Konzertgängers TOP DREI im Juni… and the worst

WAS DEN KONZERTGÄNGER IM JUNI AM MEISTEN BEGEISTERT HAT:

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Akademie für Alte Musik im Konzerthaus (1. Juni)

Weil George Onslow kein französischer Beethoven, aber trotzdem großartig ist. Weil Schuberts Oktett dem Hörer 60 Minuten Unendlichkeit schenkt. Und weil die Akademie für Alte Musik himmlische Musik nicht nur historisch korrekt, sondern vor allem himmlisch schön spielt. > Lächelnd: Akademie für Alte Musik mit George(s) Onslow und Schubert

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Deutsches Symphonie-Orchester mit Roger Norrington und Martin Helmchen in der Philharmonie (10. Juni)

Weil gut gespielter Haydn gewinnbringend investierte Lebenszeit ist. Weil Martin Helmchen und Mozart ein Traumpaar sind. Weil Vaughan Williams‘ Sechste ein unbekannter Gigant ist. Und weil Roger Norrington Witz und Kompetenz vereint wie niemand sonst. > Atemberaubend: DSO und Roger Norrington mit Haydn, Mozart und Vaughan Williams

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Footfalls/Neither von Samuel Beckett und Morton Feldman in der Staatsoper (19. Juni)

Weil Becketts Beitrag zum Thema häusliche Pflege hinreißend düster ist. Weil Morton Feldman lauter Nichtse in Klangzauber verwandelt. Und weil Katie Mitchell das alles wunderschön inszeniert: die Welt als Frauen und Türen. > Hin und her, hin und her: ‚Footfalls/Neither‘ von Samuel Beckett und Morton Feldman in der Staatsoper


… UND WAS DER KONZERTGÄNGER LIEBER VERPASST HÄTTE:

Originale von Karlheinz Stockhausen in der Werkstatt der Staatsoper

… und zwar nicht wegen, sondern trotz Stockhausen. Schade um die schöne Musik. Akuluku, akuluku. > Fremdschamdlos: Karlheinz Stockhausens ‚Originale‘ in der Staatsoper

1. Juni 2015 – Lächelnd: Akademie für Alte Musik mit George(s) Onslow und Schubert

Onslow, heißt es seit kurzem (fast) überall, Georges Onslow! Manchmal auch George Onslow, das ist bei diesem französischen Sohn eines englischen Adligen unklar. In Venedig gab es im Frühling sogar ein ganzes Onslow-Festival! Der Konzertgänger hat das Gefühl, als einziger Mensch auf der Welt noch nie Musik von George(s) Onslow gehört zu haben. Aber in Berlin kann man das zum Glück schnell ändern, ganz ohne Youtube:  Die Akademie für Alte Musik stellt Onslow, kombiniert mit Schubert, im Kleinen Saal des Konzerthauses vor.

Featured imageDass Onslow (1784-1853) immer wieder als der französische Beethoven bezeichnet wird, sollte man sofort wieder vergessen, auch wenn er wie der Meister ertaubte, allerdings nur auf einem Ohr und durch eine Gewehrkugel. Die Akademie spielt nicht das Quintett Nr. 15 c-Moll De la balle (Kugelquintett), sondern ein spätes Nonett. Denn obwohl er auch vier Symphonien und mehrere Opern geschrieben hat, ist Onslow, wie man erfährt, vor allem ein Meister der Kammermusik. Trotzdem hat er nicht mal ein eigenes Kapitel im berühmt-berüchtigten altfränkischen Reclam-Kammermusikführer, der im straffen 50er-Jahre-Geist noch das abseitigste oder sperrigste Werk auf eine ordentliche Sonatensatzform hinunterbiegt. Wer wird sich wohl ein unbekanntes Nonett anhören, wenn heutzutage schon die bekannten Nonette (Louis Spohr) unbekannt sind?

Mehr Leute, als man denkt! Jedenfalls mehr als das versprengte Häuflein Islamkritiker, die als „Bärgida“ den Verkehr rund ums Kanzleramt behindern; mit dem Fahrrad kommt man trotzdem problemlos zum Konzerthaus. Der Kleine Saal ist ordentlich gefüllt, umso erfreulicher, als die Akademie für Alte Musik das Programm an drei Abenden spielt – was der Musik entschieden besser bekommt, als es ein Abend im Großen Saal täte.

George(s) Onslows Nonett a-Moll op. 77 (1848) würde bestens in den Reclam-Führer passen, denn wie man sofort hört, ist es schulbuchmäßig wiener-klassisch-sonatenhaupt-viersätzig aufgebaut, mit energischem Hauptthema, lyrischem Seitenthema usw. Das ist aber ziemlich wurst, denn dem Nonett fehlt jede klassizistische Betulichkeit und vor allem die deutsche Ängstlichkeit vor dem großen Beethoven, es hat den begeisternden Schwung einer hochkarätigen Kaffeehaus-Zigeuner-Jazzkapelle: Musik, die lächelt, ohne doof zu sein. Der ungediegene, rauhe Schwung der neun historisch informierten Musiker (4 Streicher mit schwangerer Primaria, 4 Holzbläser, Horn) tut dieser coolen Musik gut, die glattgebügelt vom Klassikradio missbraucht werden könnte. Besonders schön der Variationensatz an dritter Stelle, in dem die Streicher und Bläser bald einzeln hervor, bald als freundliche Blöcke einander gegenüber treten. Es gibt packende dramatische Bewegung und rührende Momente des Innehaltens, aber alles ohne Brahms-Schwere. Man sieht die Musiker viel lächeln, offenbar macht es glücklich, Onslow zu spielen. Onslow zu hören macht auch glücklich. Wie konnte diese Musik je in Vergessenheit geraten? Sie ist einfach unter die Räder des Fortschritts-Zwangs geraten; aber man kann sie wieder hervorziehen, völlig unversehrt. Mehr Onslow, bitte!

Bei Schuberts Oktett F-Dur op. 103 D 803 (1824) dann zunächst weniger Lächeln, mehr selige Blicke. Wenn Onslow im besten Sinn kammermusikantisch ist, klingt Schuberts Oktett teilweise nach transkribierter Symphonie, was es ja in gewisser Weise auch ist: …überhaupt will ich mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen, schrieb Schubert über seine „späte“ (im Alter von 27 komponierte!) Kammermusik. Hat das je einer orchestriert, so wie Schönberg das Klavierquartett von Brahms? Es bietet sich an, wäre aber schade drum, denn es ist ja weit mehr als ein Anbahnungsversuch. Angesichts des strahlenden Klarinettenklangs, auch beim schönen Horn-Moment gegen Ende des ersten Satzes fragt man sich, warum Schubert sonst die Bläser so vernachlässigt hat. Im Adagio ein Hauch von Ave Maria; im Scherzo kehrt dann das Lächeln auf alle Gesichter zurück, beim Konzertgänger sogar Freudentränen. Der dräuende Beginn des sechsten und letzten Satzes ist dann nochmal ganz große Symphonie. Einziges Manko des reinen Schubertglücks: dass diese Unendlichkeit nach 60 Minuten zu Ende ist.

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Akademie für Alte Musik

31. Mai 2015 – Fetzig: Schubert und Schostakowitsch von den Berliner Philharmonikern und Bernard Haitink

In Berlin sind jeden Tag Musikfestspiele. Man kann morgens zu András Schiff gehen, nachmittags zum Mitsingkonzert des Rundfunkchors (oder eine Stippvisite bei der Familie machen) und abends zu den Berliner Philharmonikern unter Haitink.

Bernard Haitink dirigiert statt des ursprünglich geplanten Lorin Maazel, der vor einem knappen Jahr verstorben ist. Dem Andenken Maazels ist, wie es sich gehört, das Konzert gewidmet; im Mittelpunkt steht allerdings keine weihevolle Trauermusik, sondern ein drastisches Todes-Werk, Schostakowitschs letzte Symphonie.

Zuvor gibt es aber Franz Schuberts 5. Symphonie in B-Dur. Die Philharmoniker spielen sie in kleiner Besetzung, mit durchgehend zartem Klang, den man noch lieber im Kammermusiksaal hören würde – die herrlich leichte Flöte verliert sich etwas im Saal. Angeblich eine sehr helle Symphonie, fallen doch schon im Kopfsatz die kurzen Moll-Einwürfe auf. Im zweiten Satz wirkt die Musik fast zerbrechlich; in den Bassfiguren scheint sich etwas sanft Bedrohliches heranzuschleichen. Aber es kommt erstmal nicht, auch nicht im zart grimmigen Moll-Scherzo (das sehr deutlich nach dem Menuett aus Mozarts g-Moll-Symphonie klingt). Bei Schostakowitsch denkt man schließlich daran zurück, wie an die Flöte im Kopfsatz, es wirkt im Nachhinein wie eine Vorahnung.

Wenn Schuberts Fünfte trotzdem Aufwärts-Musik ist, zumal im ersten und vierten Satz, dann ist Schostakowitschs 15. Symphonie Abwärts-Musik hoch zehn. Sie ist klassisch viersätzig, aber dieses Gerüst ist ein Skelett. Der erste Satz, der mit Glöckchen und Flöte beginnt, ist selbst für Schostakowitschs Verhältnisse ein koboldhaftes Feuerwerk von Sarkasmen, nicht erst mit dem bizarren Hereintröten von Rossinis Wilhelm Tell-Ouvertüre. Nach all dem spaßigen Grauen, den gehetzten einsamen Fiedeln und Pfeifen inmitten des Fanfarenschnarrens und Marschierens ist der Konzertgänger im Grunde erledigt.

Dabei folgt nun erst der zweite Satz, mit dem verglichen das Lied von der Erde ein heiteres Frühlingsständchen ist. Ein schwarzer Bläserchoral tritt im Wechsel zum klagenden Cello in gequält hoher Lage. Später „kommunizieren“ die Flöten mit Posaune und Tuba. Die Streicher verirren sich in Momente von Zwölftönigkeit. Tausend Formen des Stillstands, trotz eines kurzen Tutti, das auch bloß ins Grauen führt; am Ende kommt ein morbides Ticken dazu, ein gruseliger Dur-Akkord, Klingklang von Celesta und Marimbaphon, ein letztes Posaunenkeuchen.

Featured imageNach dem dritten Satz, in dem Fiedel und Klarinette sogar den Totentanz auf der Stelle treten lassen, beginnt der vierte Satz mit der Todesverkündigung aus der Walküre. Die Klangfarben changieren zwischen Pechschwarz, Rabenschwarz und Schwarz-wie-die-Nacht, bis zum zappendusteren Schlusstänzchen von Trommeln, Triangel, Glockenspiel, Xylophon, Kastagnetten: Knochenklappern und Totenglöckchen, vielleicht auch eine Herz-Lungen-Maschine, wie angesichts von Schostakowitschs Krankheit vermutet wurde. Wie Totenglöckchen klingen auch die bimmelnden Handys aus dem Publikum, vom Todesröcheln zwischen den Sätzen zu schweigen. Minimal Music auf Sowjetisch! Aber das ist kein Einwand, sondern Bewunderung für Schostakowitschs manisch reduziertes Spätwerk. Diese Musik ist ja die Bilanz eines grauenvollen halben Jahrhunderts, Stalin in der Erinnerung, Herz-Lungen-Lähmung in der Gegenwart: folgerichtig, dass da auch die Musik zum Gerippe wird, an dem nur noch alle möglichen Fetzen hängen.

Seltsamer, fast geschmackloser Nebeneffekt: Dass die Musik so zerfetzt ist, gibt vielen Philharmonikern Gelegenheit, solistisch zu brillieren. Virtuosen von der Tuba bis zur Piccoloflöte! Der Philharmonikerglanz ist für diese Schwärze einmal gut verwendet. Haitink am Pult entfaltet die schwarze Landschaft souverän.

Auf dem Heimweg radelt der Konzertgänger am Landwehrkanal heim, nur für den Fall, dass einige unbedarft in dieses Konzert geratene Touristen sich ins Wasser gestürzt haben. Eine laue Sommernacht, keine Wasserleichen zu sehen, es sind wohl alle noch etwas trinken gegangen.

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