Zu den sieben Plagen der Musikkritik gehört (neben diesem Werthers-echte-farbenen Vokabular von konzis bis luzide und irisierend bis saftig) die ewige Herumkauerei, wie viel Publikum da war. Oder eben nicht da war. Da in diesem Blog mehr Ausdruck der Empfindung als Kritik sein soll, hier nur so viel: Dieses tränenreiche englische Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Michael Francis hätte full house verdient. Oder wie Opa Werther sagen würde: fulminant!
Egal an welcher Stelle in einem Programm The Unanswered Question (1908) des Neu-Engländers Charles Ives erklingt, dieses so tiefgründige wie urkomische Werk überwölbt jedes Konzert mit Unsagbarkeits-Aura. Das RSB schichtet die drei Ebenen des Werks sicher, aber luftig-duftig. Der Dirigent Michael Francis lässt die Streichergruppe ihren unsagbar schönen Klanggrund ganz allein verwalten und stellt sich hinter die Streicher. Dort koordiniert er die vier Flöten, die immer unsäglicher der Frage ausweichen, welche die Trompete aus der endlosen Weite des Alls dem Menschen stellt.
Die Weite des Alls ist hier wohl Block C oder D. The Unanswered Question kann der Konzertgänger nur mit geschlossenen Augen hören, da schaut er nicht nach, wo der Instrumentalist (Florian Dörpholz) steht. Der philharmonische Raum lässt das Ives-Fluidum sich viel eindrucksvoller entfalten als die akustisch schwammige Betonkathedrale, in der Berlins anderes Rundfunkorchester es neulich versuchte.
In diesem Konzert sind Tränen in der Sphärenharmonie. Erstaunlicherweise sogar in der eröffnenden Sinfonie Nr. 104 D-Dur HOB I:104 von Joseph Haydn: mehr als ein Hauch Lacrimae in den leisen Bestandteilen der langsamen Einleitung. Michael Francis, optisch eine Mischung aus Prinz Harry und Benjamin Britten, dirigiert elegant, fast gediegen, aber mit Witz und Esprit und nobler Melancholie und Understatement. Die verzögerten Nanu-Seufzer der Holzbläser im Trio wirken mindestens so tiefsinnig-witzig wie Ives. Im Finale geht der erste Bratscher vor Freude ab wie Schmidtchens Lumpi. Aber Francis lässt die Freude nicht ins korybantische Kraut schießen, beschert uns schon gar keinen heiteren Kehraus (auch eine der sieben oder wohl eher 777 Plagen der Musikkritik), sondern auch hier gewisse melancholische Momente.
Die in Benjamin Brittens herbstlichen Lachrymae (1950/1976) zum viertelstündigen Grundzustand werden. Nur Streicher tragen in diesen Reflexionen über Motive von John Dowland das Fragen und Singen der Bratsche. Die hat hier nicht, wie die Trompete bei Ives, mit unbotmäßigen Holzreaktionen zu tun; nur mit der roten Schleppe ihres Kleids unter den pfeillangen Stiletti muss die Solistin Hwayoon Lee kämpfen. Aber nur beim Hereinkommen; außerdem sieht es verdammt gut aus; was hier nur erwähnt wird, da Hwayoon Lee noch besser klingt als aussieht. Sie folgt den Tönen ihrer Viola von Gasparo da Saló (1590) bis ins Unhörbare, sogar im unendlich langen Nachzittern der Hand im Pizzicato-Abschnitt. Eine sehr ernsthafte Musikerin, die tief in sich und die Musik versunken scheint; höchstens hier und da etwas zu tief, aber sie kommuniziert wohl mehr via Ohren als via Augen mit Dirigent und Orchester. Von dieser Bratschistin, die eben u.a. mit Anne-Sophie Mutter und Daniil Trifonov das Forellenquintett aufgenommen hat, wird man sicher noch viel hören.
Keine Träne im Knopfloch, sondern ein Weltmeer von Lachrymae dann in Ralph Vaughan Williams‘ 6. Sinfonie e-Moll: heftigste Erschütterung und Durchrüttelung statt stillen Schwermuts. Der grandiose Sinfoniker Vaughan Williams komponiert mit vergleichsweise konventionellen Mitteln; aber was heißt schon konventionell? Auch Schostakowitsch, an den man hier oft denken muss, hat mit sogenannten konventionellen Mitteln extreme Musik geschaffen.
Ob die Sechste eine apokalyptische Kriegsmusik ist, wie es die Heftigkeit des Ausdrucks und die Entstehungszeit 1944 bis 47 nahelegen, sei dahingestellt. Sehr berührend, wie bei Vaughan Williams im loderndsten Inferno immer wieder das Bedürfnis nach einer jenseitigen Vision (Harfen-Episode im ersten Satz) oder der menschlichen Stimme (Englischhorn im zweiten Satz) durchkommt.
Aber am eindringlichsten, ja kaum erträglich ist der stille Finalsatz, ein sowas von unheiterer Kehraus, der hier einfach Epilogue heißt. Endloses Verlöschen wandert da durchs Orchester, von hauchzarten hohen Streichern bis zur die Kehle zuschnürenden Parallelbewegung von Harfe und Bassklarinette.
Mit welcher Selbstverständlichkeit sämtliche Orchestergruppen des RSB und die hervortretenden Solisten (etwa die Cellistin Konstanze von Gutzeit) glänzen, tritt fast in den Hintergrund angesichts der unmittelbaren, erschütternden Wirkung dieser großen Sinfonie. Sie sollte ab sofort dem Kanon der seismographischen Meisterwerke des 20. Jahrhunderts angehören. Hundert11prozentige Zustimmung zu dieser Forderung von Steffen Georgi im Programmheft! Nach unserer Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich. Wirklich ein irisierendes englisches Konzert am 9. November.
Nächste RSB-Konzerte am 17. und 26. November.
Sehr schön zu lesen! Der Leser kann nicht anders als den Nicht-Besuch bedauern. Der Einsatz für R. V. Williams ehrt die Berliner Rundfunkorchester. Zu LUZIDE und KONZIS muss es jeweils eine hinreißende Stelle bei Adorno geben (Anfang/Mitte 1920er Jahre wette ich). Meist ist ja Adorno schuld.
Ah, die Stelle kenne ich nicht. Adorno ist bei mir im Giftschrank, und den Schlüssel zum Giftschrank habe ich weggeschmissen. (Spätfolgen eines vermurksten Philosophiestudiums.)