Jede Woche Endzeit bei den Berliner Philharmonikern: vor sieben Tagen Schostakowitschs düstere Fünfzehnte, jetzt die Pathétique. Jeweils drei Abende hintereinander, das muss man erstmal seelisch verkraften. Kunstprofis eben; es gibt ja auch Schauspieler, die Abend für Abend den Hamlet spielen.
Aber vor Tschaikowsky gibt es erstmal ein Werk, das auf einer niedrigeren Dringlichkeitsstufe packend ist: Jörg Widmanns Teufel Amor mit dem altklugen Untertitel Symphonischer Hymnos nach Schiller. Der Konzertgänger kann sich auf keine Statistik berufen, aber gefühlt wird Widmann derzeit so viel gespielt wie Mozart und Brahms zusammen; außerdem scheint er so produktiv wie Telemann zu sein, oder zumindest wie Wolfgang Rihm. Diese Präsenz eines Lebenden ist ja im Museumsbetrieb Symphoniekonzert erstmal erfreulich, aber sie weckt natürlich auch Verdächteleien: An zeitgenössischer Musik, die erwiesenermaßen kinderkonzerttauglich ist und die von Philharmoniker-Abonnenten nicht zerhustet wird, kann etwas nicht stimmen.
Aber der Argwohn ist unberechtigt. Teufel Amor ist zwar ein gewaltiges, auf starken Kontrasten (Hölle und Liebe) basierendes, sehr theatralisches Klangspektakel mit immer neuen sinnlichen Reizen, aber nie lärmend oder breiig: ein stets überschaubares Riesengebilde, rauschhaft, ohne verrauscht zu sein; und wohlstrukturiert, soweit sich das nach einmaligem rauschhaften Hören beurteilen lässt. Es gibt ein paar avantgardistische Signale wie Lachenmann-artiges Pusten in die Klarinette, aber das ist dann zugleich der Grundschlag eines beginnenden Tanzes im ¾-Takt. Kurz vor Schluss erklingen von gitarrig gespielten Geigen eingeleitet schmelzende, fast schwülstige, schließlich jubelnde Klänge: ein Hauch von Per aspera ad astra à la Beethoven Fünf, Brahms Eins, Mahler Zwei und Sieben, Tschaikowsky Eins bis Fünf. Aber der Jubel erstarrt, verstummt, es geht nur noch abwärts wie in… Tschaikowsky Sechs. Strettaartig folgt ein einminütiges Aufbrausen, das Fußstampfen des Teufels, wie Widmann im Programmheft zitiert wird; wie er überhaupt mit Auskünften sehr großzügig ist, was einerseits beim Hören hilfreich ist, andererseits doch sehr einseitig festlegend.
Aber es klingt toll, wäre auch kinderkonzerttauglich. Bei einigen Senioren ist allerdings Hopfen und Malz verloren, ein sympathischer alter Herr klagt in der Pause: „Das Schlimmste ist, dass man für diesen Lärm noch Geld bezahlt hat… aber jetzt kommt Tschaikowsky, da muss man nur den Namen hören und weiß, dass es Spaß macht.“ Derselbe Herr würde wahrscheinlich der heutigen Jugend einen Verlust an musikalischer Bildung bescheinigen!
Barenboim-Programme wirken manchmal zusammenhanglos, aber hier öffnet die Kombination die Ohren: Solcher Lärm wie bei Widmann findet sich bei Tschaikowsky dutzendfach, hinter den schönen Stellen. Und während das Diable amoureux-Sujet bei Widmann etwas angelesen und beflissen wirkt, muss dem seelisch und sozial leidenden Tschaikowsky sein persönlicher Amor wirklich wie der Teufel erschienen sein. Bekanntlich starb er wenige Tage nach der Uraufführung der Pathétique, einer umstrittenen Theorie zufolge wegen seiner Homosexualität zum Selbstmord gezwungen.
Daniel Barenboim schüttelt Tschaikowskys Symphonie Nr.6 h-Moll op. 74 ‚Pathétique‘ natürlich aus dem Ärmel. Richtige Kritiker finden sicher manche Schlampigkeit. Aber ein gemeiner Hörer wie der Konzertgänger staunt über die Qualität und Inbrunst, zu der der angeblich viel zu viel dirigierende geniale workaholic Barenboim die Philharmoniker auswendig dirigierend führt. Schon die wie aus dem Nichts auftauchenden, fast unhörbaren Kontrabässe, die das Seufzermotiv des Fagotts tragen, sind eine Offenbarung. Im zweiten Satz, dem traumverlorenen Walzerding im 5/4-Takt, lehnt Barenboim sich zwischendurch zurück, dirigiert nur wo nötig. Ebenso traumverloren beginnend, dann rasant anschwellend der dritte Satz, weniger ein Scherzo als eine selbstvergessene Eisenbahnfahrt, die am Ende abhebt. Danach brandet verständlicher begeisterter Applaus auf, aber das dicke Ende kommt ja erst, die komplett spaßfreie Zone, der Untergang: das Adagio lamentoso-Finale mit all seinen schrecklichen abstürzenden Aufschwüngen. Als das Tamtam den Begräbnischoral intoniert, die Musik verlischt, gibt es keinen Glauben an ein Morgen mehr.
Aber das Leben muss weitergehen, Barenboim etwa spielt in ein paar Tagen beim Klavierfestival Ruhr späte Schubert-Sonaten.