Onslow, heißt es seit kurzem (fast) überall, Georges Onslow! Manchmal auch George Onslow, das ist bei diesem französischen Sohn eines englischen Adligen unklar. In Venedig gab es im Frühling sogar ein ganzes Onslow-Festival! Der Konzertgänger hat das Gefühl, als einziger Mensch auf der Welt noch nie Musik von George(s) Onslow gehört zu haben. Aber in Berlin kann man das zum Glück schnell ändern, ganz ohne Youtube: Die Akademie für Alte Musik stellt Onslow, kombiniert mit Schubert, im Kleinen Saal des Konzerthauses vor.
Dass Onslow (1784-1853) immer wieder als der französische Beethoven bezeichnet wird, sollte man sofort wieder vergessen, auch wenn er wie der Meister ertaubte, allerdings nur auf einem Ohr und durch eine Gewehrkugel. Die Akademie spielt nicht das Quintett Nr. 15 c-Moll De la balle (Kugelquintett), sondern ein spätes Nonett. Denn obwohl er auch vier Symphonien und mehrere Opern geschrieben hat, ist Onslow, wie man erfährt, vor allem ein Meister der Kammermusik. Trotzdem hat er nicht mal ein eigenes Kapitel im berühmt-berüchtigten altfränkischen Reclam-Kammermusikführer, der im straffen 50er-Jahre-Geist noch das abseitigste oder sperrigste Werk auf eine ordentliche Sonatensatzform hinunterbiegt. Wer wird sich wohl ein unbekanntes Nonett anhören, wenn heutzutage schon die bekannten Nonette (Louis Spohr) unbekannt sind?
Mehr Leute, als man denkt! Jedenfalls mehr als das versprengte Häuflein Islamkritiker, die als „Bärgida“ den Verkehr rund ums Kanzleramt behindern; mit dem Fahrrad kommt man trotzdem problemlos zum Konzerthaus. Der Kleine Saal ist ordentlich gefüllt, umso erfreulicher, als die Akademie für Alte Musik das Programm an drei Abenden spielt – was der Musik entschieden besser bekommt, als es ein Abend im Großen Saal täte.
George(s) Onslows Nonett a-Moll op. 77 (1848) würde bestens in den Reclam-Führer passen, denn wie man sofort hört, ist es schulbuchmäßig wiener-klassisch-sonatenhaupt-viersätzig aufgebaut, mit energischem Hauptthema, lyrischem Seitenthema usw. Das ist aber ziemlich wurst, denn dem Nonett fehlt jede klassizistische Betulichkeit und vor allem die deutsche Ängstlichkeit vor dem großen Beethoven, es hat den begeisternden Schwung einer hochkarätigen Kaffeehaus-Zigeuner-Jazzkapelle: Musik, die lächelt, ohne doof zu sein. Der ungediegene, rauhe Schwung der neun historisch informierten Musiker (4 Streicher mit schwangerer Primaria, 4 Holzbläser, Horn) tut dieser coolen Musik gut, die glattgebügelt vom Klassikradio missbraucht werden könnte. Besonders schön der Variationensatz an dritter Stelle, in dem die Streicher und Bläser bald einzeln hervor, bald als freundliche Blöcke einander gegenüber treten. Es gibt packende dramatische Bewegung und rührende Momente des Innehaltens, aber alles ohne Brahms-Schwere. Man sieht die Musiker viel lächeln, offenbar macht es glücklich, Onslow zu spielen. Onslow zu hören macht auch glücklich. Wie konnte diese Musik je in Vergessenheit geraten? Sie ist einfach unter die Räder des Fortschritts-Zwangs geraten; aber man kann sie wieder hervorziehen, völlig unversehrt. Mehr Onslow, bitte!
Bei Schuberts Oktett F-Dur op. 103 D 803 (1824) dann zunächst weniger Lächeln, mehr selige Blicke. Wenn Onslow im besten Sinn kammermusikantisch ist, klingt Schuberts Oktett teilweise nach transkribierter Symphonie, was es ja in gewisser Weise auch ist: …überhaupt will ich mir auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen, schrieb Schubert über seine „späte“ (im Alter von 27 komponierte!) Kammermusik. Hat das je einer orchestriert, so wie Schönberg das Klavierquartett von Brahms? Es bietet sich an, wäre aber schade drum, denn es ist ja weit mehr als ein Anbahnungsversuch. Angesichts des strahlenden Klarinettenklangs, auch beim schönen Horn-Moment gegen Ende des ersten Satzes fragt man sich, warum Schubert sonst die Bläser so vernachlässigt hat. Im Adagio ein Hauch von Ave Maria; im Scherzo kehrt dann das Lächeln auf alle Gesichter zurück, beim Konzertgänger sogar Freudentränen. Der dräuende Beginn des sechsten und letzten Satzes ist dann nochmal ganz große Symphonie. Einziges Manko des reinen Schubertglücks: dass diese Unendlichkeit nach 60 Minuten zu Ende ist.