12.11.2016 – Zweithanderstklassig: Vogler Quartett und Silver-Garburg Piano Duo

101Zu seiner Angst vor der Kunst der Fuge steht der Konzertgänger spätestens, seit er weiß, dass selbst der hochgelahrte Hans Heinrich Eggebrechts sich als Zuhörer einer Gesamtaufführung dieses Werkes überfordert fühlte (Bachs Kunst der Fuge, Seite 126). Und seit er 2014 ebendies, eine Gesamtaufführung, durch den Pianisten Jewgeni Korolojow im Kammermusiksaal mit größter Bewunderung und um so geringerem Verständnis gehört hat.

Insofern kommt es ihm entgegen, dass das Vogler Quartett sein Programm im Konzerthaus mit einer überschaubaren Auswahl aus J. S. Bachs Kunst der Fuge eröffnet. Weiterlesen

17.10.2015 – Entspannt: Philharmonisches Oktett spielt Thieriot, Žebeljan und Beethoven

Relaxte Stimmung im und um den Kammermusiksaal: Ein Gast pfeift auf der Toilette die Gavotte aus der E-Dur-Partita, die der Russe draußen immer auf der Balalaika spielt. Eine Dame, die ihre Lesebrille vergessen zu haben scheint, liest ihrer Begleiterin das gesamte Programmheft vor, wundert sich über das kontrastierende Seifenthema und fragt sich, was eigentlich ein Kontrapunkt ist (hier nachblättern). Und auf dem Podium gibt es, nach zweimal neun Symphonien im Großen Saal, Beethovens Septett Es-Dur op. 20.
Das ist trotz Tendenz ins Symphonische (etwa durch die Besetzung mit sieben obligaten Stimmen statt heimeliger Instrumentenpärchen) maximal entspannte Musik. Auch wenn Wolfgang Rihm sagt: „Entspannung ist immer unklassisch.“ Im Septett gibt es sowohl ein Menuett als auch ein Scherzo. Das wunderbare Adagio cantabile an zweiter und der Variationensatz an vierter Stelle, der zugegeben in größere Dimensionen strebt, sind die Herzstücke. Der größte Reiz ist aber, dass man hier die vielgerühmten Musiker unseres Weltklassemegaspitzenorchesters ausgiebig als Individuen hören kann, darunter Daishin Kashimoto (Violine) und Wenzel Fuchs (Klarinette). Stefan Dohr zeigt im Trio des Menuetts, wie beweglich ein Horn sein kann.

Featured imageIm Oktett B-Dur (1897) des Brahms-Freundes Ferdinand Heinrich Thieriot, das vor Beethoven gespielt wird, ist das weibsvolkfreie Philharmonische Oktett komplett versammelt, inklusive Romano Tommasini als zweitem Geiger. Ein aufsteigendes, sympathisch schunkeliges Thema im 3/4-Takt zieht sich durch den ersten Satz. Gelegentliche dramatische Einbrüche meinen es nicht böse mit dem Hörer, treiben es nie auf die Spitze. Aber keinesfalls kann man sie als Seifenthemen bezeichnen. Im Intermezzo haben die drei Bläser viel Raum zur Entfaltung, auch Mor Biron am Fagott. Im Adagio, das die schönsten Passagen des Oktetts enthält, glänzt Christoph Igelbrink am Cello, das zur Pizzicatobegleitung herzergreifend singt. Am Schluss gibt es ein Tänzchen statt großem dramatischem Finale: freundliche Musik, die man gerne hört. Erstens weil sie angenehm zu hören ist, zweitens weil es immer lohnt zu lernen, was es „sonst so gab“, und drittens, weil einem wieder mal einleuchtet, warum Brahms Brahms war. Aber nichts gegen Thieriot!

Und schon gar nichts gegen die 1967 geborene serbische Komponistin Isidora Žebeljan, deren hochspaßige Needle Soup mit der rätselhaften Spielanweisung Spuntado das Salz in der Suppe dieses Abends ist: ein Auftragswerk des Philharmonischen Oktetts als Uraufführung. Der Titel bezieht sich auf ein Balkanmärchen, in dem sich ein armer, aber listiger Vagabund von einem reichen Geizkragen eine köstliche Suppe zubereiten lässt. Am Anfang erinnert das Stück an Musik von Goran Bregović zu einem Kusturica-Film. Bald treten avantgardistische Spieltechniken hinzu oder auch mal ein grummeliges Binnenquintett für Bratsche (Amihai Grosz), Cello, Kontrabass (Esko Laine), Horn und Fagott. Alles in klar gegliederten, charakteristischen Abschnitten, die für ein perfektes dramatisches Gespür der Komponistin sprechen. Eine Kinderoper von dieser Komponistin wäre eine tolle Sache: Komische Oper, bitte einen Auftrag erteilen.

Zur Startseite von hundert11 – Konzertgänger in Berlin

1. Juni 2015 – Lächelnd: Akademie für Alte Musik mit George(s) Onslow und Schubert

Onslow, heißt es seit kurzem (fast) überall, Georges Onslow! Manchmal auch George Onslow, das ist bei diesem französischen Sohn eines englischen Adligen unklar. In Venedig gab es im Frühling sogar ein ganzes Onslow-Festival! Der Konzertgänger hat das Gefühl, als einziger Mensch auf der Welt noch nie Musik von George(s) Onslow gehört zu haben. Aber in Berlin kann man das zum Glück schnell ändern, ganz ohne Youtube:  Die Akademie für Alte Musik stellt Onslow, kombiniert mit Schubert, im Kleinen Saal des Konzerthauses vor.

Featured imageDass Onslow (1784-1853) immer wieder als der französische Beethoven bezeichnet wird, sollte man sofort wieder vergessen, auch wenn er wie der Meister ertaubte, allerdings nur auf einem Ohr und durch eine Gewehrkugel. Die Akademie spielt nicht das Quintett Nr. 15 c-Moll De la balle (Kugelquintett), sondern ein spätes Nonett. Denn obwohl er auch vier Symphonien und mehrere Opern geschrieben hat, ist Onslow, wie man erfährt, vor allem ein Meister der Kammermusik. Trotzdem hat er nicht mal ein eigenes Kapitel im berühmt-berüchtigten altfränkischen Reclam-Kammermusikführer, der im straffen 50er-Jahre-Geist noch das abseitigste oder sperrigste Werk auf eine ordentliche Sonatensatzform hinunterbiegt. Wer wird sich wohl ein unbekanntes Nonett anhören, wenn heutzutage schon die bekannten Nonette (Louis Spohr) unbekannt sind?

Mehr Leute, als man denkt! Jedenfalls mehr als das versprengte Häuflein Islamkritiker, die als „Bärgida“ den Verkehr rund ums Kanzleramt behindern; mit dem Fahrrad kommt man trotzdem problemlos zum Konzerthaus. Der Kleine Saal ist ordentlich gefüllt, umso erfreulicher, als die Akademie für Alte Musik das Programm an drei Abenden spielt – was der Musik entschieden besser bekommt, als es ein Abend im Großen Saal täte.

George(s) Onslows Nonett a-Moll op. 77 (1848) würde bestens in den Reclam-Führer passen, denn wie man sofort hört, ist es schulbuchmäßig wiener-klassisch-sonatenhaupt-viersätzig aufgebaut, mit energischem Hauptthema, lyrischem Seitenthema usw. Das ist aber ziemlich wurst, denn dem Nonett fehlt jede klassizistische Betulichkeit und vor allem die deutsche Ängstlichkeit vor dem großen Beethoven, es hat den begeisternden Schwung einer hochkarätigen Kaffeehaus-Zigeuner-Jazzkapelle: Musik, die lächelt, ohne doof zu sein. Der ungediegene, rauhe Schwung der neun historisch informierten Musiker (4 Streicher mit schwangerer Primaria, 4 Holzbläser, Horn) tut dieser coolen Musik gut, die glattgebügelt vom Klassikradio missbraucht werden könnte. Besonders schön der Variationensatz an dritter Stelle, in dem die Streicher und Bläser bald einzeln hervor, bald als freundliche Blöcke einander gegenüber treten. Es gibt packende dramatische Bewegung und rührende Momente des Innehaltens, aber alles ohne Brahms-Schwere. Man sieht die Musiker viel lächeln, offenbar macht es glücklich, Onslow zu spielen. Onslow zu hören macht auch glücklich. Wie konnte diese Musik je in Vergessenheit geraten? Sie ist einfach unter die Räder des Fortschritts-Zwangs geraten; aber man kann sie wieder hervorziehen, völlig unversehrt. Mehr Onslow, bitte!

Bei Schuberts Oktett F-Dur op. 103 D 803 (1824) dann zunächst weniger Lächeln, mehr selige Blicke. Wenn Onslow im besten Sinn kammermusikantisch ist, klingt Schuberts Oktett teilweise nach transkribierter Symphonie, was es ja in gewisser Weise auch ist: …überhaupt will ich mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen, schrieb Schubert über seine „späte“ (im Alter von 27 komponierte!) Kammermusik. Hat das je einer orchestriert, so wie Schönberg das Klavierquartett von Brahms? Es bietet sich an, wäre aber schade drum, denn es ist ja weit mehr als ein Anbahnungsversuch. Angesichts des strahlenden Klarinettenklangs, auch beim schönen Horn-Moment gegen Ende des ersten Satzes fragt man sich, warum Schubert sonst die Bläser so vernachlässigt hat. Im Adagio ein Hauch von Ave Maria; im Scherzo kehrt dann das Lächeln auf alle Gesichter zurück, beim Konzertgänger sogar Freudentränen. Der dräuende Beginn des sechsten und letzten Satzes ist dann nochmal ganz große Symphonie. Einziges Manko des reinen Schubertglücks: dass diese Unendlichkeit nach 60 Minuten zu Ende ist.

Zum Konzert

Akademie für Alte Musik