Arki abubu: Jörg Widmanns „Babylon“ an der Staatsoper

Kriegenburg, Widmann, Sloterdijk (v.l.n.r.) besichtigen eine Oper

Die Gedenkminute für den gestorbenen Michael Gielen vor der Premiere ist nicht nur die hustenloseste Minute der ganzen Saison, sondern auch der konzentrierteste Klang des Abends. Dabei wird die Stille ja auch später beschworen im wohl aufregendsten Auftritt überhaupt in Jörg Widmanns exuberantem Spektakulum Babylon, wenn das weite und schöne Gewölbe der himmlischen Stimme von Marina Prudenskaya als Euphrat im wallenden Flutenkleid sich an den Moment nach dem Rückgang der Sintflut erinnert. Da erschrickt der Himmel selbst vor der eigenen Tat, angeohrs dieser Stille, gleich einem Bett, in dem ein Kind gestorben ist. Glasharmonika und Akkordeon machen den Orchesterklang schwerelos. Ein wirklich anrührender Moment innerhalb einer Flutwelle von Sound und Gerede, die alles, was anrührend sein könnte, zu verschlucken droht.

Allegorie der Uraufführungen

Das glasharmonische Euphrat-Lamento ist wohl, wie auch die silbrige Arie Schwester Tod der Hauptfigur Inanna in der Unterwelt, eine jener Hinzufügungen zum Münchner Babylon von 2012, die das Berliner Babylon jetzt zur URAUFFÜHRUNG qualifizieren. Man kennt den Trick von Neue-Musik-Festivals und vom Urheberrechtfuchs Strawinsky: an einem bewährten Werk dies und das verändern, aus einem Fis ein Ges gemacht, und bums, fertig ist die neue Uraufführung. Daniel Barenboim habe ihm eine Neufassung vorgeschlagen, erzählt Widmann. Man ist eben nicht Stadttheater hier, sondern Staatsoper, darum spielt man nicht nach, sondern braucht eine Weltallurururaufführung. Nun wird ja ganz generell zu wenig nachgespielt in der zeitgenössischen Musik. Wenns also dem Nachspielen hilft, aus dem Fisch ein Fahrrad und aus dem Fis ein Ges zu machen, um es Uraufführung der revidierten Fassung nennen zu können, dann bitte. (Und um fair zu sein, es ist wohl tatsächlich dies und das umgebaut und neukomponiert worden und auch eine halbe Stunde gestrichen.)

Das Libretto stammt nach wie vor vom laut Cicero „wichtigsten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum“. Hat die Witwe Schlotterdeick der deutschen Philosophie also ihre wahre Berufung gefunden als der Emanuel Schikaneder des 21. Jahrhunderts? Der deutsche Sprachraum erstreckt sich in Babylon vom Hohen Ton bis zum Dadaismus. Arki abubu, rufen die babylonischen Chöre immer wieder. Wobei es auch so etwas wie den Hohen-Ton-Dada gibt, etwa wenn ein Skorpionmensch seinen Stachel in die Erscheinung bohr ich ein. Oder die nackte Innana in der Unterwelt, statt vom Kleid, vom Schamtuch meines Leibes spricht. Was auf eine wichtige Facette des Opern-Trums Babylon verweist, die komplette Absenz von Erotik und Humor. Eine Tendenz, die Andreas Kriegenburgs ziemlich erwartbare Inszenierung mit Wimmelbild-Kästchenoptik inklusive Ischtarfliesen in der Waschküche rechts unten unterstreicht, wenn sie dem Zuschauer eine dieser berüchtigten Berliner Opernbühnen-Orgien kredenzt (Massenkopulation in hautfarbener Unterwäsche). Und trotz Operetten- und Blaskapellenzitaten oder einem herzhaft bayrischen Gibba Ruh! inmitten von Menetekel-Gilgamesch-Verballhornungen ist den ganzen Abend über kein Lachen im Saal vernehmbar.

So toll trieben es die alten Berliner.

Ist Jörg Widmann aber, um die wichtigste Frage zu stellen, der Mozart des 21. Jahrhunderts? Was den Output in quantitativer Hinsicht und Professionalität im allgemeinen angeht, ganz gewiss. Was Herz und Finesse betrifft, eher weniger.

Nun wäre der Vergleich mit Mozart ebenso wie mit der Stille unstatthaft, keine Musik kann ja Mozart oder wahrer Stille gleichkommen.

Bei Widmann aber wimmelt es von Einfällen, und jeder Einfall ist fantastisch ausgeführt. Immer neue Einfälle, immer wieder fantastische Ausführungen. Das ist das Bewunderungswürdige an Babylon, aber auch das Ermüdende – bis hin zur finalen Bonus-Elektronik (Gilbert Nouno), die den Saal bis in die hintersten Winkelplätze flutet. Mit Eklektizismus wird geklotzt, nicht gekleckert. Das hat auch etwas Bequemes, man setzt das Schlagwort babylonische Sprachverwirrung drüber und klebt alles, alles, alles, was einem einfällt, an-, auf- und übereinander. Dennoch, man könnte fünfzig dolle Orchesterstücke aus dem machen, was man hier hört. Aber es will nicht eine Oper daraus werden. Denn es lässt völlig kalt, emotional wie intellektuell.

Obwohl es ja eine knackige Liebesgeschichte gibt zwischen babylonischer Priesterin Inanna und jüdischem Jüngling Tammu, mit oberschlauer Musical-Melodizistik etwa im Schmachtfetzen Wo du hingehst, dahin gehe auch ich. Und sehr gelehrte Konfrontation zwischen babylonischen Menschenopfer-Hochkulturfuzzis und jüdischen Monotheismus-Innovatoren (Jan-Assmann-Abdruck im Programmheft!). Und, tata, dramatische Verbindung dieser Sphären: Die Babylonierin steigt in die Unterwelt hinab, um den geopferten Juden vom Tod freizuquatschen (Achtung, feministische Umkehrung, Eurydike befreit Orpheus!), und oben versöhnen sich dann Babylonier und Juden, die sich eben noch gegenseitig die Babys an die Wand klatschen wollten (Psalm 137!). Dazu schwenken sie kirchentagslike mit Regenbogentüchern herum (Inszenierung Andreas Kriegenburg!).

Es ist von allem zu viel und dabei alles zu wenig. Was will Widmanns Kunst? So viel Können, so wenig Müssen.

Man schämt sich ein bisschen bei den Kirchentagstüchern. Vor allem aber wird man an diesem Abend ein bisschen traurig. Angesichts des gigantischen Aufwands nämlich und all dieses enormen Könnens, das dann so eine Monumental-Luftnummer hervorbringt.

Denn was ist das, neben dem enormen Können von Widmann, für ein enormes Können der Ausführenden! Der Euphrat von Marina Prudenskaya, schon eingangs erwähnt: Dieses große Können ist wirklich ein Müssen, darum packt es einem das Herz derart am Schlafittchen. Susanne Elmarks rattenscharfe, aber nie schneidende Koloraturen in der Rolle der Innana, lustlachend dabei, stöhnend, becircend, den Tod und das Publikum jammernd. Als ebendieser Tod kommt Otto Katzameier der Komik, die möglich wäre, am nächsten. Mojca Erdmann als verlassne Seele des Tammu, die in ihrer Not hart am Grat des Sichmetallifizierens schwankt. Der Tammu von Charles Workman, nicht ganz auf der Höhe der sonstigen Besetzung, ist von etwas klaustrophobischer Höhe. John Tomlinsons majestätischer Bass wie auch sein persönliches Charisma machen den babylonischen Priesterkönig zu einer eindrucksvollen Erscheinung. Der kraftvolle, auf feine Weise raumflutende Countertenor von Andrew Watts steht grandios am Anfang und am Ende des Abends. Und auf welcher Höhe ein Knabensolist der Staatsoper, Arne Niermann heißt der Junge, hier zu bestehen vermag, davor kann man nur den Hut ziehen, der ansonsten dem Bürger vom spitzen Kopf fliegt bei dieser Bildungsopersause.

Chapeau auch vor der Präzision und Wucht der Staatskapelle! Die holen großen Orchesterklang aus der titanischen Totgeburt Babylon. Alles andere als ein Notnagel ist der Dirigent Christopher Ward, Naganos Münchner Assistent von 2012 und spät eingestiegen anstelle von Daniel Barenboim (der wegen einer Operation fehlt, nicht wegen der großen Barenboim-Kontroverse der vergangenen Wochen). Die Staatskapelle liefert all diese viel zu vielen Dimensionen des Babylon-Klangs so perfekt ab, dass man sich in der Tat fünf, zehn, fünfzig Babylon-Bruchsteine in Sinfoniekonzerten wünschte. Und der von Martin Wright und Annna Milukova einstudierte Chor macht einen zwar mit seinem absichtlich asynchronen Gewisper (babylonische Sprachverwirrung!) ebenso wuschig wie mit Momenten von tonalem Bombast-Chor. Aber so hat Widmann das eben komponiert, so hat er es bekommen, so bekommt es das Publikum: volle Kanne perfekt bis zum Ersaufen im letzten Arki abubu.

Weitere Stimmen: Uwe Friedrich (BR Klassik), Niklaus Hablützel (taz) und eine halbwegs positive Kritik im Kulturradio

Weitere Aufführungen am 11., 20., 22. und 24. März.

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4 Gedanken zu „Arki abubu: Jörg Widmanns „Babylon“ an der Staatsoper

  1. Ich schaffe es jetzt doch nicht mehr rein, bin ein paar Tage weg und nächsten Freitag gehe ich wahrscheinlich zu Bostridge/Boulezsaal. Irgendwie doch schade. Ich bezweifle, ob es eine Wiederaufnahme geben wird. Ich hoffe immer noch, dass die wunderschöne Matsukaze einmal wiederkommt, die ich bei der letzten Wiederaufnahme nicht hören konnte. Henzes Phädra ist auch im Orkus der Vergänglichkeit verschwunden. Sie sind bestimmt bei Rattle/Bach? Das spare ich mir, hoffe, dass ich nächste Woche zu Schumann/Lachenmann komme.

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