Segnend: SWR Symphonieorchester spielt Mark Andre und Luigi Nono

Neunmalschräge Programmgestaltung des SWR Symphonieorchesters beim Musikfest Berlin: von Renaissance-Madrigalen über einen romantischen Nachtfetzen bis zu einem seriellen Klassiker und einer kaum zu hörenden Jenseitssuche.

Auch wenn das Konzept nicht ganz aufgeht, wirds ein gesegnetes Konzert, weil zwei fesselnde Werke dabei sind. Mark Andre und Luigi Nono.

Nur was soll der Robert Schumann am Anfang? Mag auch Nono, der im Konzert später zu hören sein wird, irgendwas am segenlosen Manfred gefunden haben, findet diese Musik doch kein Verhältnis zum Rest des Abends. Das Dollste an der eröffnenden Manfred-Ouvertüre op. 115 (1848) sind die drei Anfangsakkorde, die tatsächlich wie ein Theatervorhang wirken. Aber ein Traumvorhang, der nicht hochgezogen wird, sondern rasant hochgerissen. Es ist wie in der C-Dur-Symphonie, die ebenfalls mit einem atemberaubenden Versprechen beginnt, das dann aber kaum erfüllt wird. Und dem polternden Klang des SWR Symphonieorchesters unter dem hier etwas sehr zackig dirigierenden Peter Rundel meint man die Gewalt anzuhören, die dem zwangsfusionierten Klangkörper von öffentlich-rechtlichen Kulturzertrümmerern angetan wurde.

Der holprige Auftakt ist aber sofort vergessen, als Mark Andres über (2015) beginnt (das dem Andenken des zerstörten Freiburger SWR Orchesters gewidmet ist). Oder nicht beginnt, zumindest nicht zu beginnen scheint. Auch hier hebt sich ein Vorhang, aber nicht rasant, sondern ewig langsam, und es ist ein Vorhang aus Luft. Jörg Widmann transzendiert seinen Atem durch die Klarinette. Der Vorhang gibt den Blick nicht auf eine Theaterbühne frei, sondern enthüllt den, Achtung, Entwurf eines beseelten und vom göttlichen Pneuma erfüllten Raumes (Martin Wilkening).

Das geschieht in Form einer unendlich scheinenden Steigerung, mit zart in den Klang integrierter Live-Elektronik, wie man sie selten erlebt. Der Konzertgänger geht dem Stück unterwegs einmal verloren, aber es ist lang genug, dass man von einem Powernapping gesegnet wieder einsteigen kann. Nach etwa einer halben Stunde verstummt die Solo-Klarinette und das Orchester verdichtet sich zu einer gewaltigen Klangballung. In tieferem Sinne ekstatisch ist dann jedoch der Schluss, in dem die Klarinette allein den Klang ins Nichts (aber ist es nichts?) zurückführt.

Die spürbar religiöse Atmosphäre wird unterstrichen durch die in der Partitur notierte Segensformel aus 4. Mose 6, 24-26: Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. Die ist nur für die Musiker zu lesen, aber der Hörer erfährt sie im Klang. Eine einzigartig gewaltlose Überwältigung ist das, eine Überwältigung von innen. Ein Werk, das man unbedingt wieder hören möchte.

Sollte oder kann man sich als Hörer bei Mark Andre das Religiöse herausrechnen, wie es sich bei Messiaen manchmal empfiehlt?

Ebenfalls mit großem Gewinn mündet der zweite Teil des Abends in einen Klassiker der Moderne, aus der überschwänglichen und von heute betrachtet auch befremdlichen Zeit, als die neue Musik Neue Musik sein wollte: Herrschaftsanspruch durch Großschreibung. Von Luigi Nonos Il canto sospeso (1955/56) liest man öfter, als man ihn zu hören bekommt. Nonos Vertonung von Zitaten europäischer Widerstandskämpfer und Verfolgter kurz vor ihrer Ermordung durch die Nazis schüttelt einen durch und durch. Man ist fasziniert von der Ausdruckskraft dieser trauernden, schreienden und hoffnungsvollen Musik, die einen so persönlichen Klang hat. Sie bringt einen nebenbei vom Vorurteil ab, serielle Musik wäre nur das Werk von Komponier-Bots.

Und doch verstört diese Musik in ihrem Pathos, das von jeder Sentimentalität frei ist, in ihrer Mischung aus dennoch quasi-religiöser Inbrunst und serieller Technik, die die Worte durch Unverständlichkeit überhöhen will. Zu dieser Irritation eine bezeichnende Anekdote aus Alex Ross‘ The Rest Is Noise:

Als Stockhausen das Stück hörte, gratulierte er Nono, weil er den Text zwar vertont habe, „aber so, als gälte es, dessen Sinn wieder zurückzuziehen aus der Öffentlichkeit, in die er nicht gehört“. Diese Auffassung irritierte Nono; er hatte den Worten, indem er sie dem Verständnis des flüchtigen Hörers entzog, mehr Bedeutung verleihen wollen.

Ein beeindruckendes Mehr an Bedeutung schenkt die Sopranistin Laura Aikin der Musik, die als kurzfristiger Ersatz für die vom Fahrrad gefallene Mojca Erdmann das prima Solistentrio (Mezzosopran Jenny Carlstedt, Tenor Robin Tritschler) komplettiert. Erschütternd, wenn Aikin die letzten Höhen des Abschnitts leb wohl, Mutter, deine Tochter Ljubka geht fort in die feuchte Erde wie mit zugenähten Lippen singsummt.

Das SWR Symphonieorchester und sein sehr kompetenter Dirigent Peter Rundel stemmen imposant diese feingliedrigen großen Dinger: Andre und Nono. Und das SWR Vokalensemble beseelt die dynamisch determinierten Silben des Canto sospeso wunderbar. Da stört einen auch der von etwas sehr gerader Stimmgebung geprägte Vortrag zweier Madrigale von Luca Marenzio und Nicola Vicentino nicht mehr, in der die Wortgestaltungskunst der Renaissance fast seriell klingt. Diese Koppelung mit Nono las sich toll, wirkt dann aber flau. Die schräge Konzeption ist nicht das, was von diesem beeindruckenden Abend in Erinnerung bleibt. Eher ist es die Segensformel, die am Schluss des Canto sospeso steht und auf das Jenseits im Diesseits hofft: ich gehe im Glauben an ein besseres Leben für euch, schrieb die 32jährige Berlinerin Elli Voigt vor ihrer Hinrichtung 1944.

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