17.1.2017 – Frostheiß: Purcells „King Arthur“ mit René Jacobs und Akamus

boys_king_arthur_-_n-_c-_wyeth_-_title_pageHenry Purcell kann man an den Füßen in die Luft heben und rütteln, es fällt lauter Gold und Silber aus seinen Taschen.

So macht es René Jacobs, der zwischen und auch unter die Sprechszenen in Purcells Semi-Oper King Arthur, or The British Worthy (1691) weitere Musik dieses Komponisten legt: kunstvolle, strenge Gambenfantasien, gemessen schreitende Pavanen – ein Stück schöner als das andere.

Jedes Jahr übernehmen Jacobs und die Akademie für Alte Musik die Staatsoper, während die Hausherren (ab Donnerstag neunmal in New York) auf Tournee gehen. Weiterlesen

1.1.2017 – How strange: Händels „Theodora“ mit RIAS Kammerchor, Akamus, Justin Doyle

Nach dem Jahr 2016 zögert man, leichtfertig zu schreiben: Das Neujahrskonzert des RIAS Kammerchors und der Akademie für Alte Musik habe den Krach der vorangegangenen Nacht aufs Schönste sich verflüchtigen lassen. Denn zum Krach der vergangenen Nacht gehört Istanbul, gehören auch die Echos aus Aleppo, vom Breitscheidplatz, aus Nizza, Brüssel, Orlando…

theodosia_of_tyreTraurigerweise passt es also ganz gut, dass in der Philharmonie am 1. Januar 2017 kein feenleichtes Werk wie im vergangenen Jahr auf dem Programm steht, sondern gewichtige, tragische Musik: Georg Friedrich Händels Oratorium Theodora HWV 68 (1750). Es geht um das Leid der antiochischen Christen, die der römische Statthalter in Syrien zur Verehrung Jupiters und des Kaisers Diokletian zwingen will – und man denkt unweigerlich an die heute verfolgten und vertriebenen Christen im Orient, an die gepeinigten Syrer und auch  an die arglosen Feiernden im Reina, die Homosexuellen im Pulse, die Glühweintrinker auf dem Breitscheidplatz. Und die vielen Flüchtlinge, deren Hoffnung auf ein besseres Leben bei uns oft auf Hass und Häme stößt.

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30.4.2016 – Wachküssend: Agostino Steffanis „Amor vien dal Destino“ in der Staatsoper

Der Konzertgänger kennt nicht nur Feiertage wie Weihnachten und Ostern, sondern auch jährlich wiederkehrende Festtermine wie das epiphanische Klavierrezital von Grigory Sokolov oder die rituelle Barockopern-Auferstehung, die René Jacobs mit der Akademie für Alte Musik in der Staatsoper feiert. Dieses Jahr hat Jacobs den verzwickten Aeneas-Reigen Amor vien dal Destino ausgegraben, den der Komponist, Diplomat und Bischof Agostino Steffani 1709 zum Düsseldorfer Karneval komponierte.

Eine historisch vergleichende Gegenüberstellung mag den auch für den interessierten Laien hörbaren musikästhetischen Wandel des Düsseldorfer Karnevals verdeutlichen:

Fasching in Düsseldorf anno 2011:

Fasching in Düsseldorf anno 1709:

Schon dem Lamento der Venus (Robin Johannsen, überragend) entströmt mehr Schönheit als so manchem langen spätromantischen Abend in der Philharmonie. Der Zuhörer, der im Lauf der ca. 240minütigen Oper nicht das eine oder andere Viertelstündchen verschlummert, muss zwar erst geboren werden. Denn das Libretto ist ziellos wie der Wind, den die Latinerprinzessin Lavinia (Katarina Bradić) besingt. Oder die Schilfrohre und Liebespfeile, die der stumme Amor (Konstantin Bühler, passenderweise vom Düsseldorfer Schauspielhaus) pflanzt und verschießt.

Doch der ziellose Wind steht koloraturgünstig! Wann auch immer man aufwacht, wird das Ohr von erlesener Schönheit geküsst: Acht Sänger übertreffen sich selbst, neben den erwähnten Sopranistinnen Bradić und  Johannsen Jeremy Ovenden mit kernigem, festen Tenor als Enea (Aeneas), die kunstvoll leidende und rasende Olivia Vermeulen in Hosenrolle als angeschmierter König der Rutuler, Marcos Fink als König Latino sowie die umwerfend komischen Mark Milhofer (in einer Rockrolle als Amme) und Gyula Orendt. Last but not least die skurrile Erscheinung eines zarten, fast ätherischen Countertenor-Zeus (Rupert Enticknap). Ein traumhaft ausgeglichenes Sängerensemble.

Die Akademie für Alte Musik ist so prächtig aufgelegt, dass man bereit wäre, sich ein ganzes Konzert allein der Continuogruppe anzuhören. B.C. pur. Vielleicht nicht vier Stunden, aber ein bis zwei gern. Aber da sind ja auch der Rest des Orchesters und die Solisten, die in buntem Wechsel Steffanis überreich inspirierte Arien begleiten, Violine (Bernhard Forck),Cello (Jan Freiheit), Oboe (Xenia Löffler), Laute (Shizuko Noiri) und viele mehr – auch vier Chalumeaux, Großmütter der Klarinetten. (Und René Jacobs‘ stundenlanges sachliches Armkreisen und schnörkelloses Einsatzgeben ist eine Wohltat, wenn einem noch der philharmonische Ausdruckstanz von Andris Nelsons auf dem Gemüt liegt.)

Komisch und wunderschön das alles, aber nicht harmlos. Die dunkle Seite der Liebe offenbart sich zumal in der zweiten Hälfte der Aufführung, eindrucksvoll ins Bild gesetzt durch die Regie von Ingo Kerkhof: Wenn etwa ein verzweifelt Liebender brutal über Amor herfällt, diesen Tyrann und Kretin, steht einem die Perücke zu Berge. Das Schilf, anfangs nur in einzelnen Halmen in den Boden gespießt, bedeckt nun dicht die ganze hintere Bühne, dahinter ist Nacht, merkwürdig statuarische Menschen erscheinen darin und verschwinden: eine unheilvolle Melange aus Jenufa-Feldern und Peter Greenaways Kontrakt des Zeichners, der nicht nur die steilen Perücken und Kostüme (Stephan von Wedel) inspiriert hat.

Am besten gleich nochmal hin (4. und 7. Mai), um auch das zu hören, was man verschlummert hat. Und das andere nochmal.

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29.2.2016 – Cäcilianisch: Collegium vocale Gent und Akademie für Alte Musik spielen Händel

Wie ein gleißender Lichtstrahl bricht der Chor herein: From harmony, from heavenly harmony, this universal frame began. Das originalklingende Collegium Vocale Gent, das in der Berliner-Philharmoniker-Reihe Umsungen im Kammermusiksaal auftritt, ist ein Chor von bemerkenswert hellem Klang, selbst die tiefen Männerstimmen haben einen fast kindlichen Charakter; jedenfalls ungeheuer durchhörbar.

Georg Friedrich Händels Ode for St. Cecilia’s Day HWV 76, 1739 als Lückenfüller für zu kurze Programme komponiert (und wie im Programmheft zu lesen großzügig bei Georg Muffat kopiert) , ist ein Werk aus dem ein wenig aus der Mode gekommenen Genre der Cäcilienode, zu dem auch Henry Purcell beigetragen hat. In Händels Ode tritt der Chor erst am Schluss wieder auf. Dazwischen tänzeln, wie es sich in einer Ode an die Heilige der Musik gehört, nacheinander die Instrumente des Orchesters einzeln hervor. Das ist pures Glück, wenn es die Solisten der Akademie für Alte Musik sind: Jan Freiheit am Cello, Andrea Theinert an der Traversflöte, ein ebenfalls vorzüglicher Trompeter, den der Konzertgänger nicht namentlich identifizieren kann der Trompeter Franz Landlinger (danke an Akamus für die Auskunft) und schließlich Robert Nassmacher an der Orgel, dem Instrument der Hl. Cäcilia höchstpersönlich. Die Macht der Musik, zeigt uns Händel, ist vielfältig: Sie kann uns zu zartesten Gefühlen animieren wie zu heftigster Kriegswut anstacheln. In schönster barocker Unbefangenheit lässt Händel zu Cäciliens Gesellschaft auch Orpheus, den biblischen Urmusiker Jubal, Mars und Pan auftreten.

Aber das schönste aller Instrumente ist ohnehin… die menschliche Stimme. Die schwedische Sopranistin Klara Ek ist nicht nur ein Koloraturwunder, sondern führt uns durch alle Freuden und Leiden der menschlichen Seele und rührt uns zutiefst, wenn sie am Schluss unbegleitet von der last and dreadful hour singt. Der kurzfristig eingesprungene Tenor Nicholas Mulroy hat eine sehr bewegliche, in den tiefen Passagen recht leise Stimme; er singt, proklamiert und agitiert überaus textverständlich, so dass kein Hörer den Text mitlesen muss.

Aber die Heilige Cäcilia ist mit gutem Grund eine Frau!

Beide Solisten hören, wenn sie pausieren, mit solch sichtbarer Freude der Musik zu, dass es selbst den verstoffeltsten Hörer anstecken muss.

Die Musiker werden sehr umsichtig angeleitet vom Dirigenten Marcus Creed, der ebenfalls kurzfristig eingesprungen ist. Da offenbar momentan die Seuche umgeht (wie der Konzertgänger auch in der eigenen Familie erlebt), muss man einmal den relativ niedrigen Hustenpegel im Publikum loben. Die Akademie für Alte Musik und die Reihe Umsungen haben offenbar ein kultiviertes, geistig piekfeines Publikum; was etwas ganz anderes ist als die soziale Selbstzufriedenheit, die man beim Publikum der Berliner Philharmoniker mitunter erlebt.

Vor diesem grandiosen Lobpreis der heiligen Tonkunst gibt es die Begräbnismusik für Königin Caroline „The Ways of Zion do mourn“ HWV 264 (1737). Obwohl ebenfalls vorzüglich musiziert, ist es doch ein ziemlich gravitätisches, ja behäbiges Stück. Der flächige Klang mag bei der Beerdigung mit über 100 Beteiligten in Westminster Abbey beeindruckend wuchtig gewirkt haben, in dieser schlanken Form im Kammermusiksaal klingt es doch etwas dünn. Dem Instrumentalpart merkt man das Skizzenhafte an. Dafür hat der Chor aus Gent hier mehr, wenn auch weniger Interessantes, zu singen.

Alles, was man musikalisch in dieser Komposition vermisst, bietet die Cäcilia-Ode dann im Überfluss. Der Chor hat dort wenige, dafür um so hellere Momente. Das grandiose Collegium vocale Gent ist herzlich willkommen wiederzukommen, gern mit einem Programm, in dem es sich selbst stärker in den Mittelpunkt stellt.

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15.1.2016 – Horchend: Audi-Jugendchor und Akamus feiern die h-Moll-Messe

Endlich mal frohe Botschaft von einem deutschen Autobauer! Die Audi-Jugendchorakademie führt, gemeinsam mit hochkarätigen Solisten und der Akademie für Alte Musik, Bachs h-Moll-Messe auf, zuerst in Berlin, dann in München, am 20. März bei den Thüringer Bachwochen in Weimar. Wenn sich 80 Nachwuchsmusiker und ehrgeizige Laien, von der Gesangsstudentin bis zum Jungingenieur, an ein solches Monument der Musikgeschichte wagen, mag der eine oder andere im Auditorium sich fragen, ob alles gutgehen wird. Aber in der voll besetzten Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg wird schnell klar, dass solch beckmesserischer Argwohn

1. eine unangemessene Haltung ist, wenn man dem Vollzug des grössten musikalischen Kunstwerks aller Völker und Zeiten (H.G. Nägeli, 1818) beiwohnt, und

2. der Chor wirklich gut ist, nicht nur wegen seiner wunderbar jungen Stimmen. Der Chor klingt, bis ins 8stimmige Osanna, hervorragend durchstrukturiert und austariert.

Eine Kirche, selbst die Gethsemanekirche, ist kein Konzertsaal, aber einem gewissen akustischen Minus steht hier ein großes spirituelles Plus gegenüber, auch wenn man etwas protestantisch sitzt und die Apsis mit Bauplanen verhängt ist. Doch das schwebende und anschwellende Qui tollis des Gloria ist nicht nur klanglich ein Erlebnis. Das Crucifixus geht durch Mark und Bein, und wenn das Sanctus in Triolen zum Himmel wogt, steigt der Blick des Hörers sehnsüchtig ins Sterngewölbe des Kirchenschiffs.

Den Chor ergänzen fünf sehr gute Solisten, unter denen der Countertenor Benno Schachtner noch einmal herausragt, der ätherische Pianissimo-Schluss des Agnus Dei scheint nicht von dieser Welt. Und der vom Chorleiter Martin Steidler dirigierten Akademie für Alte Musik zuzuhören, ist erwartungsgemäß eine Freude, auch wenn man nicht alles hört: Das Horn und die Fagotte in der geradezu bizarr instrumentalisierten Arie Quoniam tu solus sanctus (gesungen vom sehr beweglichen Bass Sebastian Noack) verhallen im weiten Raum, so dass man eher ein allgemeines Brummen hört. Im Herkulessaal in München wird das anders sein. Die höheren Instrumente, etwa die warmen Traversflöten und Oboen, klingen in der Kirche viel besser durch, es ist eine Freude, jedem einzelnen dieser erstrangigen Instrumentalisten zuzuhören. Die historischen schlaksigen D-Dur-Trompeten strahlen heller und jubelnder als jedes moderne Instrument. Und der Geigenton des Konzertmeisters, in der Sopran-Arie Laudamus te ebenso wie im Agnus Dei, wecken in der Frau des Konzertgängers den innigen Wunsch, Bernhard Forck möge einmal als Solist eines ihrer Lieblingswerke vortragen, Biber, nicht Justin, sondern Heinrich Ignaz Franz, die Rosenkranzsonaten.

Wenn zwei Stunden auf einer harten Holzbank, dicht an dicht und trotzdem fröstelnd, wie im Fluge vergehen, muss es ein gutes Konzert gewesen sein.

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1.1.2016 – Wintersommernachtstagtraum: Purcells „Fairy Queen“ in der Philharmonie

Berlin am Neujahrstag sieht aus wie London nach dem Great Fire – kann man das neue Jahr also besser beginnen als mit The Fairy-Queen, Henry Purcells märchenhafter Feenweltmusik, sehr frei nach Shakespeares Sommernachtstraum? Zumal im zuschanden gefeierten Tiergarten undurchdringlicher Themse-Nebel wabert. Das Publikum im ausverkauften Großen Saal der Philharmonie sieht nach der Silvesternacht etwas zerknittert aus, nur die Musiker des RIAS Kammerchors und der Akademie für Alte Musik sind offenhörlich unverkatert.

Aus Purcells Fairy Queen (1692) wird meist nur die schöne Suite gespielt, das komplette Werk gilt als schwer vermittelbar: eine Semi-Oper nach speziell englischem Geschmack  mit viel gesprochenem Text, da die englische Veranlagung das unablässige Singen nicht schätzt (so der Dichter P.A. Bois, den Roman Hinke im lesenswerten Programmheft zitiert) – vor allem aber äußerst konfus. Eine gute und eine schlechte Nachricht: Die schlechte ist, dass es wirklich konfus ist, wer eine stringente Handlung oder gar einen roten Faden sucht, ist verloren. Nicht erst Berlioz hat Shakespeare skrupellos verwurstet.

Die gute Nachricht ist, dass das vollkommen egal ist.

Es gibt zwar keine aufwändige barocke Bühnenmaschinerie in der Philharmonie, aber Regisseur Christoph von Bernuth hat das Stück dezent szenisch eingerichtet: Chor und Sänger kommen von den Rängen herab und verschwinden wieder, legen sich unter einer großen Decke schlafen, lassen mit Taschenlampen nächtliches Gelichter aufscheinen, der Sonnengott Phoebus bringt einen Koffer voll Sonnenbrillen mit, der Zwerg Puck tanzt durch die Reihen. Natürlich ist der Originaltext begrüßenswert gekürzt. Wobei eigentlich alles sehr wirklichkeitsnah ist: etwa wenn ein Poet sich und der Dämonenwelt eingesteht, nicht nur besoffen, sondern auch ein lausiger Dichter zu sein; oder wenn eine Feenkönigin sich in einen Esel verliebt, aber nur für eine Nacht.

Purcell hat einen großen Sack herrlicher Musik über das Shakespeare-Vaudeville gekippt: etwa das Nachtigallen-Prelude der Blockflöten im zweiten Akt oder die Final-Chaconne, die den letzten Rest von Silvesterkrach aus den Ohren zaubert. Ein besonderer Höhepunkt sind die vier Lieder von NIGHT, MYSTERY, SECRECY (das berühmte One Charming Night) und SLEEP im zweiten Akt. Wie der unnachahmliche Samuel Pepys in sein Tagebuch schrieb: Was mir mehr als alles in der Welt gefiel, war die Musik.

Im letzten Akt sogar lamentoses Dido and Aeneas-Flair mit dem Klagelied O let me weep, das die ansonsten starke Sopranistin Ruby Hughes etwas laut singt (wunderbar begleitet vom Geiger Georg Kallweit). Unter den Solisten ragt der Bass Roderick Williams heraus. Sängerisch bräuchte es gar keine externen Solisten, wie die durchweg fabelhaften Solo-Auftritte aus den Reihen des RIAS Kammerchors zeigen. Reines Hörglück, wie beweglich und agil der Ensembleklang ist. Der Dirigent Rinaldo Alessandrini, dieses Jahr Conductor in Residence (nächstes Konzert am 31. Januar), singt mit, regelt aufmerksamst nach und verkörpert bei aller sympathischen Zurückhaltung die enorme Spielfreude, die den ganzen Abend auszeichnet. Die Akademie für Alte Musik ist bei Purcell mit seinen HornpipesJigs und Fairy Dances natürlich auf ureigenem Terrain.

Am Schluss gibt es Bravi für die Continuo-Gruppe, wann hat man das je erlebt? Musikalisch beglückender hätte das Jahr 2016 nicht beginnen können. A thousand, thousand ways we’ll find / To entertain the hours…

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Berliner hören günstiger

Mag auch unser Mietspiegel durch die Decke schießen, und das, obwohl unser Flughafen das Gespött der Nation, unser Essen schlecht und unser Umland staubig ist… so können wir doch die h-Moll-Messe zum halben Preis hören wie die Münchner:

Aber sprechen wir lieber von doppelt so günstig. Denn: Es ist die h-Moll-Messe. Es ist die Akademie für Alte Musik. Es sind hervorragende Solisten und ein großartiger Jugendchor.

Für Madonna im November gibt es „Premium-Tickets ab 199 Euro“. Für diesen Preis kann der Münchner zwölf Freunde zur h-Moll-Messe mitnehmen und hat noch Geld für einen Cappuccino zu Münchner Preisen übrig.

Aber der Berliner nimmt achtundzwanzig Freunde mit, hat noch Geld für einen Döner und drückt das Kleingeld einem Motzverkäufer in die Hand.

Anmerkung: Die Akademie für Alte Musik weist zurecht  auf die unterschiedlichen Spielorte hin, in Berlin die Gethsemanekirche, in München der Herkulessaal. Es wäre interessant, beide Konzerte im Vergleich zu hören.

Zur Startseite von hundert11 – Konzertgänger in Berlin

4.10.2015 – Friedensbewegt: Akademie für Alte Musik und RIAS-Kammerchor unter Łukasz Borowicz spielen Haydn und Wranitzky

Wranitzky? Tschechischer Name, wird sich also um einen österreichischen Bundeskanzler handeln, irgendwo zwischen Kreisky und Klima. Nein? Ein deutsch-mährisch-österreichischer Komponist und Dirigent der Wiener Klassik? Da gab es mehr als diese drei? Ja, von Haydns Bruder Michael hat der Konzertgänger schon gehört, auch von Kozeluch, Dittersdorf, Hummel…

Ihre Musik lernt man kennen, wenn man öfter mal Konzerte der Akademie für Alte Musik besucht. Von Pavel Vranický alias Paul Wranitzky, dessen Name in Charles Rosens Der klassische Stil nicht einmal erwähnt wird, gab es am 4. Oktober im Konzerthaus ein Werk, dessen Titel allein schon Spannung verheißt: die überaus bewegte Grande Sinfonie caractéristique pour la paix avec la République française c-Moll aus dem kriegerischen Jahr 1797.

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So richtig battaglia-mäßig geht es allerdings erst im dritten Satz zu, wenn die Tambourtrommel von der Orgelempore knallt und im Tumult munter die Piccoloflöte pfeift. Im zweiten Satz verliert, nachdem die Klarinette (Ernst Schlader) die  Wendung des Adagio-Idylls ins Düstere vorbereitet hat, Ludwig XVI. unter schnarrenden Dissonanzen sein Haupt; in letzten Flötentönen haucht der König sein Leben aus und wird dann in einem Trauermarsch beweint. Den man natürlich so wenig am Trauermarsch der Eroica messen darf wie die Guillotinierung an der Symphonie fantastique. Die Revolution im ersten Satz ist pingelig durchstrukturiert, bei allem, was passiert, kann man bis 4 zählen, und es ist auch manche Marschmusik dabei, wie sie Opa Erwin gefällt. Nach so viel Gradzahligkeit genießt man in den Friedensverhandlungen im Finale das tänzerische Andante grazioso, ehe im Freudengeschrei der 4/4-Takt wiederkehrt.

Nicht jede Ausgrabung kann ein Meisterwerk zutage fördern, aber hörenswert ist es allemal. Und bessere Fürsprecher als die Akademie für Alte Musik mit ihrer unvergleichlichen Spielfreude und den enthusiastischen Dirigenten Łukasz Borowicz, der im lang anhaltenden Applaus mehrmals die Partitur emporreckt, kann Wranitzky sich nicht wünschen. Der umtriebige Borowicz, der im Interview im Programmheft eine Art Initiativbewerbung für freiwerdende Stellen in Berlin abgibt („Ich träume davon, eines Tages sagen zu können: Ich bin ein Berliner!“), wird dem Konzertgänger jederzeit willkommen sein.

Die Unruhe, mit der das Kyrie in Joseph Haydns Missa in tempore belli C-Dur (1796) beginnt, hört man danach mit anderen Ohren. Die berühmten Pauken im abschließenden Agnus Dei, von denen dieses Werk seinen Rufnamen Paukenmesse trägt, lassen ohnehin keinen Zweifel an ihrer militärischen Herkunft. Die Kombination mit Wranitzkys Kriegssymphonie macht diese Bitte um Frieden umso dringlicher: Haydn hat vielleicht noch keine Finalsymphonie geschrieben, aber ganz sicher eine Finalmesse. Der glanzvolle RIAS Kammerchor und die hervorragenden Solisten Robin Johannsen (Sopran), Stefanie Irányi (Alt, kurzfristig eingesprungen), Attilio Glaser (Tenor) und – besonders hervorzuheben – Andreas Wolf (Bass) musizieren wie die Akademie für Alte Musik auf höchstem Niveau. Eine ergreifende Aufführung.

Begonnen hat der Abend mit Joseph Haydns frühem Te Deum C-Dur (1763), das reine Glaubensfreude ohne jede protestantisch-bachsche Zerknirschung ausstrahlt. Wer da Atheist sein will, ist selbst schuld.

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Konzertgängers TOP DREI im Juni… and the worst

WAS DEN KONZERTGÄNGER IM JUNI AM MEISTEN BEGEISTERT HAT:

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Akademie für Alte Musik im Konzerthaus (1. Juni)

Weil George Onslow kein französischer Beethoven, aber trotzdem großartig ist. Weil Schuberts Oktett dem Hörer 60 Minuten Unendlichkeit schenkt. Und weil die Akademie für Alte Musik himmlische Musik nicht nur historisch korrekt, sondern vor allem himmlisch schön spielt. > Lächelnd: Akademie für Alte Musik mit George(s) Onslow und Schubert

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Deutsches Symphonie-Orchester mit Roger Norrington und Martin Helmchen in der Philharmonie (10. Juni)

Weil gut gespielter Haydn gewinnbringend investierte Lebenszeit ist. Weil Martin Helmchen und Mozart ein Traumpaar sind. Weil Vaughan Williams‘ Sechste ein unbekannter Gigant ist. Und weil Roger Norrington Witz und Kompetenz vereint wie niemand sonst. > Atemberaubend: DSO und Roger Norrington mit Haydn, Mozart und Vaughan Williams

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Footfalls/Neither von Samuel Beckett und Morton Feldman in der Staatsoper (19. Juni)

Weil Becketts Beitrag zum Thema häusliche Pflege hinreißend düster ist. Weil Morton Feldman lauter Nichtse in Klangzauber verwandelt. Und weil Katie Mitchell das alles wunderschön inszeniert: die Welt als Frauen und Türen. > Hin und her, hin und her: ‚Footfalls/Neither‘ von Samuel Beckett und Morton Feldman in der Staatsoper


… UND WAS DER KONZERTGÄNGER LIEBER VERPASST HÄTTE:

Originale von Karlheinz Stockhausen in der Werkstatt der Staatsoper

… und zwar nicht wegen, sondern trotz Stockhausen. Schade um die schöne Musik. Akuluku, akuluku. > Fremdschamdlos: Karlheinz Stockhausens ‚Originale‘ in der Staatsoper

1. Juni 2015 – Lächelnd: Akademie für Alte Musik mit George(s) Onslow und Schubert

Onslow, heißt es seit kurzem (fast) überall, Georges Onslow! Manchmal auch George Onslow, das ist bei diesem französischen Sohn eines englischen Adligen unklar. In Venedig gab es im Frühling sogar ein ganzes Onslow-Festival! Der Konzertgänger hat das Gefühl, als einziger Mensch auf der Welt noch nie Musik von George(s) Onslow gehört zu haben. Aber in Berlin kann man das zum Glück schnell ändern, ganz ohne Youtube:  Die Akademie für Alte Musik stellt Onslow, kombiniert mit Schubert, im Kleinen Saal des Konzerthauses vor.

Featured imageDass Onslow (1784-1853) immer wieder als der französische Beethoven bezeichnet wird, sollte man sofort wieder vergessen, auch wenn er wie der Meister ertaubte, allerdings nur auf einem Ohr und durch eine Gewehrkugel. Die Akademie spielt nicht das Quintett Nr. 15 c-Moll De la balle (Kugelquintett), sondern ein spätes Nonett. Denn obwohl er auch vier Symphonien und mehrere Opern geschrieben hat, ist Onslow, wie man erfährt, vor allem ein Meister der Kammermusik. Trotzdem hat er nicht mal ein eigenes Kapitel im berühmt-berüchtigten altfränkischen Reclam-Kammermusikführer, der im straffen 50er-Jahre-Geist noch das abseitigste oder sperrigste Werk auf eine ordentliche Sonatensatzform hinunterbiegt. Wer wird sich wohl ein unbekanntes Nonett anhören, wenn heutzutage schon die bekannten Nonette (Louis Spohr) unbekannt sind?

Mehr Leute, als man denkt! Jedenfalls mehr als das versprengte Häuflein Islamkritiker, die als „Bärgida“ den Verkehr rund ums Kanzleramt behindern; mit dem Fahrrad kommt man trotzdem problemlos zum Konzerthaus. Der Kleine Saal ist ordentlich gefüllt, umso erfreulicher, als die Akademie für Alte Musik das Programm an drei Abenden spielt – was der Musik entschieden besser bekommt, als es ein Abend im Großen Saal täte.

George(s) Onslows Nonett a-Moll op. 77 (1848) würde bestens in den Reclam-Führer passen, denn wie man sofort hört, ist es schulbuchmäßig wiener-klassisch-sonatenhaupt-viersätzig aufgebaut, mit energischem Hauptthema, lyrischem Seitenthema usw. Das ist aber ziemlich wurst, denn dem Nonett fehlt jede klassizistische Betulichkeit und vor allem die deutsche Ängstlichkeit vor dem großen Beethoven, es hat den begeisternden Schwung einer hochkarätigen Kaffeehaus-Zigeuner-Jazzkapelle: Musik, die lächelt, ohne doof zu sein. Der ungediegene, rauhe Schwung der neun historisch informierten Musiker (4 Streicher mit schwangerer Primaria, 4 Holzbläser, Horn) tut dieser coolen Musik gut, die glattgebügelt vom Klassikradio missbraucht werden könnte. Besonders schön der Variationensatz an dritter Stelle, in dem die Streicher und Bläser bald einzeln hervor, bald als freundliche Blöcke einander gegenüber treten. Es gibt packende dramatische Bewegung und rührende Momente des Innehaltens, aber alles ohne Brahms-Schwere. Man sieht die Musiker viel lächeln, offenbar macht es glücklich, Onslow zu spielen. Onslow zu hören macht auch glücklich. Wie konnte diese Musik je in Vergessenheit geraten? Sie ist einfach unter die Räder des Fortschritts-Zwangs geraten; aber man kann sie wieder hervorziehen, völlig unversehrt. Mehr Onslow, bitte!

Bei Schuberts Oktett F-Dur op. 103 D 803 (1824) dann zunächst weniger Lächeln, mehr selige Blicke. Wenn Onslow im besten Sinn kammermusikantisch ist, klingt Schuberts Oktett teilweise nach transkribierter Symphonie, was es ja in gewisser Weise auch ist: …überhaupt will ich mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen, schrieb Schubert über seine „späte“ (im Alter von 27 komponierte!) Kammermusik. Hat das je einer orchestriert, so wie Schönberg das Klavierquartett von Brahms? Es bietet sich an, wäre aber schade drum, denn es ist ja weit mehr als ein Anbahnungsversuch. Angesichts des strahlenden Klarinettenklangs, auch beim schönen Horn-Moment gegen Ende des ersten Satzes fragt man sich, warum Schubert sonst die Bläser so vernachlässigt hat. Im Adagio ein Hauch von Ave Maria; im Scherzo kehrt dann das Lächeln auf alle Gesichter zurück, beim Konzertgänger sogar Freudentränen. Der dräuende Beginn des sechsten und letzten Satzes ist dann nochmal ganz große Symphonie. Einziges Manko des reinen Schubertglücks: dass diese Unendlichkeit nach 60 Minuten zu Ende ist.

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Akademie für Alte Musik