Heiligpanisch: Le Concert Olympique spielt Beethovens „Missa Solemnis“

Putzige Idee im Grunde, ein Spezialorchester zu gründen für die scheinbar unspeziellste Musik der Welt: die des meistgespielten Komponisten von Abba bis Zappa, Afghanistan bis Zypern – Ludwig van Beethoven! Aber Le Concert Olympique mit seinem Dirigenten Jan Caeyers überzeugte in Berlin schon mit Tripelistik und Prometheuismus. Zur Missa Solemnis nun ist in der Berliner Philharmonie toute la Belgique anwesend, inklusive des Königspaars Philippe und Mathilde (und von deutscher Seite u.a. Altbundespräsident Gauck). Die Bitte ans Publikum, sich zur Begrüßung der royalen Ehrengäste zu erheben, ist eine harte Prüfung für den insubordinationsgewohnten Berliner. Ob Beethoven aufgestanden wär? (Die Anekdote, dass Beethoven anders als Goethe dem kaiserlichen Hofstaat nicht ausweichen wollte, mag freilich dubios sein.) Aber was tut man nicht alles – zumal, da das Königspaar in der Stadt weilt, um der Opfer des Ersten Weltkriegs zu gedenken und so ein Zeichen fürs europäische Miteinander zu setzen. Dafür erheben wir uns gern.

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Gesangsnackt: Sciarrinos „Ti vedo, ti sento, mi perdo“ an der Staatsoper

Mag sein, dass Jürgen Flimm insgesamt ein paar Jahre zu viel intendantiert hat, aber zu seinen unbestreitbaren Verdiensten an der Staatsoper Unter den Linden gehört die hartnäckige, ja penetrante Salvatore-Sciarrino-Promotion. Denn mit Sciarrino wird man nie einen Volksblumentopf gewinnen; und ein dereinstiges Sciarrino-Public-Listening auf dem Bebelplatz vermag man sich auch in hundert Jahren nicht vorzustellen. Aber in die sonntägliche Hitze passt die Premiere von Ti vedo, ti sento, mi perdo ganz gut. Obwohl diese Musik in ihrer Reduziertheit ja keineswegs dehydriert klingt, im Gegenteil. Weiterlesen

Segnend: SWR Symphonieorchester spielt Mark Andre und Luigi Nono

Neunmalschräge Programmgestaltung des SWR Symphonieorchesters beim Musikfest Berlin: von Renaissance-Madrigalen über einen romantischen Nachtfetzen bis zu einem seriellen Klassiker und einer kaum zu hörenden Jenseitssuche.

Auch wenn das Konzept nicht ganz aufgeht, wirds ein gesegnetes Konzert, weil zwei fesselnde Werke dabei sind. Mark Andre und Luigi Nono.

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22.3.2016 – Kantabel: Geburtstagskonzert für Aribert Reimann

Immer schön, wenn die Berliner Opernorchester mal aus dem Graben heraufkraxeln und oben in ganzer Pracht zu hören sind – wie das Orchester der Deutschen Oper am Dienstagabend im Sinfoniekonzert zum 80. Geburtstag von Aribert Reimann. Ein eher informelles Festkonzert, was ja auch ganz sympathisch ist, kein Gedränge, keine Pompösitäten. Das eigentliche Fest wird 2017 stattfinden, wenn Reimanns neues Werk an der Deutschen Oper aus der Taufe gehoben wird, wie der Intendant Dietmar Schwarz bei einer kleinen, improvisiert wirkenden Ansprache verkündet (die der betagte, aber erfreulich agil wirkende Jubilar auf der Bühne stehend anzuhören hat).

Das Orchester wird dann wieder im Graben sitzen, denn Reimann komponiert zwar modern, aber ohne neumodische Faxen. Vier Reimann-Opern hat die Deutsche Oper seit 1970 bereits uraufgeführt, vor dem Konzert bedauert man, dass nicht eins der Stücke auf die seit Jahren reimannlose Bühne zurückkehrt. Aber auch in den hier zu hörenden Stücken entfaltet sich der Zauber, den Wolfgang Rihm in seiner Laudatio als Kantabilität und Ökonomie beschreibt: Reimann sei der beste Kenner der menschlichen Stimme, von dem alle anderen Komponisten lernten, er schreibe für Menschen, eine Epiphanie des menschlichen Singens sei etwa Melusine. Zu dieser Oper nach Text von Yvan Goll hat Reimann zwei a-cappella-Parerga verfasst, die die Sopranistin Julia Giebel umwerfend interpretiert: reiner Gesang ohne Pusten, Prusten, Husten oder gar elektronische Verfremdung und Zerhackstücken des Textes (Reimann hat die Begegnung mit Stockhausens Gesang der Jünglinge 1956 in Darmstadt wohl eher abgeschreckt), dafür waghalsige Sprünge, ja sogar – horribile dictu – Koloraturen! Am fünftausendsten Abend unserer Liebe bin ich noch immer so schüchtern wie einst, fünftausend Abende lang hätte man zuhören mögen; nur dem Hörer in Reihe 11 hätte man irgendwann das vibrierende Handy entrissen und in den tiefsten Wassern versenkt.

Grandios und ungestört die Drei Lieder nach Gedichten von Edgar Allan Poe, die die Sopranistin Laura Aikin singt: im Sonnet – Silence von solistischen Instrumenten begleitet (jedes eine Stimme, wie Rihm beschreibt), nur die Harfen zu zweit; im zentralen Stück Dream-Land schwebt und springt Aikins farbenreiche Stimme mit ihrer vielgerühmt weiten Tessitura über eindrucksvollen Clustern, die als brummeligstes Brummen beginnen wie La Valse oder Schnittkes Dritte und dann in hypersensiblen Metamorphosen changieren und interagieren. Das Orchester unter Donald Runnicles macht das großartig. Im dritten Stück To- dann nur Horn, Streichquartett und eine Posaune, die die Stimme schließlich ins Schweigen geleitet.

Auf einen Sprung kommt auch Daniel Barenboim vorbei, der bei den Staatsopern-Festtagen gerade zwischen Wiener Philharmonikern, Jonas Kaufmann, Parsifal und Glucks Orfeo herumhetzt und trotzdem niemals gestresst wirkt: Mögen (und müssen) andere auch mehr üben als er, so pusht er mit Genie und Lebensfreude jede Party. Reimannns vierminütiges Klavierstück La Danse Interrompue klingt tadellos, die Finger springen wie die Sopranstimmen; charmant auch, wie sich im Anschluss Pianist und Komponist gegenseitig applaudieren. Barenboim bekennt noch, Reimann etwas schuldig zu sein und gelobt, alles zu tun, um auch einmal eine Reimann-Oper zu dirigieren, dann eilt er hinfort. (Der Verdacht, dass er in der Pause von der Staatsoper herübergeeilt sei und jetzt gleich den 3. Akt von Parsifal leiten müsse, bestätigt sich nicht, bei den Festtagen spielt heute Abend Yo-Yo Ma.)

Am Anfang des Abends stand auf Wunsch von Reimann die 4. Sinfonie e-Moll von Jean Sibelius, die Sinfonie der Komponisten, wie Rihm verrät: kantabel und ökonomisch, als wäre sie von Reimann. Den Konzertgänger springt wie stets ihre Düsternis an, das Thema führt, obwohl es aufwärts geht, gefühlt steil abwärts, zumindest am Anfang. Hat gelohnt, dass das Orchester sich aus dem Graben hochbegibt. Jetzt geht’s wieder runter. Und Aribert Reimann sitzt wahrscheinlich längst wieder an der Arbeit.

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19. Juni 2015 – Hin und her, hin und her: Samuel Beckett/Morton Feldman und John Cage in der Staatsoper

Nach einer Woche Entzug zieht es den Konzertgänger in zwei Opern nacheinander: erst Feldman/Beckett im großen Saal des Schillertheaters, danach John Cage in der Werkstatt – beides im Rahmen des Festivals Infektion!, das bis zum 12. Juli Musiktheater von Stockhausen bis Hosokawa präsentiert: Ausgerechnet die uralte Tante Staatsoper stemmt einen ganzen Monat lang Neues, ein Alleinstellungsmerkmal unter Berlins großen Musikhäusern.

Samuel Beckett/Morton Feldman: Footfalls/Neither

Ein mehrtägiger Familienbesuch hat den Konzertgänger in jene düstere Stimmung versetzt, in der man Samuel Beckett zu genießen versteht. Der Geist des hageren Iren wandelt noch Featured imagedurchs Schillertheater, das ordentlich besucht ist; der famos günstige Festivalpass, mit dem graumelierte Neue-Musik-Freunde sich wieder als Studenten (oder Studierende) fühlen dürfen, trägt sicher dazu bei. Vor Feldmans Neither gibt es Becketts Sprechstück Footfalls: ein hochartifizielles Pflegedrama, in dem eine auf schummriger Bühne hin und hergehende vereinsamte Frau (Julia Wieninger) aus sich selbst die Stimme ihrer gebrechlichen Mutter hört, alles hochgradig depressiv, aber sprachmusikalisch betörend, auch auf Deutsch: Schwären, Kandelaber, stracks kommen da vor, und das hin und her, hin und her der nicht mehr jungen Tochter gewinnt große Klangkraft.

Um Frauen und Türen geht es in Neither, das Morton Feldman auf der Basis eines Becketttextes komponiert hat: Die Frau hat sich nun vervier- und -vielfacht und rennt gegen sich öffnende und schließende Türen. Durch die fällt verheißungsvolles Licht auf die schummrige Bühne, aber die vervielfachte Frau gelangt niemals durch eine dieser Türen. Eine der Spiegelungen (Laura Aikin, großartig) beginnt zu singen, zunächst minutenlang einen einzigen Ton auf tausend Weisen; im Lauf des Stücks weiten sich Tonumfang und Dynamik in alle Richtungen. Der Text, den Beckett 1976 für Feldman auf eine Postkarte schrieb, bleibt trotzdem unverständlich, aber Bild und Musik erzählen alles: Die Laufphasenverschiebungen der hin und her eilenden Frauen entsprechen den sich wiederholenden, dabei anschwellenden und gegeneinander verschiebenden Klängen; viele Cluster, dann auch sehr einfache tonale Figuren. Ein hinzutretender Harfenton wird zum packenden Ereignis. Als Zuhörer wird man schläfrig oder aber hellhörig; der Konzertgänger pendelt zwischen beidem hin und her, hin und her. Es ist traurig-komisch und überwältigend schön, wie die ganze monotone, berauschende Inszenierung von Katie Mitchell, die schon Frank Martins Tristan-und-Isolde-Oratorium Le vin herbé als faszinierende Zwischenwelt auf die Bühne des Schillertheaters gebracht hat.

John Cage: Europeras 3 & 4

Handfester geht es danach bei der B-Oper in der Werkstatt zu, auch heiterer: 200 Jahre lang haben uns die Europäer ihre Opern geschickt. Nun schicke ich sie alle zurück! So beschrieb Cage seine Europeras, von denen zwei (von sechs) aus dem Jahr 1990 in der Werkstatt des Schillertheaters gespielt werden. Man sitzt dort in einer heterotopischen, das Publikum interaktiv miteinbeziehenden Raumstruktur (Staatsoper-Magazin), anders gesagt sehr unbequem. Dass man sich in der Werkstatt nie anlehnen kann, senkt den Altersschnitt des Publikums wahrscheinlich mehr als das löblich abseitige Repertoire.

Aber von wegen abseitig: Cages krude Oper besteht aus lauter Evergreens aus Opas Plattensammlung, Mozart, Verdi, Wagner, nur eben alle gleichzeitig. Fünf Sänger, zwei Klaviere, einige Plattenspieler und das berühmt-berüchtigte Tonband präsentieren die Klassiker wild durch-, über- und nebeneinander. Dazu gelegentliche Stroboskopblitze, und die pausierenden Sänger gehen hin und her, hin und her. Lustig, wenn plötzlich Papageno hinter einem steht oder die schöne Sängerin ein iPhone aus dem Dekolleté zieht, um nachzulesen, was sie jetzt singen soll; und vor allem sehr beeindruckend, wie die Sänger unbeirrt vom Chaos ihre Arien ausführen. Aber klanglich kommt nicht viel herum, außer dass es sehr laut ist. Das Publikum reagiert mit Kennerlächeln und fröhlichem Opernraten, was doch kaum Sinn der Sache sein kann. Nach 30 Minuten setzt sich der Konzertgänger nach nebenan in die schöne Schiller-Bar, dort klingt es sehr reizvoll, auch leiser, und man sitzt gemütlicher, hört zugleich die angenehmen Polizeisirenen von der Bismarckstraße. Bei einem Bier lässt sich darüber sinnieren, dass für Cage die Geschichte der Oper mit dem 19. Jahrhundert zu Ende ist: kein Berg, Schostakowitsch oder Britten, geschweige denn Henze oder Ligeti. Sind das keine Europeras?

Am Ende des ersten Teils teilt die Abendspielleitung mit, gleich werde es wesentlich ruhiger und intimer; man hat wohl an den letzten Abenden mit der Pause üble Erfahrungen gemacht. Wer nicht heimfährt, geht in die Bar. Haben Sie trockenen Rotwein? fragt eine schicke Dame; Oper ist nicht mehr Schickimicki. Die lesehungrige Barfrau legt als Kaffeehausmusik eine Stockhausen-CD ein.

Trotz der Ansage ist man nach der Pause doch ziemlich unter sich, nur die Plätze an den Wänden bleiben begehrt, zum Anlehnen. Auch in Europeras 4 viel Verdi und Wagner, aber ganz ausgelichtet, fast kammermusikalisch: zwei Sänger (Carola Höhn und Arttu Kataja mit eindrucksvoller Perücke), ein oft nahezu unhörbares Klavier, ein antikes Grammophon und viel Stille führen tatsächlich noch zur erhofften Klangerfahrung. Es kommt zu innigen Momenten, O du mein holder Abendstern aus dem Tannhäuser etwa und dazu das Quietschen der Grammophonkurbel. Am Ende spielt das Klavier eine wunderschöne Paraphrase der verzweifelten Arie von König Philipp aus Don Carlo, ehe die Europeras in der schrillen, beschleunigten Ferne des Grammophons versinken. Da ist John Cages Musik wieder viel mehr als ein Witz mit Überlänge.

Footfalls/Neither

Europeras 3 & 4