Drei-Generationen-Konzert-hoppend: Vom Konzerthaus über die Komische Oper in die Philharmonie

Ich hatte mir vorgenommen, mir als Konzertgänger und den Meinen keine eskalierenden Terminballungen mehr aufzuhalsen: Aber am vergangenen Wochenende war ich doch wieder in drei Konzerten innerhalb von 21 Stunden. Einmal mit dem alten Vater, einmal mit dem kleinsten Söhnchen, einmal mit der Frau. Samstagabend Konzerthaus, Sonntagfrüh Komische Oper, Sonntagnachmittag Philharmonie.

Konzertgängers Wochenende: von einem Konzert zum nächsten
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Ultraschall: Sarah Nemtsov und Geschwister Widmann zur Eröffnung

Eröffnungskonzert von Ultraschall, des alljännerlichen Neue-Musik-Festivals, in dem ganz altmodisch die Musik im Mittelpunkt steht und nicht Diskurse, Desen, Demperamente. Das Deutsche Symphonie-Orchester kommt in den rbb-Sendesaal, vor dem sich die von allen Berliner Konzerthäusern schlechtesten Fahrradständer befinden, nämlich gar keine (angesichts der gigantischen Parkplatzlandschaft auf und um die circa 150spurige Masurenallee fast schon eine Leistung). Aber musikalisch fängt das Festival prima an; zumindest die ersten 18 Minuten.

Reich mir das halbleere Glas! (Quelle: Wellcome Library)
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Arki abubu: Jörg Widmanns „Babylon“ an der Staatsoper

Kriegenburg, Widmann, Sloterdijk (v.l.n.r.) besichtigen eine Oper

Die Gedenkminute für den gestorbenen Michael Gielen vor der Premiere ist nicht nur die hustenloseste Minute der ganzen Saison, sondern auch der konzentrierteste Klang des Abends. Dabei wird die Stille ja auch später beschworen im wohl aufregendsten Auftritt überhaupt in Jörg Widmanns exuberantem Spektakulum Babylon, wenn das weite und schöne Gewölbe der himmlischen Stimme von Marina Prudenskaya als Euphrat im wallenden Flutenkleid sich an den Moment nach dem Rückgang der Sintflut erinnert. Da erschrickt der Himmel selbst vor der eigenen Tat, angeohrs dieser Stille, gleich einem Bett, in dem ein Kind gestorben ist. Glasharmonika und Akkordeon machen den Orchesterklang schwerelos. Ein wirklich anrührender Moment innerhalb einer Flutwelle von Sound und Gerede, die alles, was anrührend sein könnte, zu verschlucken droht.

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Rattle-Abschieds-Countdown ⑤❹③②①: Widmann, Lutosławski, Brahms

Simon Rattle hält die Berliner Philharmoniker am Abschiedsrotieren, einen Tag nach Bru folgt Bra. Vor der Philharmonie hört man noch immer das Wummern der Bässe, die der Afd gezeigt haben, was Berlin von ihr hält. In Block B sitzt ein junger Mann, der bis zum Konzertbeginn auf dem Smartphone Malen nach Zahlen spielt. Auf dem Programm stehen drei Tänze auf dem Vulkan: Ein Stück heißt so, zwei sind es. Weiterlesen

Labyrinthesk: Wiedereröffnung der Staatsoper Unter den Linden mit Daniel Barenboim und Maurizio Pollini

Vielleicht das Schönste: Das erste Abokonzert in der vortags mit Pomp & Schmackes wiedereröffneten Staatsoper Unter den Linden fühlt sich nicht an wie eine zweite Pomp & Schmackes-Wiedereröffnungs-Sause. Sondern wie ein Abokonzert. Gut so, Kunst als Alltag, nicht als Staatsaffäre.

Natürlich schaut man sich dennoch vorher neugierig um. Tritt vorsichtig auf und traut sich gar nicht, irgendwohin zu fassen, nachdem man das mit den 400 Millionen gelesen hat. Nicht dass man achtlos irgendwohin patscht, und schon ist sie wieder weg, diese halbe Sekunde Extra-Nachhall! Über die das halbe Land sich mokiert, die aber für einen Musikliebhaber die Welt bedeutet. Weiterlesen

Segnend: SWR Symphonieorchester spielt Mark Andre und Luigi Nono

Neunmalschräge Programmgestaltung des SWR Symphonieorchesters beim Musikfest Berlin: von Renaissance-Madrigalen über einen romantischen Nachtfetzen bis zu einem seriellen Klassiker und einer kaum zu hörenden Jenseitssuche.

Auch wenn das Konzept nicht ganz aufgeht, wirds ein gesegnetes Konzert, weil zwei fesselnde Werke dabei sind. Mark Andre und Luigi Nono.

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5.3.2017 – Hellwach: Barenboim & Co eröffnen den Pierre-Boulez-Saal

kand-3Sind die eigentlich alle ausgeschlafen? Am Sonntag um 11 Uhr gibt es das Konzert zur Eröffnung des neuen Pierre-Boulez-Saals zum zweiten Mal, keine zwölf Stunden nach dem Ende des ersten am Samstagabend. Und man wird ja wohl kaum direkt danach zu Bett gegangen sein.

Daniel Barenboim insonderheit traut man es zu, dass er neben der verdienten Feier gleich wieder etwas gefundraist hat für einen neuen noblen Zweck. So wie er es zugunsten der Barenboim-Said-Akademie getan hat, in der schon seit einem halben Jahr Stipendiaten aus Israel und arabischen Ländern miteinander studieren, kommunizieren, musizieren. Den neuen Konzertsaal gab’s obendrauf, mit dankenswerter Gratis-Unterstützung des Architekten Frank Gehry und des Akustik-Gurus Yasuhisa Toyota. Weiterlesen

21.2.2016 – Apocalyptique: Abgrund der Möbel für Messiaen im Konzerthaus

Eine pünktlich um 21 Uhr piepsende Armbanduhr erinnert uns im Lobpreis der Ewigkeit Jesu (Louange à l’Éternité de Jésus) an das, was wir fast vergessen haben: dass wir uns physisch noch im Diesseits der Zeit befinden. Es ist nur ein Konzert. Aber was für eins: das Quatuor pour la fin du temps von Olivier Messiaen in Luxusbesetzung mit Jörg und Carolin Widmann, Alban Gerhardt und Momo Kodama.

Das Festival Frankreich, das am Freitag im Konzerthaus eröffnet wurde und bis zum 28. Februar dauert, wagt am Sonntag einen besonderen Spagat: nachmittags bunter Kindertag mit Carnaval des animaux, abends Messiaens gläserne Endzeitklänge, uraufgeführt 1941 im Kriegsgefangenenlager bei Görlitz – mehr zur Entstehungsgeschichte hier. (Am nächsten Wochenende bietet sich zum Abschluss des Festivals die Chance, Kind und Messiaen zusammenzubringen: Obwohl keine Familienveranstaltung, sondern ein normales Symphoniekonzert, ist Messiaens großes Turangalîla-Spektakel garantiert (schul)kindertaugliche Symphonik.)

Dem Quatuor eilt ein Ruf wie der siebte Posaunenhall voraus, dabei ist es unmittelbar zugängliche Musik, im 5. und 8. Satz sogar an der Grenze zum Kitsch. Die Zuhörer (unter ihnen Piotr Anderszewski, der am Montagabend ein Klavierrezital im Kammermusiksaal geben wird, natürlich nicht ohne den Konzertgänger) würden den Kleinen Saal des Konzerthauses berstend füllen. Das Konzert findet aber im Großen Saal statt – und doch sitzt man dichtgedrängt: Die Musiker spielen um 180 Grad gedreht, in Richtung Orgel, das Publikum sitzt nur auf und über dem Podium. Von dort schaut es hörend in den leeren Saal – und es stellt sich beim Anblick dieses Abgrunds der Möbel das Gefühl ein, ins Ende der Zeit zu blicken. Zum leeren Raum wird hier das Ende der Zeit. Eine faszinierende Idee, für die man die harte Holzbank vor der Orgel gern in Kauf nimmt.

Auch akustisch funktioniert die Inversion des Saals: Wenn man Jörg Widmanns solistischer Klarinette im 3. Satz Abîme des oiseaux (Abgrund der Vögel) zuhört, fragt man sich, ob man in diesem heiklen Saal schon je so kristallklare Klänge vernommen hat.

Über Widmanns Qualität als Klarinettist braucht man ohnehin kein Wort zu verlieren. Momo Kodama zaubert gläserne Klänge aus dem Steinway, die einen mitunter zweifeln lassen, ob da wirklich ein irdisches Instrument zu vernehmen ist. Alban Gerhardt spielt das Cello im 5. Satz Louange à l`Éternité de Jésus mit jenem ätherischen Ton, spröde und sanglich zugleich, den Carolin Widmanns Geige im 8. und letzten Satz Louange à l’Immortalité de Jésus aufnimmt und zur Vollendung führt: in immer höhere Regionen begibt sich ihr Ton, bis er durchsichtig wird und sich in Luft auflöst, Luft aus einer anderen Welt. Und wenn die vier Musiker sich in der eröffnenden Liturgie de Cristal und im 7. Satz Fouillis d’arcs-en-ciel (Wirbel der Regenbögen) vereinigen, katapultiert uns allein ihr perfektes Zusammenspiel ins Jenseits der Zeit.

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7. Juni 2015 – Ad aspera: Berliner Philharmoniker und Daniel Barenboim spielen Widmann und Tschaikowsky

Jede Woche Endzeit bei den Berliner Philharmonikern: vor sieben Tagen Schostakowitschs düstere Fünfzehnte, jetzt die Pathétique. Jeweils drei Abende hintereinander, das muss man erstmal seelisch verkraften. Kunstprofis eben; es gibt ja auch Schauspieler, die Abend für Abend den Hamlet spielen.

Aber vor Tschaikowsky gibt es erstmal ein Werk, das auf einer niedrigeren Dringlichkeitsstufe packend ist: Jörg Widmanns Teufel Amor mit dem altklugen Untertitel Symphonischer Hymnos nach Schiller. Der Konzertgänger kann sich auf keine Statistik berufen, aber gefühlt wird Widmann derzeit so viel gespielt wie Mozart und Brahms zusammen; außerdem scheint er so produktiv wie Telemann zu sein, oder zumindest wie Wolfgang Rihm. Diese Präsenz eines Lebenden ist ja im Museumsbetrieb Symphoniekonzert erstmal erfreulich, aber sie weckt natürlich auch Verdächteleien: An zeitgenössischer Musik, die erwiesenermaßen kinderkonzerttauglich ist und die von Philharmoniker-Abonnenten nicht zerhustet wird, kann etwas nicht stimmen.

Featured imageAber der Argwohn ist unberechtigt. Teufel Amor ist zwar ein gewaltiges, auf starken Kontrasten (Hölle und Liebe) basierendes, sehr theatralisches Klangspektakel mit immer neuen sinnlichen Reizen, aber nie lärmend oder breiig: ein stets überschaubares Riesengebilde, rauschhaft, ohne verrauscht zu sein; und wohlstrukturiert, soweit sich das nach einmaligem rauschhaften Hören beurteilen lässt. Es gibt ein paar avantgardistische Signale wie Lachenmann-artiges Pusten in die Klarinette, aber das ist dann zugleich der Grundschlag eines beginnenden Tanzes im ¾-Takt. Kurz vor Schluss erklingen von gitarrig gespielten Geigen eingeleitet schmelzende, fast schwülstige, schließlich jubelnde Klänge: ein Hauch von Per aspera ad astra à la Beethoven Fünf, Brahms Eins, Mahler Zwei und Sieben, Tschaikowsky Eins bis Fünf. Aber der Jubel erstarrt, verstummt, es geht nur noch abwärts wie in… Tschaikowsky Sechs. Strettaartig folgt ein einminütiges Aufbrausen, das Fußstampfen des Teufels, wie Widmann im Programmheft zitiert wird; wie er überhaupt mit Auskünften sehr großzügig ist, was einerseits beim Hören hilfreich ist, andererseits doch sehr einseitig festlegend.

Aber es klingt toll, wäre auch kinderkonzerttauglich. Bei einigen Senioren ist allerdings Hopfen und Malz verloren, ein sympathischer alter Herr klagt in der Pause: „Das Schlimmste ist, dass man für diesen Lärm noch Geld bezahlt hat… aber jetzt kommt Tschaikowsky, da muss man nur den Namen hören und weiß, dass es Spaß macht.“ Derselbe Herr würde wahrscheinlich der heutigen Jugend einen Verlust an musikalischer Bildung bescheinigen!

Barenboim-Programme wirken manchmal zusammenhanglos, aber hier öffnet die Kombination die Ohren: Solcher Lärm wie bei Widmann findet sich bei Tschaikowsky dutzendfach, hinter den schönen Stellen. Und während das Diable amoureux-Sujet bei Widmann etwas angelesen und beflissen wirkt, muss dem seelisch und sozial leidenden Tschaikowsky sein persönlicher Amor wirklich wie der Teufel erschienen sein. Bekanntlich starb er wenige Tage nach der Uraufführung der Pathétique, einer umstrittenen Theorie zufolge wegen seiner Homosexualität zum Selbstmord gezwungen.

Daniel Barenboim schüttelt Tschaikowskys Symphonie Nr.6 h-Moll op. 74 ‚Pathétique‘ natürlich aus dem Ärmel. Richtige Kritiker finden sicher manche Schlampigkeit. Aber ein gemeiner Hörer wie der Konzertgänger staunt über die Qualität und Inbrunst, zu der der angeblich viel zu viel dirigierende geniale workaholic Barenboim die Philharmoniker auswendig dirigierend führt. Schon die wie aus dem Nichts auftauchenden, fast unhörbaren Kontrabässe, die das Seufzermotiv des Fagotts tragen, sind eine Offenbarung. Im zweiten Satz, dem traumverlorenen Walzerding im 5/4-Takt, lehnt Barenboim sich zwischendurch zurück, dirigiert nur wo nötig. Ebenso traumverloren beginnend, dann rasant anschwellend der dritte Satz, weniger ein Scherzo als eine selbstvergessene Eisenbahnfahrt, die am Ende abhebt. Danach brandet verständlicher begeisterter Applaus auf, aber das dicke Ende kommt ja erst, die komplett spaßfreie Zone, der Untergang: das Adagio lamentoso-Finale mit all seinen schrecklichen abstürzenden Aufschwüngen. Als das Tamtam den Begräbnischoral intoniert, die Musik verlischt, gibt es keinen Glauben an ein Morgen mehr.

Aber das Leben muss weitergehen, Barenboim etwa spielt in ein paar Tagen beim Klavierfestival Ruhr späte Schubert-Sonaten.

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