28.2.1016 – Kosmisches Doppel: Makropulos-Symphonie und Die Sache Turangalîla

Olivier Messiaen und Leoš Janáček – kein ästhetisches Band verbindet diese beiden Komponisten, sondern einzig das organisatorische Ungeschick des Konzertgängers, der mit Schrecken feststellt, dass er am Sonntag Termine um 16 Uhr im Konzerthaus und um 18 Uhr in der Deutschen Oper hat.

Von Messiaen in Mitte…

Die U2 fährt im 5-Minuten-Takt und braucht von Stadtmitte bis Deutsche Oper 16 Minuten. Aber auch das würde nichts nützen, gäbe es nicht im Konzerthaus diesmal nur ein einziges Werk, lang zwar, dafür ohne zeitraubende Pause: Olivier Messiaens wahrhaft monumentale Turangalîla-Symphonie (1946-49), zum Abschluss des Frankreich-Festivals, einer Woche mit nervigem PR-Sprech (oh la la, Savoir vivre am Gendarmenmarkt), dafür um so aufregenderer Musik von Couperin bis Mantovani.

Und einem kleinen Messiaen-Schwerpunkt: Eine Woche nach dem jenseitssüchtigen Quatuor pour la fin du Temps feiert das kosmische Diesseits in der Turangalîla-Symphonie, dem intensivsten Jubelschrei der Musikgeschichte, heftige Auferstehung. Iván Fischer lässt das Konzerthausorchester diesen durchgeknallt optimistischen Lebenshymnus mit packendem Enthusiasmus spielen. Der Spannungsbogen hält über 85 Minuten: von den Tristan-Inseln in den Chants d’amour über die fetzige Joie du sang des étoiles (dem Gesang des Sternenblutes, der klingt wie 20 Bigbands auf Speed oder einer noch unbekannten Substanz) und den vom Hörer innig ersehnten ruhigen Jardin du sommeil d’amour (dem Garten des Liebesschlafs, dessen Klangbild an Palestrinas verschollene Hawaii-Kompositionen gemahnt) bis zum großen Finale mit Urknall-Schlussakkord.

An wie vielen Turangalîla-Aufführungen mag Valérie Hartmann-Claverie, die die Ondes Martenot spielt, schon teilgenommen haben? Als einzige auf dem Podium musiziert sie auswendig. Der Pianist Roger Muraro hat einige Kadenzen zu spielen, die virtuoser sind als in so manchem Klavierkonzert. – Zum Konzert

… zu Janáček nach Charlottenburg

Vom kosmischen Schwung der Turangalîla-Symphonie beflügelt, dauert die U-Bahn-Fahrt nach Charlottenburg nur gefühlte 16 Sekunden. Dort wartet bereits die Frau des Konzertgängers, die bekennender Janáček- und Runnicles-Groupie ist.

Geradezu kosmische Kräfte entfacht auch der dramatische Genius von Leoš Janáček. Wenn Janáček ein kauziger mährischer Halbgott ist, dann ist Donald Runnicles sein spleeniger schottischer Halbprophet: ein sachlicher, aber umso überzeugenderer Anwalt dieses großartigen Komponisten, bereits in der herrlichen Jenůfa. Das Vorspiel der Sache Makropulos (1925/26) geht er mit einigen Volt mehr an als etwa die Wiener Philharmoniker in der schönen Mackerras-Aufnahme, die ganze Oper in einem Tempo, dass die Hörner sich im Finale auch mal überschlagen; trotzdem kein Kontrollverlust, eine packende Orchesterleistung. Runnicles hat das Orchester der Deutschen Oper derart auf Vordermann gebracht, dass es immer wieder die reine Freude ist.

Das Makropulos-Motiv erinnert den Konzertgänger umstandsbedingt an Messiaens absteigenden Akkorde-Leitfaden; erst recht wenn es sich am Ende des 2. Aktes härtet und stählt, als Emma Marty den armen Janek ins Unglück stürzt. Auch zwischen Messiaens indischen und Janáčeks mährischen Tabulaturen tun sich plötzlich Zusammenhänge auf: Aus winzigen Zellen entstehen gewaltige Wirbel. Wie Janáček seine kleinen Motive verzahnt, entwickelt einen ungeheuren Sog, die Musik scheint sich von Insel zu Insel zu bewegen, jedes Eiland besteht nur aus 3 bis 4 Tönen… und  wie diese Musik dennoch oder gerade deshalb ans Herz geht!

Die Hauptfigur Emilia Marty ist eine Art weiblicher fliegender Holländer, ruhelos seit 337 Jahren; allerdings kein Seemann, sondern eine gefeierte Sängerin, die zunächst in einer Anwaltskanzlei auftaucht. Man würde sich auch nicht wundern, wenn Franz Kafka hereinspazierte, denn die Handlung nimmt von einem seit 100 Jahren laufenden undurchschaubaren Prozess ihren Ausgang.

Die Konversation der Protagonisten spiegelt sich in den Geistern der Vergangenheit. Die Regie von David Hermann (der bereits 2012 Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern auf die Bühne der DO brachte, in einer sehr zugänglichen Inszenierung, über die der Komponist hörbar die Nase rümpfte) ist manchmal etwas aufdringlich, etwa wenn zur Illustration eines erwähnten Selbstmords eine Pistole knallt und ein Statist tot umfällt oder wenn am Ende dem Publikum vorgehalten wird: EM = me. Aber insgesamt recht ordentlich, der wichtigste Einfall überzeugt: Emilia Marty überschreitet als einzige die unsichtbare Linie zwischen den Zeiten und wird begleitet von ihren eigenen Gespenstern, die da heißen Eileen MacGregor, Eugenia Montez, Ekaterina Myschkina, Elsa Müller… und eben Elina Makropoulos, Tochter des griechischen Alchemisten, der Kaiser Rudolf II. das ewige Leben schenken sollte, aber nur seiner eigenen Tochter endlose Wanderschaft bescherte.

Evelyn Herlitzius mag nicht so kalt wirken wie anno dunnemal Anja Silja, aber sie begeistert und bewegt in ihrer Darstellung der verzweifelten Frau, deren Fähigkeiten in Liebe und Kunst sich im Lauf der Jahrhunderte vervollkommnet, aber das Entscheidende verloren haben: die Seele. Herlitzius‘ dramatischer Sopran kann schneidend scharf klingen, aber auch ungeheuer seelenvoll, wie es sich bei Janáček, einem der großen Künstler des Mitleids, gehört – in der Verzweiflung regt sich ja eben doch die tote Seele. Gnadenlose Schärfe und rührende Weichheit verbinden sich beeindruckend im Pater hemon, dem griechischen Vaterunser, das EM im Finale kurz vor Ultimo anstimmt. 

Die anderen Sänger wirken durchweg überzeugend, idiomatisch sehr gekonnt, so weit man das als Sprachunkundiger beurteilen kann. Seth Carico als Anwalt und Derek Welton als Baron stechen hervor, Ladislav Elgr klingt als Albert Gregor etwas gepresst, was zur gehetzten Figur passt, sehr eindringlich; als Idiot Hauk-Sendorf tritt der alte Wagner-Recke Robert Gambill auf.

Eine weitere Janáček-Sternstunde an der Deutschen Oper. In der nächsten Saison ist leider gar kein Janáček angekündigt. Die Sache Makropulos gibt es noch zweimal im April, man sollte hingehen, um mehr Janáček in unserer schönen Musikhauptstadt zu erzwingen!

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21.2.2016 – Apocalyptique: Abgrund der Möbel für Messiaen im Konzerthaus

Eine pünktlich um 21 Uhr piepsende Armbanduhr erinnert uns im Lobpreis der Ewigkeit Jesu (Louange à l’Éternité de Jésus) an das, was wir fast vergessen haben: dass wir uns physisch noch im Diesseits der Zeit befinden. Es ist nur ein Konzert. Aber was für eins: das Quatuor pour la fin du temps von Olivier Messiaen in Luxusbesetzung mit Jörg und Carolin Widmann, Alban Gerhardt und Momo Kodama.

Das Festival Frankreich, das am Freitag im Konzerthaus eröffnet wurde und bis zum 28. Februar dauert, wagt am Sonntag einen besonderen Spagat: nachmittags bunter Kindertag mit Carnaval des animaux, abends Messiaens gläserne Endzeitklänge, uraufgeführt 1941 im Kriegsgefangenenlager bei Görlitz – mehr zur Entstehungsgeschichte hier. (Am nächsten Wochenende bietet sich zum Abschluss des Festivals die Chance, Kind und Messiaen zusammenzubringen: Obwohl keine Familienveranstaltung, sondern ein normales Symphoniekonzert, ist Messiaens großes Turangalîla-Spektakel garantiert (schul)kindertaugliche Symphonik.)

Dem Quatuor eilt ein Ruf wie der siebte Posaunenhall voraus, dabei ist es unmittelbar zugängliche Musik, im 5. und 8. Satz sogar an der Grenze zum Kitsch. Die Zuhörer (unter ihnen Piotr Anderszewski, der am Montagabend ein Klavierrezital im Kammermusiksaal geben wird, natürlich nicht ohne den Konzertgänger) würden den Kleinen Saal des Konzerthauses berstend füllen. Das Konzert findet aber im Großen Saal statt – und doch sitzt man dichtgedrängt: Die Musiker spielen um 180 Grad gedreht, in Richtung Orgel, das Publikum sitzt nur auf und über dem Podium. Von dort schaut es hörend in den leeren Saal – und es stellt sich beim Anblick dieses Abgrunds der Möbel das Gefühl ein, ins Ende der Zeit zu blicken. Zum leeren Raum wird hier das Ende der Zeit. Eine faszinierende Idee, für die man die harte Holzbank vor der Orgel gern in Kauf nimmt.

Auch akustisch funktioniert die Inversion des Saals: Wenn man Jörg Widmanns solistischer Klarinette im 3. Satz Abîme des oiseaux (Abgrund der Vögel) zuhört, fragt man sich, ob man in diesem heiklen Saal schon je so kristallklare Klänge vernommen hat.

Über Widmanns Qualität als Klarinettist braucht man ohnehin kein Wort zu verlieren. Momo Kodama zaubert gläserne Klänge aus dem Steinway, die einen mitunter zweifeln lassen, ob da wirklich ein irdisches Instrument zu vernehmen ist. Alban Gerhardt spielt das Cello im 5. Satz Louange à l`Éternité de Jésus mit jenem ätherischen Ton, spröde und sanglich zugleich, den Carolin Widmanns Geige im 8. und letzten Satz Louange à l’Immortalité de Jésus aufnimmt und zur Vollendung führt: in immer höhere Regionen begibt sich ihr Ton, bis er durchsichtig wird und sich in Luft auflöst, Luft aus einer anderen Welt. Und wenn die vier Musiker sich in der eröffnenden Liturgie de Cristal und im 7. Satz Fouillis d’arcs-en-ciel (Wirbel der Regenbögen) vereinigen, katapultiert uns allein ihr perfektes Zusammenspiel ins Jenseits der Zeit.

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19.2.2016 – Non, je ne regrette Wagnerien: Frankreich-Festival im Konzerthaus mit Marc Minkowski

Jede Menge Frankreich im Berliner Musikleben: Vor kurzem hat François-Xavier Roth die Berliner Philharmoniker franzisiert, das Rundfunk-Sinfonieorchester beglückte uns mit „Dutissy und Debulleux“, die Komische Oper präsentierte ein Jacques-Offenbach-Festival. Und jetzt veranstaltet das Konzerthaus ein zehntägiges Festival Frankreich. Im ganzen Haus herrscht ein nicht gänzlich ungezwungenes flair français (Personal trägt Baskenmützen, bicyclette mit Rotwein und Akkordeon usw.), aber alles recht sympathisch, la France berlinoise changiert halt zwischen Bulette und Boulez. (Nur dass man nach dem Konzert, das Erlösungsmotiv aus der Götterdämmerung im Ohr, mit Chansons beschallt wird, ist bei aller Bewunderung für Edith Piaf ein Fauxpas.)

Der Intendant Sebastian Nordmann begrüßt mit „Schon die Hugenotten haben…“ und radebrecht tapfer im Welschen. Der französische Botschafter Philippe Etienne eröffnet (ohne sich im Teutschen zu versuchen) das Festival. Sogar Kultursenator Tim Renner hat sich in ein klassisches Konzert verirrt. Und Nike Wagner, der einzig vorzeigbare Spross des wilden Geschlechts, hält einen Festvortrag, der aus der Klischeezone hinausführt zu einem kurzen Abriss von der frankoflämischen musikalischen Harmonie über die barocke Scheidung der nationalen Geschmäcker bis zum nationalideologisch versalzenen musikalischen Rosenkrieg des 19. Jahrhunderts.

Und dann enfin la musique!

Der kuriose Antagonismus zwischen Siegfrieds Rheinfahrt von Wagner und Jacques Offenbachs Rheinnixen-Ouvertüre wurde leider kurzfristig gestrichen, vielleicht weil der konstruierte Wagnerbezug der Renaissance von Les fées du Rhin eher im Weg steht. Trotzdem würde eine solche Rarität den Festival-Auftakt zieren. So muss allein César Francks nicht ständig, aber doch regelmäßig gespielte d-Moll-Symphonie Wagner Paroli bieten. Unübertrefflich spannungsgeladen gelingt dem Konzerthaus-Orchester unter Marc Minkowski der götterdämmerungsgleich mysteriöse Beginn. Im unermüdlichen Aufwärtsmäandern des ersten Satzes hört man heute Abend das Tristansehnen, aber bei Franck führt der Weg nicht in den Liebestod, sondern nach wenigen Minuten zu dem famosen Gassenhauerthema, das zu hören mindestens sieben Tage lang glücklich macht. Hier klingt es allerdings recht knallig, wie überhaupt einige klangliche Härten stärker hervortreten als in der ausgewogenen Interpretation des Rundfunk-Sinfonieorchesters vor Weihnachten.

Richard Wagner wirkt mit den vier Harfen im Götterdämmerungs-Finale „Starke Scheite“ plus décadent als der seriöse, durchaus klassizistische Franck. Auszüge sind für den musikdramatisch erprobten Wagnerfreund immer etwas unbefriedigend, sie bieten keinen Raum für Weltumarmungs- oder Untergangserfahrungen. Aber wenn sich natürlich nicht der Sog einer Ring-Aufführung entfaltet, hört man mit klarerem Kopf und frischeren Ohren. Trotz oder gerade wegen ihres eindrucksvollen, sehr ausgewogenen Soprans (und weil ihr eben noch keine fünf Stunden Musikdrama in den Stimmbändern stecken) steht die Schwedin Ingela Brimberg eher für Wagnerbelcanto als textverständlichen, doch konsonantenspuckenden Sprechgesang. Die Senta-Ballade aus dem Fliegenden Holländer singt sie kraftvoll und, obwohl ursprünglich Mezzosopran,  scheinbar mühelos in der um einen Ton höher liegenden Originalversion, die Wilhelmine Schröder-Devrient von Wagner absenken ließ.

Höchsten orchestralen Glanz lässt das Konzerthaus-Orchester dazwischen in der Tannhäuser-Ouvertüre erstrahlen, und zwar in der Pariser Version, die Baudelaire & Compagnie zu Wagneriens à la française machte. Betörend schön gelingt der Übergang zwischen ersterbendem Pilgerthema und Eintritt ins Reich der Venus. Das ellenlange Bacchanal ist die reine Freude, wenn es so klingt wie hier: durchaus schmissig angegangen, aber mit zauberhaftestem Sirren und Flirren! Tannhäusers schmetterndes Preislied erinnert plötzlich an Francks geschmeidigen Gassenhauer. Formidabler Wagner, nix vagues nerfs, sondern elegance und clarté. Wer in diesem Venusberg nicht für immer bleiben will, muss wirklich eine teutonische Macke haben.

Am Samstag gibt es das Konzert noch einmal, dann ohne Reden. Das Festival Frankreich läuft bis zum 28. Februar, mit einer Spannbreite von Rameau bis Ibrahim Maalouf.

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