Hiobsbotschaftlich: DSO, Norrington, Bostridge spielen Haydn, Britten, Vaughan Williams

Glücklich, wer bei Roger Norringtons über fünf Jahre laufendem Ralph Vaughan Williams-Zyklus von Anfang bis Ende dabei war! Zum Abschluss und als Zugabe zu den Sinfonien dirigiert er beim Deutschen Symphonie-Orchester in der Philharmonie „Job“ – A Masque for Dancing (1930).

800px-William_Blake_-_Satan_Before_the_Throne_of_GodDiese dreiviertelstündige, von Bildern William Blakes inspirierte Hiobs-Musik für Riesenorchester ist eher symphonische Dichtung als Ballett, aber auf jeden Fall ein theatralisches Spektakel und ein Fest für Freunde des romantischen Mischklangs, der auch mal zum Weltkulturerbe erklärt werden sollte. Plakativ (erztonaler Gott versus dissonanter Tritonus-Springteufel), manchmal leicht bescheuert (plötzliches Losfetzen der Orgel wie in einem bizarren Horrorfilm), aber herrlich lustig und schaurig.  Auch gut als Orchester-Leistungsschau missbrauchbar, wäre also Berliner-Philharmoniker-tauglich. Weiterlesen

15.3.2016 – Ins Offene wankend: Schuberts Winterreise mit Ian Bostridge und Julius Drake

Aus dem diesjährigen Programm des Neue-Musik-Festivals MaerzMusik ragt ein Werk des vielversprechenden jungen österreichischen Komponisten Franz Schubert heraus. Es heißt nicht algor/rigor:::fragments VII oder Genetics-based Melancholy Pt. I & II, sondern peinlich schlicht Winterreise.

Aber kein Mensch, der Musik liebt, wird sich lange darüber wundern oder gar beschweren, wie dieses Werk ins Programm geraten ist. Zumal wenn Ian Bostridge es singt und Julius Drake am Klavier… nein, nicht begleitet. Gegen den Usus soll hier einmal mit dem Spiel des Pianisten begonnen werden: nicht nur weil die Frau des Konzertgängers nach dem Konzert im Kammermusiksaal von ihm geträumt hat (dem Klavierspiel, nicht Mr Drake, obwohl der ein stattliches Mannsbild ist), sondern weil es so bizarr, bewegt und durchdacht ist, dass das Wort kongenial fallen muss. Zu Beginn des Zyklus schreitet Drake nicht einfach los, sondern stürzt mit einem furchterregenden Crescendo in die Tiefe. Die Wetterfahne lässt er mit ekstatisch zitterndem Fuß auf dem Pedal flattern, ein Effekt, den er später wiederholt, etwa im Frühlingstraum. Im Lindenbaum forciert und verschleppt er derart, dass das Lied in seine Einzelteile zu zerfallen droht. Die Tonrepetitionen im Irrlicht zucken so beängstigend synkopisch, dass sie auch den verwirrten Hörer in die tiefsten Felsengründe zu locken drohen. Das Hundebellen und Kettenrasseln Im Dorfe lässt Drake aus gedämpfter Traumtiefe heraufklingen, die Pausen dehnt er bis an den Rand des Erträglichen. Und der Leiermann leiert hier mit nie gehörter Hochspannung. Eins ist diese Winterreise gewiss nicht, nämlich fahl.

Nun wird kein ernstzunehmender Sänger Schuberts Winterreise biedermeierlich klingen lassen, aber so unbiedermeierlich wie bei Bostridge dürfte sie dennoch selten wirken. Denn alles, was an Drakes Spiel packt und begeistert, gilt auch für Bostridges Interpretation, nur dass hier eine visuelle Komponente dazukommt, während Drake selbst die bizarrsten Dinge völlig stoisch tut. Bostridge hingegen ist exaltiert bis zur Karikatur, auf eine Weise, die Hörer zu berauschten Zuschauern werden lässt; auch wenn der eine oder andere Fischer-Dieskau-Veteran vielleicht lieber die Augen schließt. Bereits in Gute Nacht wankt und schwankt Bostridge, beugt sich, stützt sich ab, quetscht die Töne aus dem Mundwinkel, dass man um seine Gesundheit fürchtet. Man erinnert sich, dass Christian Gerhaher (als Sänger natürlich ein völlig anderes Temperament) vor zwei Jahren in der Winterreise zusammenbrach und sich hinter der Bühne fit spritzen ließ, um den Zyklus zum Ende zu bringen. Aber Bostridge bleibt auf den Beinen, auch wenn er den Höchste-Expressions-Modus nicht verlässt: meiner Liebsten Haus in der Wasserflut oder reißend schwillt in Auf dem Flusse deklamiert, ja ruft er so laut, dass es fast weh tut. Er verwandelt nicht nur seine Stimme, sondern sich selbst in die Krähe, so wie er insgesamt nicht darstellt, sondern der romantische Wanderer ist. An einigen Stellen mögen andere Sänger etwas anschaulicher tonmalen, die Melismen im Greisen Kopf noch kunstvoller singen. Aber an Intensität dürfte Bostridge selbst unter den größten Liedsängern einzigartig dastehen. Beziehungsweise wanken und schwanken. Das letzte Wort, drehn, singt er mit einem Crescendo, dass es zum Schrei wird. Nach Sterben klingt das nicht, eher nach Zerrissenheit, die unbedingt leben will.

Die Offenheit der Winterreise betont Bostridge auch im anschließenden Podiumsgespräch mit der lustigen Philharmonikerin Sarah Willis (die die Winterreise zum ersten Mal live gehört hat, als Hornistin gehe sie lieber zu Strauss und Mahler). Trotz Pause ist der relaxte Talk nach den Eruptionen der Musik natürlich emotional etwas diminuierend. Gleichwohl sehr interessant, Bostridge trinkt Hefeweizen, spielt während des Sprechens mit einem riesigen Schlüssel herum, dankt dem Publikum für die lange Stille vor dem Beifall, legt dar, dass Schubert die Winterreise ursprünglich tatsächlich für Tenor, nicht Bariton komponiert habe, und liest aus seinem Buch über die Winterreise (das keinesfalls so schwierig ist, wie Willis behauptet, sondern bei aller Gelehrsamkeit gut lesbar). Die Frage, warum die Berliner und Wiener dem Genre des Lieds weitgehend abgeschworen haben, während in der Londoner Wigmore Hall 95 Liederabende pro Jahr stattfinden, kann auch er nicht beantworten.

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