es sich erst so richtig sternwärts – im nächtlichen Foyer.
Merkwürdige, fremdelnde Begegnung von Strawinsky und Rachmaninow in den Außenteilen des Programms, das die Philharmoniker gleich viermal in Berlin spielen – um es sodann in dieser komischen Nebenphilharmonie in Hamburg sowie Hannover, Köln, Frankfurt und Dresden zu geben. Was die Musiker beim neunten Mal wohl am dollsten über haben werden? Mein Tipp wäre Igor Strawinskys Symphonie in drei Sätzen, die hier nicht viel von jenem nervösen Witz hat, den man sich bei diesem Stück vorstellen könnte, sondern des Komponisten Bezeichnung von einer war symphony sehr ernst nimmt. Kriegstanz. Und doch wieder nicht, denn es wirkt auch wie knallige Perfektion aus kalter Hand, gleichsam von einer pingeligen Künstlichen Intelligenz motorisiert, trotz Petrenkos physisch hochleistendem Dirigat. Wie das so vorüberschnurrt, erwischt man sich bei dem Gedanken, was für ein leb- und liebloser Komponist Strawinsky doch sein kann. Der zweite Satz wirkt mit hektischen Flötensoli bemerkenswert charmefrei.
Sergej Rachmaninows Symphonische Tänze, wie Strawinskys Stück Anfang der 1940er Jahre entstanden, ist dagegen vielleicht nicht die ganz hohe Komponistenschule: Die Musik ist reich an Wiederholungen und Vorhersehbarkeiten und banalen Fortschreitungen (das müssen diese Schusterflecken sein) und überhaupt teils von erlesener Dürftigkeit. Aber an Herz und Hüftschwung ist sie doch Strawinsky überlegen. Und sie hat auch Farbe, wenn auch nicht so viel wie Rachmaninows Klaviermusik. Das Klavier ist hier übrigens als Orchester-Instrument dabei, wie bei Strawinsky, wo es aber den interessanteren Part spielt.(
Sehr hübsch ist jedenfalls etwa diese reine Holzbläser-Passage im ersten Satz. Wie gut tut die Farbe des Altsaxophons einem Orchester – auch wenn sie immer leicht zu dominieren droht. Und, das zeigt Rachmaninow, zum Tanz gehört Gesang.
Der Rachmaninow lässt sich auf Tournee bestimmt gut runterspielen. Und eben auch gut runterhören. Dass das Publikum am Ende des Konzerts nach den Symphonischen Tänzen heftiger jubelt als nach Bernd Alois Zimmermanns Alagoana, ist vielleicht ein bisschen fragwürdig. Denn Zimmermanns 1950 bis 1955 entstandenes Werk mit dem Untertitel Caprichos Brasileiros ist nicht nur die Mitte des Programms, sondern auch sein verzaubernder Höhepunkt: unheimlich, mysteriös und so herrlich reich an Klangfarben, dass man meint, es könnte für ein ganzes Leben genügen. Natürlich ist dieser erträumte, kriegstraumatisierte Universal-Exotismus ein bisschen bundesrepublikanische Rapsodie brasignole, aber eben alles andere als TUI-Neckermann-Musik. Tief ergreifend ist die Saudade im Zentrum des Werks, aus allen Orchesterwinkeln steigen schillernde Nachtherzvögel auf, schwerelos – der Schritt der Kontrabässe aber ist ernst und sorgenvoll. Im ersten Satz treffen Flöte, Englischhorn, Saxophone auf Celesta und Cembalo, apartissimo; und im irren Gewusel des Caboclo taucht auch mal eine carmensche Habanera auf.
Spannend, dass diese drei tänzerischen und dabei so grundverschiedenen alle im selben Jahrfünfzehnt entstanden sind.
Welcher Philharmoniker sich nicht glücklich schätzte, diese Musik gleich neunmal aufführen zu dürfen, der hätte den Beruf verfehlt. Sieben Schlagzeuger sind übrigens dabei. Und sechs gibts als galaktischen Nachschlag zum Samstagskonzert: Das Format Late Night Konzert ist doch eine der schönsten Hinterlassenschaften der Ära Rattle. Gérard Griseys Le Noir d’Étoile, entstanden 1989/90, für sechs räumlich verteilte Schlagzeuger, Tonband und astronomische Signale wird im Foyer aufgeführt. Da klöppelt es aus diversen Richtungen, und manchmal tönts, als ob die Nachbarskinder auf die Heizungsrohre hauen oder Herr Taschenbier am Donnerstag donnert. Dann wieder ist es, als bumpperte irgendwo (mag sein, im nun leeren Großen Saal) ein riesiges Herz, und wir Hörer schwebten durch die Adern des Gebäudes. Einige Menschen scheinen entrückt, andere checken ihre WhatsApp-Chats.
Putzige Weltallprojektionen machen sich prima auf den asymmetrischen weißen Wänden und Decken des Foyers. Dazu summen die Kühlschränke der philharmonischen Gastronomie, so dass man sich (trotz des astronomischen Fachboheis, den zuvor eine allzu prosaische Stimme im öde aufgeregten Terra X-Tonfall verlesen hat) ganz schön in jenem bekannten Restaurant am Ende des Universums wähnen kann.
Eigentlich müsste Le Noir d`Étoile statt einer mindestens zehn Stunden dauern, damit man sich so richtig in Zeit und Raum verliert. Egal. Die Namen der sechs extraterrestrisch guten Schlagzeuger lauten Raphael Haeger, Simon Rössler, Jan Schlichte, Wieland Welzel, Matthias Kessler und Laura Melero Beviá. Einstudiert hat das verdienstvolle Ganze James Wood. Und am 31. März gibts in der Philharmonie das Grisey-Stück schlechthin, Les Espaces acoustiques. Gelegenheit auch für Philharmoniker, den letzten hartnäckigen Rachmaninow-Ohrwurm loszuwerden im kosmischen Klangbad.
Lieber Herr Selge,
Jetzt muss ich mal lautstark widersprechen. Rachmaninoff wurde immer wieder unterschätzt. In den letzten 30 Jahren hat er aber merklich an Reputation gewonnen.
Und nicht nur seine Klaviermusik. Auch Simon Rattle hat sein letztes Opus, die hier besprochenen Sinfonischen Tänze gerne und erfolgreich dirigiert und eingespielt.
Ich kenne das Stück sehr gut und von dem her widerspreche ich ganz entschieden Ihrer doch etwas geringschätzenden Einordnung dieses Werks. Für mich ist das die Krone seines Werks. Hier ist ein großer Komponist nochmals in der Lage alle Register zu ziehen.
Und Rachmaninoff war ein brillanter Instrumentator. Wenn man das Stück gut gespielt hört, dann bleibt bei mir kein Auge trocken. Auch die Fassung für zwei Klaviere ist sehr gelungen.
Für mich ist das ein Lieblingswerk und diesen Schatz verteidige ich vehement. Verzeihen Sie mir.
Ansonsten lese ich Ihre Besprechungen ja gerne und schätze Sie sehr.