Mitziehend: Zafraan Ensemble eröffnet Monat der Zeitgenössischen Musik

Johannes Brahms, mit dessen Vierter heute Abend (nach Igor Levits Auftakt) Kirill Petrenko & sein Hausorchester die liebe Philharmonie wiederaufschließen, ist für den Konzertgänger ja auch ein Zeitgenosse. Bei der gleichzeitig stattfindenden Eröffnung des Monats der Zeitgenössischen Musik wird trotzdem nicht Brahms gespielt, sondern Romitelli, Nemtsov, Cvijović.

Tendenzen der Gegenwartsmusik: Thema Fahrstuhl (1)

Die Musikbrauerei ist ein uriges altes Gemäuer in der Greifswalder Straße, Prenzlauer Berg. Über die Lüftungssituation hier drin denkt man besser nicht zu tief nach, aber die Stühle stehen ja ordentlich auseinander. Und man ist froh, dass allen Umständen zum Trotz dieses berlinweite Festival für Gegenwartsmusik auch heuer stattfindet, zum vierten Mal. Und auch wenn in Berlin ja eigentlich von Januar bis Dezember Monat der Zeitgenössischen Musik ist – der kommende September ist es ganz besonders.

Freie Künstler und Gruppen wie das Zafraan Ensemble waren natürlich durch den pandemiebedingten Konzert-Shutdown noch gelackmeierter als die institutionalisierten (auch wenn der emsige Kultursenator Klaus Lederer, der hier per Video vorbeigrüßt, eine ganze Menge Nothilfen angeschoben hat). Andererseits kann man ja sagen, dass Prekariat, Krise und Desaster eh der Grundmodus der Gegenwartsmusik sind. Manchmal auch selbstverschuldet, wenn man das elende Buzzword-Konfetti (im Business spricht man gern von Bullshit-Bingo) liest, mit dem ein Festival-Symposium am 25.9. in der Akademie der Künste angekündigt wird:

Im Fokus stehen Prozesse und Profile des Kuratierens, die Machtstrukturen, eurologische Denkmuster kritisch hinterfragen und zur Neuausrichtung u.a. politische, kollektive oder partizipative Strategien in den kuratorischen Entscheidungsakt implementieren … Das Symposium ist als hybrides Format geplant, sodass sämtliche Inhalte (Keynotes, Panels, Chats und Networking), etc pp.

Gut gemeint, schlecht gesagt. Aber musikalisch dräut in den nächsten Wochen Interessantes, von Fahrstuhl-Kompositionen (ab 19.9.) und einer Oper über das Frühstücken (2. und 3.9.) bis zu Klassikern wie Arvo Pärt (11.-14.9.) und Helmut Lachenmann (17.9.). Und auch im Eröffnungskonzert sind weder kruder Diskursklang noch aseptisch-autoreflexive Rumtüftelei zu hören, sondern Musik, die den Hörer direkt mitnimmt.

Tendenzen der Gegenwartsmusik: Thema Fahrstuhl (2)

Mit Einschränkungen allerdings beim letzten Werk des Abends, der Uraufführung des nicht ganz ausgegoren wirkenden Werks Emotional Logic der begabten serbischen Komponistin Misha Cvijović. Es war kein glücklicher Einfall, die Abschnitte des Werks durch eher mittelinteressante Interview-Ausschnitte mit der Komponistin über das Leben in der Pandemie und am Ende gar eine zusammengeschnipselte Skype-Konferenz zu gliedern. Die Abschnitte sind: Erstens angstvolles Atmen und zitterndes Singensuchen der Sopranistin Sirje Viise über durchgängigem Brummflappern oder auch Flapperbrummen; es hat was von kindlicher Spielfreude, wie die Komponistin dabei die Brummknöpfe rauf und runterregelt, aber man versteht auch ein wenig den von kindlicher Spielfreude genervten Grummelnachbarn. Zweitens dann knarzt die Stimme mit Violine und Cello, wobei sich die Streichinstrumente zu virtuoser Spielkunst steigern, während das, was die Komponistin von der Sängerin verlangt, ohne eine Spur etwa der suggestiven Differenzierungskunst von Sciarrino bleibt. Es mag schwierig exakt auszuführen sein, aber klingt nicht sehr interessant. Stattdessen drittens: Summstunde mit Flöte und Bassklarinette. Und viertens das ganze Ensemble, unter dem bewährten Dirigenten Titus Engel.

Man hört durchaus und ahnt noch mehr, wozu Cvijović in der Lage sein könnte und auch sein wird, wenn sie weniger um die Ecke komponierte, sondern sich auf ihren Klangsinn verließe.

Wie es die beiden, leider kürzeren Werke zuvor taten, die freilich von zwei erfahreneren Künstler(inn)en stammen. Die eine, Sarah Nemtsov, ist derzeit zurecht eine der angesagtesten Komponistinnen; der andere, Fausto Romitelli, ist sogar so erfahren, dass er schon seit 16 Jahren tot ist – tragisch früh verstorben, mit gerade mal 41.

Tendenzen der Gegenwartsmusik: Thema Frühstück

Romitellis Professor Bad Trip Lesson 1 von 1998 ist klanglich hochattraktiv, und wahrlich ein Trip: scharfes, teils schrilles Mäandern, cartoonesk und glissandierend, voller Repetitionen einzelner Töne und kleiner Figuren – ein anschwellender Strom eher unerlaubter Substanzen, der einen begeistert mittreiben lässt. Bissl elektronischer Schnulli ist auch dabei, eingesetzt mit sicherem dramaturgischen Instinkt und von ansprechender (trans)räumlicher Schlusswirkung. Romitelli hat das Zeug zum Klassiker.

Sarah Nemtsovs ebenfalls sehr hörenswerte Seven Colours für eine kleinere, band-artige Besetzung (Klavier, Schlagzeug, E-Gitarre und Cello plus Elektronik) ähnelt Romitellis Werk im strömenden Charakter. Aber dieser Trip klingt nach bekömmlicherem, freierem Aufwachen mit weniger Kopfweh. Zumindest anfangs, denn zunächst definieren Klavier und Schlagzeug weite Resonanzräume, aber dann steuern die tiefen Lagen des verstärkten Cellos doch ordentlich Brummschädel bei. Oder ist es eher Bauchintensität, Hören im buddhistischen Atemzentrum in der Leistengegend?

Jedenfalls bietet Seven Colours ein sehr körperlich erfahrbares Klangbild, von dem man sich gern mitziehen lässt. Musik, die man sich auch bei vehementem, nicht zu vanilligem Sex vorstellen könnte, wenn man das mal ganz undiskursiv als Qualitätsmerkmal heranziehen darf. Eine ziemlich starke Ausbeute also beim Eröffnungskonzert.

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4 Gedanken zu „Mitziehend: Zafraan Ensemble eröffnet Monat der Zeitgenössischen Musik

    • Wollte auch zu Musikfabrik und Rebecca Saunders gehen, aber Gesundheit hat leider nicht mitgespielt. (Für Levit fehlt mir auch gerade die Kraft – ein kompletter Beethovenzyklus geht nicht so nebenher.)
      Würde mich freuen, bei Ihnen zu lesen, wie’s war.

      • Saunders war gut. Ein Konzert zeitgenössischer Musik, bei dem jedes Stück sehr interessant ist, ist selten. Schön auch, dass Saunders bei beiden Teilen da war. Generell fand ich das Konzert in der Philharmonie heikel. Der riesige, ziemlich leere Saal, das leergefegte Foyer, das Gefühl, Teil einer Geheimveranstaltung statt eines öffentlichen Konzerts zu sein, das Gefühl, dass sich so was nicht rechnen kann, das alles erhöht nicht gerade die Vor-Ort-Zufriedenheit. Die Philharmonie ist leerer deutlich nüchterner als zB die Staatsoper. Andererseits hörte man, wie exzellent die Akustik in der Philharmonie ist. Ich habe auf jeden Fall nicht spontan Lust bekommen, in einer zu 1/5 besetzten Philharmonie eine romantische Sinfonie zu hören.

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