Fliegenfallend: Juraj Valčuha und Simone Lamsma

Erstmals wieder im Konzerthaus Berlin seit, Sie wissen schon. Ein bissl spooky ists schon, derart ausgedünnt im Großen Saal, jede zweite Reihe ausgebaut, je zwei von vier Plätzen in den verbleibenden Reihen bleiben frei. Andererseits, allein in der Loge mit meiner Marquise finde ich schon standesgemäß. Wenngleich die eingelegten OBI-Spanplatten über der verschwundenen ersten Logenreihe etwas subaristokratisch wirken; vor allem aber fehlen natürlich die diskreten Vorhänge vor der Loge, falls man, Sie wissen schon.

Trotz der Vorzüge an Beinfreiheit und Intimität ist es schwer vermeidbar, dass die Generalproben-Atmosphäre im dreiviertel leeren Saal einen etwas trübsinnig macht. Virensicher wirkts allemal. So wie die Fliegen in seinem 15. Streichquartett nach Schostakowitschs Wunsch (Sie wissen schon), so müssen hier allfällig verseuchte Aerosole „in der Luft tot herunterfallen“, vor Beklemmung und Bedrückung.

Die Fliegen aber würden sich sehr fidel fühlen bei diesem Konzert, das Juraj Valčuha leitet, der ganz vorzügliche Erste Gastdirigent des Konzerthausorchesters. Dessen Licht steht in Berlin immer noch unberechtigt unter dem Scheffel: Die letzten Valčuha-Konzerte, bei denen ich war, waren weit unter Wert besucht. Das fällt beim derzeit reduzierten Kartenverkauf ja nicht auf. Nun ja, auch unter Normalbedingungen einfach dranbleiben – Qualität wird sich selbst in Berlin durchsetzen! Vielleicht tritt Valčuha auch irgendwann die Nachfolge des ja nicht mehr blutjungen Konzerthaus-Chefdirigenten Eschenbach an.

Außerdem sieht Valčuha sehr gut aus, sagt meine Marquise.

Das von ihm geleitete Konzerthausorchester musiziert in Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur in optimalem Einvernehmen mit der niederländischen Solistin Simone Lamsma, deren temperamentvoller Auftritt die fidelen Fliegen richtig kribbelig und summsig machte. Dabei gerät Lamsma bei aller Leidenschaft kein Ton oberflächlich auftrumpfend. Sie spielt mit viel Gemeinsinn und hohem erzählerischen Gespür. In der Kadenz hälkt man gespannt den Atem an, bis man, falls man eine Fliege wäre, zu Boden stürzen könnte. Tschaikowskys köstlicher Schmachtfetzen mag ein paar Stellen haben, die zum Durchfiedeln verlocken könnten, aber Frau Lamsma erfüllt jeden Moment mit Sinn und mit Liebe.

Sinn und Liebe, die ihr eigentlich verbieten sollten, als völlig unpassende Zugabe Bach zu spielen (das Largo aus der 3. Violinsonate BWV 1005). Aber diese Bach-Zugaben-Unsitte ist ja weit verbreitet; und spätestens Lamsmas überirdisch schwebender Schlusston macht jedes Mäkeln vergessen.

Zuvor das herrlich plinkerige Strömen von Franz Schrekers Kammersinfonie von 1916, in weiser Pandemie-Vorausschau für lediglich 23 Instrumente komponiert. Da trudeln die Fliegen in süßer Benommenheit durch die Lüfte zwischen Harfe und Flöte, zwischen Celesta und sanften Streicherwogen, auf den Wellen und im Schwelgen des sinnenfein changierenden Klangbads. Maximal orchestrale Farbenfülle, ein ideales Stück für Valčuhas erlesenen Klangsinn.

Schrekers Stück steht am Beginn des Konzerts, und so ist es für die Marquise und mich der erste romantische Orchesterklang „in echt und live“ seit sieben Monaten. Da könnte man tatsächlich „tot in der Luft herunterfallen“ – vor Überfülle des Hörglücks.

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4 Gedanken zu „Fliegenfallend: Juraj Valčuha und Simone Lamsma

  1. Habe gestern bei den Philharmonikern telefonisch EINE Karte gekauft, hab zwei Mal probiert, beim ersten Mal wurde ich aus der Leitung geschmissen, beim zweiten Mal bin ich gleich drangekommen. Geht also, wobei das natürlich nicht Petrenko war.

  2. Übrigens: Als Einzelkarten-KäuferIn (zumindest der billigsten bis billigeren Plätze) bekommt man in jenen Häusern, die nunmehr diese Diskriminierung des Einzelkäufers eingeführt haben (keine online-Platzbuchung möglich, Ticketerwerb geht nur telefonisch) – Philharmonie, Konzerthausorchester et al. – schlicht keine Karte:
    Wenn man irgendwann am Telefon einmal durchgekommen ist, landet man in der Warteschleife, und wenn man dort irgendwann tatsächlich zu einem Menschen durchgestellt wird, muss der einem immer bescheiden, dass alle Karten schon ausverkauft seien. (Klar: 2 bringen in diesen schwierigen Zeiten mehr als 1.)

    Seien also die froh, die bepartnert leben dürfen! – Das galt ja schon immer für fast alles. Nun auch – fast ausschließlich – fürs Konzerterleben.
    Und was auch schon fast immer galt, nun aber offenbar erst recht: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, / wird wachen, lesen,“[Rilke: Herbsttag] und möglichst keine Kommentare schreiben.

    In diesem Sinne beste Grüße aus dem Witwesk
    Corinna Laude

    • Ja, im Konzerthaus kauft man wohl Paarplätze. In der Philharmonie gehen allerdings wohl auch Einzelplätze, dort kauft man nur den Block und bekommt seinen Platz zugewiesen – mein Vater war am Wochenende allein beim RSB. Wie es bei den Opern ist, müsste man schauen. Aber ein paar Möglichkeiten für Einzelgänger gibt es zum Glück schon noch.

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