Jubiläsmiert: 75 Jahre DSO

Okay, zwei Jahre Pandemie (Sie werden davon gehört haben), aber mal anderes Thema: 75 Jahre DSO. Am Anfang hieß es RIAS-, dann Radio-, seit 1993 Deutsches Symphonie-Orchester. Zum Jubiläum gibt es trotz allem, was leider gerade ist, eine Art Festkonzert in der Philharmonie. Mit hohem Westalgie-Faktor, sogar Eberhard Diepchen ist da! (Er trägt FFP2, im Gegensatz zu amtierenden Senatoren, die mit „medizinischer Maske“ dasitzen wie arme Leut.) Im bunten Programm – dennoch bemerkenswert wenig gefällig, viel kaum Bekanntes – sind alle Westalliierten vertreten; sofern man Antonín Leopold Dvořák jetzt einfach mal als US-Ameříkáner durchgehen lässt.

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Tentakelstreckend: Saisonvorschau des DSO

Education (Symbolbild)

Sinnigerweise stellt das Deutsche Symphonie-Orchester, welches abseits des großsymphonischen Hauptbetriebs ja regelmäßig nächtliche Kammerkonzerte in Berliner Museen gibt, seine neue Saison im Panorama-Pavillon am Kupfergraben vor. Dort hat man eine, nicht nur für Kinder, irre Antikenwelt aus Vogelperspektive innen drin und nach draußen den Blick aufs Pergamonmuseum – will heißen, eine dieser Berliner Baustellen, die Allegorien der Unendlichkeit sind.

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Lacrimös: Michael Francis beim Rundfunk-Sinfonieorchester mit Haydn, Britten, Ives, Vaughan Williams

Zu den sieben Plagen der Musikkritik gehört (neben diesem Werthers-echte-farbenen Vokabular von konzis bis luzide und irisierend bis saftig) die ewige Herumkauerei, wie viel Publikum da war. Oder eben nicht da war. Da in diesem Blog mehr Ausdruck der Empfindung als Kritik sein soll, hier nur so viel: Dieses tränenreiche englische Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Michael Francis hätte full house verdient. Oder wie Opa Werther sagen würde: fulminant! Weiterlesen

Hiobsbotschaftlich: DSO, Norrington, Bostridge spielen Haydn, Britten, Vaughan Williams

Glücklich, wer bei Roger Norringtons über fünf Jahre laufendem Ralph Vaughan Williams-Zyklus von Anfang bis Ende dabei war! Zum Abschluss und als Zugabe zu den Sinfonien dirigiert er beim Deutschen Symphonie-Orchester in der Philharmonie „Job“ – A Masque for Dancing (1930).

800px-William_Blake_-_Satan_Before_the_Throne_of_GodDiese dreiviertelstündige, von Bildern William Blakes inspirierte Hiobs-Musik für Riesenorchester ist eher symphonische Dichtung als Ballett, aber auf jeden Fall ein theatralisches Spektakel und ein Fest für Freunde des romantischen Mischklangs, der auch mal zum Weltkulturerbe erklärt werden sollte. Plakativ (erztonaler Gott versus dissonanter Tritonus-Springteufel), manchmal leicht bescheuert (plötzliches Losfetzen der Orgel wie in einem bizarren Horrorfilm), aber herrlich lustig und schaurig.  Auch gut als Orchester-Leistungsschau missbrauchbar, wäre also Berliner-Philharmoniker-tauglich. Weiterlesen

11.12.2016 – Farbensatt: RSB, Steffens, Brantelid spielen Elgar und Vaughan Williams

Berufsorientierender Sonntagnachmittag in der Philharmonie! Eine Menge Kinder ist im Großen Saal beim englischen Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin zu Besuch. Nachdem sie den dänisch-schwedischen Cellisten Andreas Brantelid gehört und gesehen haben, dürfte ihr Wunsch klar sein: logisch, Cello lernen. (Wenn sie das nicht ohnehin schon tun.)

elgar-by-rothensteinZwar kann man diesem hochbegabten jungen Musiker (man darf einen 29jährigen wohl noch jung nennen, Kunst ist ja kein Leistungssport) keinerlei Imponiergehabe vorwerfen. Mit Jacqueline du Pré verglichen klingt ohnehin jede Interpretation dieses Stückes rank, schlank, nüchtern, und das ist auch gut so. Dennoch lässt sich Edward Elgars Cellokonzert e-Moll (1919) doch nur nach dem Motto spielen: wenn schon, denn schon.

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19./20.11.2016 – Fragezeichnend: Roger Norrington und DSO spielen Vaughan Williams, Mozart, Beethoven

Zweimal dreimal acht: Das Deutsche Symphonie-Orchester spielt am Samstag und Sonntag die achten Symphonien von Mozart, Vaughan Williams und Beethoven. Und weil Roger Norrington dirigiert, ist der Konzertgänger an beiden Abenden in der Philharmonie, einmal in Block A, wo es mehr knallt, einmal in Block D, wo man ausgewogener hört.

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7.6.2016 – Lebensrettend: DSO, Norrington, Faust spielen Haydn, Mozart, Vaughan Williams

HaydnportraitZwischen wartenden Harfen und allerlei Perkussionsgerödel, das großer Dinge harrt, beginnt Joseph Haydns Symphonie Nr. 87 A-Dur Hob I:87 wie ein Überraschungsangriff. Die lang gedehnten Pausen im Kopfsatz genießen die Musiker des Deutschen Symphonie-Orchesters mit sichtbarer diebischer Freude. Hörbar ist diese Freude sowieso, erst recht in den Soli der Flöte (Kornelia Brandkamp) im Adagio und der Oboe (Thomas Hecker) im Trio des Menuetts.

Der freudigste Dieb von allen, Sir Roger Norrington, dirigiert nur, wo es nötig ist, oft und gern hört er einfach staunend seinen famosen Musikern zu. Weiterlesen

2.12.2015 – Meeresböhmisch: Roger Norrington bringt Vaughan Williams zum DSO

Im 6-Monats-Takt setzt Sir Roger Norrington, 81, seinen Vaughan-Williams-Zyklus fort: Nach der aufwühlenden Sechsten im Juni gab es nun im Dezember die Fünfte, bevor im nächsten Juni die Neunte folgt. Die Siebte und Achte fehlen dann noch.

Der Anfang der Fünften erinnert allgemein an Sibelius (man vergleiche mal die Anfänge, hier und hier) und konkret an ein böhmisch-amerikanisches Cellokonzert: Bei Vaughan Williams ist der zweite Teil von Dvořáks zackigem Thema allgegenwärtig, in dem es untenrum zum Grundton zurückgeht:

Da wir seit Shakespeare ohnehin wissen, dass Böhmen am Meer liegt, passt es bestens, das Konzert mit Antonín Dvořáks Cellokonzert h-Moll op.104 (1894/95) zu eröffnen. Norrington und das Deutsche Symphonie-Orchester gehen es mit extremen Temporückungen an, den Anfang äußerst gedehnt, dann mit starker Beschleunigung. Das lyrische zweite Thema ist wieder sehr langsam. Zunächst befürchtet man, die Musik würde zerfasern. Aber der Ansatz kommt dem Stück zugute. Brahms konnte sich (vor Dvořák!) nicht vorstellen, dass das Cello als Solo-Instrument taugen könnte wie Klavier oder Violine, und der Kanadier Jean-Guihen Queyras ist erst recht kein musikalischer Kraft- und Schönheitsprotz: Offenhörlich im Herzen ein Kammermusiker, wirkt sein Spiel zunächst fast schwachbrüstig, jedenfalls zu intim für den Großen Saal und das romantische Konzert. Aber der Eindruck lichtet sich sehr: Mögen die Tutti auch heftig sein, breitet Norrington diesem zarten Spiel einen roten Teppich aus. Schon das Zusammenspiel mit der wunderbaren Flöte (Gergely Bodoky) im zweiten Satz ist pures Glück. Der Schluss des Adagio und der todeswehmütige Epilog des Finales könnten ergreifender nicht klingen; obwohl Queyras tief in die Saite geht, klingt sein Ton ganz leicht, ja zerbrechlich. Wie gern säße man bei der Sarabande aus Bachs G-Dur-Suite, die Queyras als Zugabe spielt, in einem kleineren Raum!

Nicht nur das kleine, um einen Ton kreisende Grundmotiv, sondern auch das Liedhafte, Gesangliche verbindet Dvořáks Cellokonzert mit Ralph Vaughan Williams‘ 5. Symphonie (1938-43, rev. 1951) in der Paralleltonart D-Dur. Während Dvořák die Erinnerung an ein Lied seiner einst geliebten, nun sterbenskranken Schwägerin Josefina einkomponierte, ließ Vaughan Williams Musik aus seiner spirituellen Oper The Pilgrim’s Progress einfließen, mit der er nicht vorankam. 

Und diese Musik aus der schlimmen Kriegszeit fließt tatsächlich: ein großes, ruhiges Dahintreiben. Selbst wenn man unterwegs in geheimnisvoll leise Strudel (das Scherzo Presto misterioso) gerät oder momentweise heftige Erregung aufwallt, zweifelt der Hörer nie am glücklichen Weitertreiben. Das Gegenteil von Kontrastextremismus, auch in ihren Steigerungen bleibt diese Musik immer flächig. Aber diese Gewässer sind nie seicht. Die archaische Harmonik der Streicher im Preludio evoziert eine faszinierende Atmosphäre. Von klarem, kalten Wasser, das er seinen Hörern zu trinken geben wolle, schrieb Sibelius, und altklug denkt der Konzertgänger bei Vaughan Williams‘ Fünfter: So hätte der späte Hindemith komponieren können, wenn er nur vom klaren, kalten Wasser Sibelius‘ getrunken hätte.

Höhepunkt der Fünften sind die anschwellenden Mischklänge im dritten Satz, der Romanza, meist sehr zart, später auch strahlend. Wunderbar die Zwiesprachen des Englischhorns mit der Oboe und den anderen Holzbläsern. Totaler Flow beim Hörer!

Am Ende des Finales, einer Passacaglia, kehrt der Anfang der Symphonie wieder; eine Symphonie, die stärker aus einem Guss wäre als diese Fünfte, ist kaum vorstellbar. Und was für ein schöner, lang anhaltender D-Dur-Schlussakkord! In den leider eine ungehobelte Besucherin lauthals hineinkräht; möge sie für diese ruchlose Tat an der tiefsten Stelle des Meeres versenkt werden.

Und möge Gott Sir Roger Norrington noch viele gesunde, glückliche, tatkräftige Jahre schenken!

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Konzertgängers TOP DREI im Juni… and the worst

WAS DEN KONZERTGÄNGER IM JUNI AM MEISTEN BEGEISTERT HAT:

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Akademie für Alte Musik im Konzerthaus (1. Juni)

Weil George Onslow kein französischer Beethoven, aber trotzdem großartig ist. Weil Schuberts Oktett dem Hörer 60 Minuten Unendlichkeit schenkt. Und weil die Akademie für Alte Musik himmlische Musik nicht nur historisch korrekt, sondern vor allem himmlisch schön spielt. > Lächelnd: Akademie für Alte Musik mit George(s) Onslow und Schubert

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Deutsches Symphonie-Orchester mit Roger Norrington und Martin Helmchen in der Philharmonie (10. Juni)

Weil gut gespielter Haydn gewinnbringend investierte Lebenszeit ist. Weil Martin Helmchen und Mozart ein Traumpaar sind. Weil Vaughan Williams‘ Sechste ein unbekannter Gigant ist. Und weil Roger Norrington Witz und Kompetenz vereint wie niemand sonst. > Atemberaubend: DSO und Roger Norrington mit Haydn, Mozart und Vaughan Williams

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Footfalls/Neither von Samuel Beckett und Morton Feldman in der Staatsoper (19. Juni)

Weil Becketts Beitrag zum Thema häusliche Pflege hinreißend düster ist. Weil Morton Feldman lauter Nichtse in Klangzauber verwandelt. Und weil Katie Mitchell das alles wunderschön inszeniert: die Welt als Frauen und Türen. > Hin und her, hin und her: ‚Footfalls/Neither‘ von Samuel Beckett und Morton Feldman in der Staatsoper


… UND WAS DER KONZERTGÄNGER LIEBER VERPASST HÄTTE:

Originale von Karlheinz Stockhausen in der Werkstatt der Staatsoper

… und zwar nicht wegen, sondern trotz Stockhausen. Schade um die schöne Musik. Akuluku, akuluku. > Fremdschamdlos: Karlheinz Stockhausens ‚Originale‘ in der Staatsoper