In Berlin sind jeden Tag Musikfestspiele. Man kann morgens zu András Schiff gehen, nachmittags zum Mitsingkonzert des Rundfunkchors (oder eine Stippvisite bei der Familie machen) und abends zu den Berliner Philharmonikern unter Haitink.
Bernard Haitink dirigiert statt des ursprünglich geplanten Lorin Maazel, der vor einem knappen Jahr verstorben ist. Dem Andenken Maazels ist, wie es sich gehört, das Konzert gewidmet; im Mittelpunkt steht allerdings keine weihevolle Trauermusik, sondern ein drastisches Todes-Werk, Schostakowitschs letzte Symphonie.
Zuvor gibt es aber Franz Schuberts 5. Symphonie in B-Dur. Die Philharmoniker spielen sie in kleiner Besetzung, mit durchgehend zartem Klang, den man noch lieber im Kammermusiksaal hören würde – die herrlich leichte Flöte verliert sich etwas im Saal. Angeblich eine sehr helle Symphonie, fallen doch schon im Kopfsatz die kurzen Moll-Einwürfe auf. Im zweiten Satz wirkt die Musik fast zerbrechlich; in den Bassfiguren scheint sich etwas sanft Bedrohliches heranzuschleichen. Aber es kommt erstmal nicht, auch nicht im zart grimmigen Moll-Scherzo (das sehr deutlich nach dem Menuett aus Mozarts g-Moll-Symphonie klingt). Bei Schostakowitsch denkt man schließlich daran zurück, wie an die Flöte im Kopfsatz, es wirkt im Nachhinein wie eine Vorahnung.
Wenn Schuberts Fünfte trotzdem Aufwärts-Musik ist, zumal im ersten und vierten Satz, dann ist Schostakowitschs 15. Symphonie Abwärts-Musik hoch zehn. Sie ist klassisch viersätzig, aber dieses Gerüst ist ein Skelett. Der erste Satz, der mit Glöckchen und Flöte beginnt, ist selbst für Schostakowitschs Verhältnisse ein koboldhaftes Feuerwerk von Sarkasmen, nicht erst mit dem bizarren Hereintröten von Rossinis Wilhelm Tell-Ouvertüre. Nach all dem spaßigen Grauen, den gehetzten einsamen Fiedeln und Pfeifen inmitten des Fanfarenschnarrens und Marschierens ist der Konzertgänger im Grunde erledigt.
Dabei folgt nun erst der zweite Satz, mit dem verglichen das Lied von der Erde ein heiteres Frühlingsständchen ist. Ein schwarzer Bläserchoral tritt im Wechsel zum klagenden Cello in gequält hoher Lage. Später „kommunizieren“ die Flöten mit Posaune und Tuba. Die Streicher verirren sich in Momente von Zwölftönigkeit. Tausend Formen des Stillstands, trotz eines kurzen Tutti, das auch bloß ins Grauen führt; am Ende kommt ein morbides Ticken dazu, ein gruseliger Dur-Akkord, Klingklang von Celesta und Marimbaphon, ein letztes Posaunenkeuchen.
Nach dem dritten Satz, in dem Fiedel und Klarinette sogar den Totentanz auf der Stelle treten lassen, beginnt der vierte Satz mit der Todesverkündigung aus der Walküre. Die Klangfarben changieren zwischen Pechschwarz, Rabenschwarz und Schwarz-wie-die-Nacht, bis zum zappendusteren Schlusstänzchen von Trommeln, Triangel, Glockenspiel, Xylophon, Kastagnetten: Knochenklappern und Totenglöckchen, vielleicht auch eine Herz-Lungen-Maschine, wie angesichts von Schostakowitschs Krankheit vermutet wurde. Wie Totenglöckchen klingen auch die bimmelnden Handys aus dem Publikum, vom Todesröcheln zwischen den Sätzen zu schweigen. Minimal Music auf Sowjetisch! Aber das ist kein Einwand, sondern Bewunderung für Schostakowitschs manisch reduziertes Spätwerk. Diese Musik ist ja die Bilanz eines grauenvollen halben Jahrhunderts, Stalin in der Erinnerung, Herz-Lungen-Lähmung in der Gegenwart: folgerichtig, dass da auch die Musik zum Gerippe wird, an dem nur noch alle möglichen Fetzen hängen.
Seltsamer, fast geschmackloser Nebeneffekt: Dass die Musik so zerfetzt ist, gibt vielen Philharmonikern Gelegenheit, solistisch zu brillieren. Virtuosen von der Tuba bis zur Piccoloflöte! Der Philharmonikerglanz ist für diese Schwärze einmal gut verwendet. Haitink am Pult entfaltet die schwarze Landschaft souverän.
Auf dem Heimweg radelt der Konzertgänger am Landwehrkanal heim, nur für den Fall, dass einige unbedarft in dieses Konzert geratene Touristen sich ins Wasser gestürzt haben. Eine laue Sommernacht, keine Wasserleichen zu sehen, es sind wohl alle noch etwas trinken gegangen.