Okay, zwei Jahre Pandemie (Sie werden davon gehört haben), aber mal anderes Thema: 75 Jahre DSO. Am Anfang hieß es RIAS-, dann Radio-, seit 1993 Deutsches Symphonie-Orchester. Zum Jubiläum gibt es trotz allem, was leider gerade ist, eine Art Festkonzert in der Philharmonie. Mit hohem Westalgie-Faktor, sogar Eberhard Diepchen ist da! (Er trägt FFP2, im Gegensatz zu amtierenden Senatoren, die mit „medizinischer Maske“ dasitzen wie arme Leut.) Im bunten Programm – dennoch bemerkenswert wenig gefällig, viel kaum Bekanntes – sind alle Westalliierten vertreten; sofern man Antonín Leopold Dvořák jetzt einfach mal als US-Ameříkáner durchgehen lässt.
Deutlich überrepräsentiert ist die Britische Besatzungszone, fast als hätte der West-Berliner RIAS einst RIBS geheißen. Nun gut, Chefdirigent Robin Ticciati (geboren im 28. Lebensjahr seines heutigen Orchesters) ist Londoner. In der ersten Hälfte zwei britische Tonschöpfer, genau genommen sogar drei: Denn ein Thema des Renaissance-Komponisten Thomas Tallis bildet die Grundlage für Ralph Vaughan Williams‘ 1910 uraufgeführte Fantasia, mit der das Konzert beginnt. So sehr ich Streichquartette liebe, so wenig fesseln mich Werke für großes Streichorchester meistens, gerade wegen des homogenen Klangbilds, für das die Orchestergruppen natürlich zu loben sind. Zum Glück separiert sich in der Fantasia on a Theme by Thomas Tallis auch noch ein miteinander spielendes Streichquartett innerhalb des Orchesters, zudem ist ein Extra-Streichernonett hoch oben auf der Empore postiert, was schöne Fern-Effekte ergibt.
Vaughan Williams‘ Stück wurde öfter bei diesem Orchester aufgeführt, erstmals 1949 im Steglitzer Titania-Palast, zuletzt 2020. Zu den DSO-Höhepunkten der letzten Jahre gehörte für mich der Vaughan Williams-Sinfonien-Zyklus mit Roger Norrington (einem weiteren Briten), der leider gerade bekanntgab, seine Dirigentenkarriere zu beenden. Nun gut, er ist auch nochmal zwölf Jahre älter als das Orchester (angenehmen Ruhestand, Sir Roger!). Er gehört hier, wie Günter Wand, sozusagen zu den Ehemaligen der Herzen, obwohl niemals Chefdirigent gewesen. Fricsay, Maazel, Chailly, Ashkenazy, Nagano, Metzmacher und Sokhiev sind die Vorgänger von Ticciati, der beim Dirigieren stets vor Begeisterung zu bersten scheint, selbst wenn man als Hörer mal denkt, sooo ein Reißer ist das Stück nun nicht. Die Fantasia dirigiert er hochenthusiasmiert, und nun ja, es klingt auch gepflegt bis edel. Trotzdem bin ich recht dankbar, als danach attacca ein weiterer Brite – nämlich George Benjamin, geboren im Jahr 14 nach Orchestergründung, ehemals Berliner Composer in residence – den Streicherklang aufbricht: als löse sich eine große Farbfläche in tausend herumspritzende Splitter auf. Sudden Time, entstanden um 1990, fupsig und bimsig und nervös pieksen Fagott und Bassklarinette ihre Impulse und überhaupt alles, was da im Orchesterland kreuchen und fleuchen kann, nicht zuletzt sechs Schlagwerkbatteristen.
Antonín Dvořáks Scherzo capriccioso Des-Dur ist so ein großer Wunschkonzert-Rumspums, „schneidig“ nannte mein Opa einst solche Musik, durchaus anerkennend. Dennoch, so willkommen wie der flirrende Benjamin unmittelbar nach Vaughan Williams‘ Streichern ist mir hier das Jazzduo, welches das Scherzo mehrfach unterbricht. Rolf Zielke am Klavier und Stephan Braun am Cello, das auch kräftig beklopft wird, nehmen für ihre elegant perlenden Improvisationen Motive von Dvořák auf und spinnen damit einnehmend herum. Während das Scherzo, das danach weiterläuft, naturgemäß nicht auf die Jazz-Einlagen reagiert, was schon ein kleines strukturelles Manko ist. Einige DSO’ler würden und könnten sicher mitspintisieren hier, vielleicht sollte man sie bei der Gelegenheit loslaufen lassen; so wie man Zielke und Braun im großen Scherzo-Finish gern mitspielen sähe statt still dabeisitzen. Man hätte die schöne Idee vielleicht noch mutiger von den Zügeln lassen sollen.
Etwas fishy scheint mir auch die Idee, Dvořák mittels Jazz als amerikanische Zone des Konzerts plausibler zu machen. Überhaupt tut sich die Klassik mit Jazz schwer. Harmonik im Jazz sei doch wesentlich übersichtlicher als in der Romantik, behauptet später ein Klassikjournalist im Rundfunk; da erübrigt sich jeder Kommentar. Aber Zielke und Braun könnte ich stundenlang zuhören.
Die französische Zone wird mit Ernest Chaussons Poème absolviert, bei dem das Orchester ein wenig die unermüdliche solistische Kunst von Lisa formidabelissima Batiashvili begleiten darf, beinah skulpturalen Violinklang. Die Richard Strauss-Interpretationen des RIAS- bzw Radio- bzw Deutschen Symphonie-Orchesters schließlich waren und sind legendär. (Nur vor ein paar Jahren erlebte ich mal eine Strauss-Aufführung mit Christoph Eschenbach, die offenhörlich ungeprobt war.) Dass guten Orchestern das Straussspielen immense Freude macht, ist verständlich. Jeder hat immerzu zu tun, jeder hat immerzu Tolles zu tun. Die Straussfreude des Publikums im 21. Jahrhundert hat indes wohl ein wenig nachgelassen. Aber wenn es so perfekt gearbeitet ist wie hier der Don Juan unter Leitung von Ticciati, ja wenn es derart prächtig klingt, mit glänzender Blächverve und liebessingendem Holzschmölz etc pp, dann herzlich gern. Auf die nächsten 75 Jahre, liebes DSO (wie auch immer Du Dich im Jahr 2096 nennen wirst).
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