10.3.2017 – Verschollen: Poulenc & Janáček in der Werkstatt der Staatsoper

Aus einem großen Juwel sind zwei kleine Juwelen geworden: In der Werkstatt der Staatsoper im Schillertheater (wo es bekanntlich das interessanteste halbneue, neue und allerneueste Musiktheater aller Berliner Opern gibt) wurde das Doppelprogramm La voix humaine von Francis Poulenc und Tagebuch eines Verschollenen von Leoš Janáček wiederaufgenommen.

Jheronimus_Bosch_-_The_Pedlar_-_Google_Art_Project.jpgAber ist es überhaupt eine Wiederaufnahme? Verschollen ist nämlich auch Isabel Ostermanns (Regie) und Günther Albers‘ (Musik) ursprüngliches Konzept von 2014. Das bestand darin, die beiden Stücke nicht nacheinander zu geben, sondern ineinander geschnitten und teilweise sogar übereinander gelegt aufzuführen. Das war problematisch und teilweise nervig, hat aber insgesamt doch verblüffend gut funktioniert. Denn es gelang faszinierend, die beiden Stücke miteinander sprechen zu lassen: hier die Erinnerungen und die Einsamkeit einer Frau am Telefon, die ihren nie zu hörenden Geliebten verliert (Poulenc), dort die Erinnerungen und die Einsamkeit eines jungen Bauern, der aus Liebe zu einer Zigeunerin seine Heimat und Familie verlassen hat (Janáček). Weiterlesen

15.7.2016 – Hörstörung (4): Plopp bei Stockhausen

Während der im Rahmen des heute endenden Festivals Infektion! vom Pianisten Adrian Heger in der Werkstatt der Staatsoper im Schillertheater so beeindruckend kompetent wie spielfreudig dargebotenen Klavierstücke I bis IX (1952-61) von Karlheinz Stockhausen, die der Konzertgänger sich zwischen einem erneuten Besuch von Salvatore Sciarrinos zwar recht oberflächlich, mitunter rosenkavalierchargenhaft inszenierter, doch sagenhaft schön tönender Oper Luci mie traditrici (heute zum letzten Mal) und dem an Hegers Rezital anschließenden Gesang der Jünglinge, Stockhausens elektronischer Pioniertat, einer im Jahr 2016 historisch interessanten, wenngleich akustisch öden Hörerfahrung, mit wachsendem geistigen und seelischen Gewinn anhörte, kam es – und zwar im III. oder IV. Klavierstück, die im Gegensatz zu den späteren, aus dem und in den Klang entstehenden, figurationenreichen Stücken für Konzertgängers Ohren noch nach bloßer serialistischer Parameterware klingen – zu einem unerhörten Ereignis, als in der streng determinierten Abfolge von Dauern, Höhen und Farben plötzlich das aus jeder Ordnung schlagende Ploppen des Bügelverschlusses einer Bierflasche zu hören war.

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Konzertgängers TOP DREI im Juni… and the worst

WAS DEN KONZERTGÄNGER IM JUNI AM MEISTEN BEGEISTERT HAT:

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Akademie für Alte Musik im Konzerthaus (1. Juni)

Weil George Onslow kein französischer Beethoven, aber trotzdem großartig ist. Weil Schuberts Oktett dem Hörer 60 Minuten Unendlichkeit schenkt. Und weil die Akademie für Alte Musik himmlische Musik nicht nur historisch korrekt, sondern vor allem himmlisch schön spielt. > Lächelnd: Akademie für Alte Musik mit George(s) Onslow und Schubert

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Deutsches Symphonie-Orchester mit Roger Norrington und Martin Helmchen in der Philharmonie (10. Juni)

Weil gut gespielter Haydn gewinnbringend investierte Lebenszeit ist. Weil Martin Helmchen und Mozart ein Traumpaar sind. Weil Vaughan Williams‘ Sechste ein unbekannter Gigant ist. Und weil Roger Norrington Witz und Kompetenz vereint wie niemand sonst. > Atemberaubend: DSO und Roger Norrington mit Haydn, Mozart und Vaughan Williams

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Footfalls/Neither von Samuel Beckett und Morton Feldman in der Staatsoper (19. Juni)

Weil Becketts Beitrag zum Thema häusliche Pflege hinreißend düster ist. Weil Morton Feldman lauter Nichtse in Klangzauber verwandelt. Und weil Katie Mitchell das alles wunderschön inszeniert: die Welt als Frauen und Türen. > Hin und her, hin und her: ‚Footfalls/Neither‘ von Samuel Beckett und Morton Feldman in der Staatsoper


… UND WAS DER KONZERTGÄNGER LIEBER VERPASST HÄTTE:

Originale von Karlheinz Stockhausen in der Werkstatt der Staatsoper

… und zwar nicht wegen, sondern trotz Stockhausen. Schade um die schöne Musik. Akuluku, akuluku. > Fremdschamdlos: Karlheinz Stockhausens ‚Originale‘ in der Staatsoper

24. Juni 2015 – Fremdschamlos: Karlheinz Stockhausens ‚Originale‘ in der Staatsoper

Obwohl die Staatsoper versichert, die gute alte Aktionskunst Fluxus sei heute relevanter denn je, radelt der Konzertgänger mit vorsichtiger Skepsis gen Schillertheater. Dabei ist seine persönliche Bilanz des diesjährigen Infektion! Festivals für Neues Musiktheater, das sich nicht allzu streng dem Thema Fluxus widmet, durchaus erfreulich: Waren John Cages Europeras durchwachsen, so hat ihn doch Footfalls/Neither von Samuel Beckett und Morton Feldman nachhaltig verzückt; aber daran war gar nichts Fluxushaftes.

Featured imageAuch am Schillertheater ist eigentlich nichts Fluxushaftes. Um Atmo zu schaffen, steht eine traurige Installation vor dem Haus. Im Flur der Werkstatt sind die Wände (rund ums Rauchen nicht gestattet, Ordnung muss sein) bemalt, beklebt und beschrieben, mit einer Mischung aus penetranter Infantilität und theorieseliger Großsprecherei, die im Konzertgänger einen beklemmenden Flashback in seine unseligen Uni-Zeiten hervorruft. Vielleicht ein persönliches Problem; vielleicht trübt auch das lange Rumstehen im stickigen Flur vor verschlossener Tür seine Stimmung.

Er ist jedoch nicht der einzige Miesepeter: Etwa 90 Sekunden nach Einlass verlassen die ersten Besucher die Vorstellung, was vielleicht ein wenig borniert ist. Aber man hat tatsächlich das Gefühl, nun wirklich alles gesehen, gerochen und gehört zu haben: den Podiumsaufbau mit herumkasperndem Mitspielregisseur (Akuluku! Akuluku!), das beißende Räucherstäbchen-Odeur, die herumgetragenen Didgeridoos, sogar umarmt wird man. In großer Kunst geht es ja immer um Grenzerfahrungen, Fremdschämen ist auch eine.

Das interaktiv miteinbezogene Publikum schaut apathischer als in jeder Puccini-Oper zu, was ihm da vorgesetzt wird: ein Theater der Nicht-Repräsentation, bei welchem die Mitwirkenden „als sie selbst“ auftreten, soll Stockhausen in seiner Happening und Eventpartitur geschaffen haben. So offen der Anfang, so konventionell das Ende, mit Klatschen und Verbeugen. Der Abend hat ja durchaus seine Reize gehabt: Der Schauspieler Günter Schanzmann lallt zahnlos herum, bevor er sich sein Gebiss wieder einsetzt, um aus Sophokles‘ Antigone zu deklamieren. Die Fassbinder-Veteranin Irm Hermann hat eine geradezu auratische Präsenz, auch wenn sie sich ungelenk bewegt wie eh und je und immer noch nicht richtig sprechen kann (Zukumpft). Der 85jährige Gerhard Rühm sitzt reglos im Sessel, ehe er kurz vor Schluss ein Lebenszeichen in Form einer witzigen Gedichtlesung von sich gibt; übrigens der einzige Moment, an dem im Saal gelacht wird. Auch einen gesichtstätowierten Leierkastenmann und einen ulkigen Roboter gibt es. Eine Sängerin zerschlägt mit einem Beil keinen Konzertflügel, sondern einen Umzugskarton, vielleicht eine Budgetfrage. Schließlich tritt auch eine sympathische Kreuzberger refugee-Band mit Trommel und Ukulele auf und bietet Schunkellieder mit antirassistischen Statements dar, denen niemand wird widersprechen wollen (solange diese Zustimmung keinerlei Konsequenzen nach sich zieht); immerhin können diese Jungs und Mädchen sich richtig bewegen, vor allem der Rapper.

Dass das alles weder witzig noch erkenntnisfördernd ist, ist nicht das Problem. Was man zunehmend vermisst, ist Stockhausens Musik, auf der das alles basieren soll. Erst gegen Schluss gibt es längere Passagen der großartigen Kontakte-Komposition, mit Adrian Heger im Leben des Brian-Fummel am Klavier, Ni Fan am beeindruckenden Schlagzeug-Arsenal und Sébastien Alazet als Tontechniker, der magische live-elektronische Klänge in den Raum steigen und um die Köpfe des gemarterten, nun dankbaren Publikums schweben lässt.

Ungeheuer kraftvolle Musik ist das! Auf das Getue rundherum könnte man verzichten. Relevanter denn je? Kann weg.

Weitere Vorstellungen am 25. und 27. Juni

Zur Staatsoper

19. Juni 2015 – Hin und her, hin und her: Samuel Beckett/Morton Feldman und John Cage in der Staatsoper

Nach einer Woche Entzug zieht es den Konzertgänger in zwei Opern nacheinander: erst Feldman/Beckett im großen Saal des Schillertheaters, danach John Cage in der Werkstatt – beides im Rahmen des Festivals Infektion!, das bis zum 12. Juli Musiktheater von Stockhausen bis Hosokawa präsentiert: Ausgerechnet die uralte Tante Staatsoper stemmt einen ganzen Monat lang Neues, ein Alleinstellungsmerkmal unter Berlins großen Musikhäusern.

Samuel Beckett/Morton Feldman: Footfalls/Neither

Ein mehrtägiger Familienbesuch hat den Konzertgänger in jene düstere Stimmung versetzt, in der man Samuel Beckett zu genießen versteht. Der Geist des hageren Iren wandelt noch Featured imagedurchs Schillertheater, das ordentlich besucht ist; der famos günstige Festivalpass, mit dem graumelierte Neue-Musik-Freunde sich wieder als Studenten (oder Studierende) fühlen dürfen, trägt sicher dazu bei. Vor Feldmans Neither gibt es Becketts Sprechstück Footfalls: ein hochartifizielles Pflegedrama, in dem eine auf schummriger Bühne hin und hergehende vereinsamte Frau (Julia Wieninger) aus sich selbst die Stimme ihrer gebrechlichen Mutter hört, alles hochgradig depressiv, aber sprachmusikalisch betörend, auch auf Deutsch: Schwären, Kandelaber, stracks kommen da vor, und das hin und her, hin und her der nicht mehr jungen Tochter gewinnt große Klangkraft.

Um Frauen und Türen geht es in Neither, das Morton Feldman auf der Basis eines Becketttextes komponiert hat: Die Frau hat sich nun vervier- und -vielfacht und rennt gegen sich öffnende und schließende Türen. Durch die fällt verheißungsvolles Licht auf die schummrige Bühne, aber die vervielfachte Frau gelangt niemals durch eine dieser Türen. Eine der Spiegelungen (Laura Aikin, großartig) beginnt zu singen, zunächst minutenlang einen einzigen Ton auf tausend Weisen; im Lauf des Stücks weiten sich Tonumfang und Dynamik in alle Richtungen. Der Text, den Beckett 1976 für Feldman auf eine Postkarte schrieb, bleibt trotzdem unverständlich, aber Bild und Musik erzählen alles: Die Laufphasenverschiebungen der hin und her eilenden Frauen entsprechen den sich wiederholenden, dabei anschwellenden und gegeneinander verschiebenden Klängen; viele Cluster, dann auch sehr einfache tonale Figuren. Ein hinzutretender Harfenton wird zum packenden Ereignis. Als Zuhörer wird man schläfrig oder aber hellhörig; der Konzertgänger pendelt zwischen beidem hin und her, hin und her. Es ist traurig-komisch und überwältigend schön, wie die ganze monotone, berauschende Inszenierung von Katie Mitchell, die schon Frank Martins Tristan-und-Isolde-Oratorium Le vin herbé als faszinierende Zwischenwelt auf die Bühne des Schillertheaters gebracht hat.

John Cage: Europeras 3 & 4

Handfester geht es danach bei der B-Oper in der Werkstatt zu, auch heiterer: 200 Jahre lang haben uns die Europäer ihre Opern geschickt. Nun schicke ich sie alle zurück! So beschrieb Cage seine Europeras, von denen zwei (von sechs) aus dem Jahr 1990 in der Werkstatt des Schillertheaters gespielt werden. Man sitzt dort in einer heterotopischen, das Publikum interaktiv miteinbeziehenden Raumstruktur (Staatsoper-Magazin), anders gesagt sehr unbequem. Dass man sich in der Werkstatt nie anlehnen kann, senkt den Altersschnitt des Publikums wahrscheinlich mehr als das löblich abseitige Repertoire.

Aber von wegen abseitig: Cages krude Oper besteht aus lauter Evergreens aus Opas Plattensammlung, Mozart, Verdi, Wagner, nur eben alle gleichzeitig. Fünf Sänger, zwei Klaviere, einige Plattenspieler und das berühmt-berüchtigte Tonband präsentieren die Klassiker wild durch-, über- und nebeneinander. Dazu gelegentliche Stroboskopblitze, und die pausierenden Sänger gehen hin und her, hin und her. Lustig, wenn plötzlich Papageno hinter einem steht oder die schöne Sängerin ein iPhone aus dem Dekolleté zieht, um nachzulesen, was sie jetzt singen soll; und vor allem sehr beeindruckend, wie die Sänger unbeirrt vom Chaos ihre Arien ausführen. Aber klanglich kommt nicht viel herum, außer dass es sehr laut ist. Das Publikum reagiert mit Kennerlächeln und fröhlichem Opernraten, was doch kaum Sinn der Sache sein kann. Nach 30 Minuten setzt sich der Konzertgänger nach nebenan in die schöne Schiller-Bar, dort klingt es sehr reizvoll, auch leiser, und man sitzt gemütlicher, hört zugleich die angenehmen Polizeisirenen von der Bismarckstraße. Bei einem Bier lässt sich darüber sinnieren, dass für Cage die Geschichte der Oper mit dem 19. Jahrhundert zu Ende ist: kein Berg, Schostakowitsch oder Britten, geschweige denn Henze oder Ligeti. Sind das keine Europeras?

Am Ende des ersten Teils teilt die Abendspielleitung mit, gleich werde es wesentlich ruhiger und intimer; man hat wohl an den letzten Abenden mit der Pause üble Erfahrungen gemacht. Wer nicht heimfährt, geht in die Bar. Haben Sie trockenen Rotwein? fragt eine schicke Dame; Oper ist nicht mehr Schickimicki. Die lesehungrige Barfrau legt als Kaffeehausmusik eine Stockhausen-CD ein.

Trotz der Ansage ist man nach der Pause doch ziemlich unter sich, nur die Plätze an den Wänden bleiben begehrt, zum Anlehnen. Auch in Europeras 4 viel Verdi und Wagner, aber ganz ausgelichtet, fast kammermusikalisch: zwei Sänger (Carola Höhn und Arttu Kataja mit eindrucksvoller Perücke), ein oft nahezu unhörbares Klavier, ein antikes Grammophon und viel Stille führen tatsächlich noch zur erhofften Klangerfahrung. Es kommt zu innigen Momenten, O du mein holder Abendstern aus dem Tannhäuser etwa und dazu das Quietschen der Grammophonkurbel. Am Ende spielt das Klavier eine wunderschöne Paraphrase der verzweifelten Arie von König Philipp aus Don Carlo, ehe die Europeras in der schrillen, beschleunigten Ferne des Grammophons versinken. Da ist John Cages Musik wieder viel mehr als ein Witz mit Überlänge.

Footfalls/Neither

Europeras 3 & 4