Ich hatte mir vorgenommen, mir als Konzertgänger und den Meinen keine eskalierenden Terminballungen mehr aufzuhalsen: Aber am vergangenen Wochenende war ich doch wieder in drei Konzerten innerhalb von 21 Stunden. Einmal mit dem alten Vater, einmal mit dem kleinsten Söhnchen, einmal mit der Frau. Samstagabend Konzerthaus, Sonntagfrüh Komische Oper, Sonntagnachmittag Philharmonie.
SAMSTAGABEND IM KONZERTHAUS
Feine Sache, dass ausgerechnet der Bayer Jörg Widmann Berliner Kernrepertoire, oder was es sein sollte, zu uns bringt. Das Konzerthaus (auch wenn es nach Kriegszerstörungen erst seit 1984 so heißt, als es mit verändertem Inneren wiederaufgebaut wurde) wird im kommenden Jahr 200 Jahre alt, darum gibt es einen kleinen Akzent auf Carl Maria von Weber, mit dessen Freischütz das Schauspielhaus 1821 musikalisch eröffnet wurde, nachdem es zuvor bereits Goethes Iffi auf der Krim gegeben hatte oder wie das heißt. In Webers 1. Klarinettenkonzert f-Moll solistiert Widmann natürlich persönlich, und es ist alles sehr einnehmend: wie da etwa der effektvoll stille Schluss des ersten Satzes Raum schafft für den schönen Gesang des zweiten; und wie Widmann das spritzige Schlussrondo ein bissl musikantisch herbeibrezelt, mit einer Prise Wirtshausmusik im besten Sinn, das ist schöne bayrisch-preußische Symbiose.
Auch als Dirigent ohne Klarinette wirkt Widmann sympathisch unkonventionell, er scharwenzelt und tänzelt und hüpft in weitem Kreis vor dem Orchester herum; aber das wirkt ansteckend enthusiastisch, und das klangliche Ergebnis passt. Und man ist dankbar, dass hier auch noch ein Werk wie Felix Mendelssohn Bartholdys Reformations-Sinfonie in d-Moll oder D-Dur (da gehen die Meinungen auseinander) erklingt. Mendelssohn, der zu bösen Zeiten schmählich geschmähte Nachbar des Gendarmenmarkts! Ist denn diese Reformationssinfonie, die er als 20jähriger schrieb und die dann 1832 in Berlin erfolglos uraufgeführt wurde und an der er selbst später kein gutes Haar ließ, nicht klanglich interessanter als die dauernd gespielten Schumann-Sinfonien? Nicht nur wegen des für heutige Ohren kuriosen Auftauchens des Parsifal-Themas im ersten Satz (das nämlich das Dresdner Amen ist) und der hybriden Lutherchoralversonatung im Finale, sondern auch einfach als orchesterfarbiges Erlebnis.
Dazwischen wieder mal Widmanns eigenes Con brio, kein ganz nötiges Stück, sondern eine dieser typischen Symphonieorchester-Auftragskompositionen als Feigenblatt für die Gegenwartsmusikblöße. Aber in der pandemiebedingt reduzierten Fassung gewinnt Con brio, weil das Brio stärker aus Bewegungsenergie als Klangwucht entsteht, und rummsen tut es ja trotzdem noch genug.
Ich besuche das Konzert mit meinem 87jährigen Vater, und es ist schön zu zweit in einer Loge mit nie gekannter Beinfreiheit; drei Viertel der Plätze müssen im Konzerthaus nach wie vor leer bleiben.
SONNTAGMORGEN IN DER KOMISCHEN OPER
Das ist nicht anders in der Komischen Oper, wo ich am nächsten Morgen mit meinem Jüngsten, der 83 Jahre, drei Monate, drei Wochen und fünf Tage nach seinem Großvater geboren wurde, das wunderbare Kindermusiktheater Das kleine Ich bin Ich besuche. Auch dessen musikalische Seite wird von der Klarinette geprägt, daneben von Cello und Akkordeon – fünf Musiker der Komischen Oper sind insgesamt dabei. Mal klingt es ein bissl alpin; dann, als der kleine Ich-Sucher sich zu den blubbernden Fischen hinabbegibt, klingt später Piazzolla an; zur Nilpferd-Begegnung geht es ins Bluesige. Jederzeit aber ist Elisabeth Naskes Musik reizvoll und sehr hörenswert.
Und die Puppen- und Schattenspiele des Weiten Theaters mit seinem Hauptverantwortlichen Torsten Gesser sind wunderbar phantasiereich! Atemanhalten bei den Kleinen, wenn auf einmal der ganze Saal zum Sternenhimmel wird.
Eine Woche nach der arg durchwachsenen Walküre-Premiere an der Deutschen Oper fällt mir ein, dass jeder „große“ Regisseur gefälligst regelmäßig ins Kindertheater gehen sollte. Nicht um infantil zu werden, an Infantilität besteht im Opernbetrieb ja kein Mangel. Sondern um Theater zu erleben, das wirklich in jedem Moment an seine Zuschauer denkt, ohne sich doch dabei auszublöden.
SONNTAGNACHMITTAG IN DER PHILHARMONIE
Nach dem 87- und dem 4jährigen darf ich schließlich meine Frau, die genau in jenem Alter ist, in dem eine Frau am allerschönsten ist, in die Philharmonie begleiten. Endlich wieder mal das hochgeschätzte Rundfunk-Sinfonieorchester hören!
Allerdings empfinde ich bei Beethovens 4. Sinfonie, mit der Dirigent Jukka-Pekka Saraste sein Programm eröffnet, den großen Abstand zwischen den Musikern als klangliches Problem – und zwar stärker als in allen anderen Konzerten, die ich „seit Corona“ besucht habe. Die musikalischen Dialoge des Werks verspritzen sich über all zu breite Schluchten, der Witz versprüht sich davon, Funken verlöschen auf weiten Flugwegen, alles wird etwas behäbig, und es scheint auch lauter als erwünscht – wahrscheinlich, um unter diesen Bedingungen überhaupt Kontakt und Miteinander umsetzen zu können. So hervorragend alle Teile des Orchesters sind, entsteht doch kein Ganzes.
Wie Beethovens Vierte wohl neulich beim DSO mit Robin Ticciati funktioniert hat? Leider war ich nicht dabei.
Es ist aber auch alles hinfällig, wenn Saraste und das rsb danach Jean Sibelius‘ 3. Sinfonie C-Dur spielen! Hier wird aus den exquisiten Teilen ein erlesenes Ganzes. Sehnen und Schmachten und Galoppieren über endlose Weiten hinweg machen Sibelius‘ musikalische Welten ja nur noch herrlicher. Und obwohl Saraste nichts entgleist, erlebt man als Hörer ein wahrhaft physisches Überströmtwerden von überwältigendem Klangglück.
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„um Theater zu erleben, das wirklich in jedem Moment an seine Zuschauer denkt, ohne sich doch dabei auszublöden“ – danke für diesen m.E. ebenso wahren wie zauberhaften Satz über das sogenannte Kindertheater!
(Insbesondere Ihr Neologismus „sich ausblöden“ gefällt mir ungemein.)
Dass Sie, lieber Herr Selge, die Möglichkeit haben, mit drei Familienmitgliedern, die gleichzeitig für drei Generationen stehen, drei Konzerte binnen 21 Stunden zu besuchen, das macht mich persönlich ein wenig fassungslos. Aber das ist völlig in Ordnung so und nicht Ihr Problem, sondern wirklich nur eine Minimalstminderheitenangelegenheit.
Ich hoffe also für Sie und alle Sie hier lesenden Menschen, dass Ihnen dergleichen noch oft möglich sein möge.
Beste Grüße aus dem Witwesk von
Corinna Laude
PS: Bei der Gelegenheit: Danke übrigens für den VAN-Artikel über die Walküre.
Mir hat die Fairness gut gefallen, mit der Sie die Inszenierung bedachten, die nun leider ja schon gleich „mittendrin“ starten musste, anstatt sich vom Rheingold aus entwickeln zu können.
(Übrigens war der „Ring“ Götz Friedrichs auch eins meiner musikalischen Erweckungserlebnisse, freilich schon zu Beginn der 1990er, wenn ich mich richtig erinnere, also ein paar Jahre vor Ihnen. Und anders als bei Ihnen ist bei mir nichts, schon gar keine Kontinuität, daraus gefolgt.
Ich hoffe dennoch, nun irgendwann eine für mich erschwingliche Karte für das aktuelle Gesamtpaket erwerben zu können [für die Staatsoper vor einem Jahr war ich nicht schnell genug] – das wäre 30 Jahre später und in einem vollkommen anderen Leben vielleicht ganz lustig.)
PPS: Gegen Kleinmachung des Großen ist eigentlich seit Jean Paul nix mehr einzuwenden, find‘ ich; zumindest wenn sie humoristisch vonstatten geht und also Klein und Groß sich jeweils an die Seite gesetzt werden, die Beine baumeln lassen können und am Ende ja ohnehin vor der Unendlichkeit gleich werden und nichts.
Liebe Frau Laude,
ja, es kommt natürlich drauf an, wie man kleinmacht. Den RING mit Jean Paul zu lesen wäre vielleicht auch mal ein Ansatz.
Die „3mal an einem Tag“ haben sich ziemlich zufällig ergeben, das ist nicht unser normaler Rhythmus …
Ich wünsche auch Ihnen wieder erfüllende Kunsterlebnisse, lassen Sie sich von den Umständen, die ich nicht genau kenne, nicht knicken.
Herzliche Grüße, Albrecht Selge