Hochkulti und Subkulti

Die leichte und die allerhöchste Muse nah am Grauen gebaut, Subkultis im eingemauerten Laboratorium und das neue Berlinlied mit Migrationshintergrund: Berlin in der Musik – von Frau Luna und dem in Auschwitz vergasten Tauentzien-Besinger Willy Rosen über Nina Hagen und David Bowie bis zu avantgardistischem Nachtigalltrapsen und dem Stadtaffen Peter Fox. Mein Artikel jetzt in der neuen Ausgabe von 128 – Das Magazin der Berliner Philharmoniker. Irgendwann hoffentlich auch in digitaler Form erhältlich, aber zumindest rinkieken könnse online. (Und bestellen sowieso.)

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Intermezzo: Die trunkene Fahrt

Die trunkene FahrtHinweis in eigener Sache: Der Konzertgänger hat einen Roman geschrieben, der heute erscheint.

DIE TRUNKENE FAHRT ist ein Capriccio über die Gebirgstour von vier Männern (ein verlotterter Musikkritiker, ein jähzorniger Pianist, ein trotteliger Jurastudent, ein großspuriger Lehrer), das mit einem Crescendo dal niente beginnt, einen schönen Sommertag lang dauert und mit einem Diminuendo al niente endet. Es handelt sowohl von den letzten Dingen als auch vom letzten Krempel. Denn (Achtung, Merkspruch) das Leben, es gleicht einer trunkenen Fahrt. Es lässt sich auf ihr Unendlichkeit schlürfen, aber manchmal wird es auch ziemlich eng, vor allem, wenn man zu viert in einem Fiat Panda sitzt.

DIE TRUNKENE FAHRT wurde von Kritikern sowohl gelobt (SPIEGEL) als auch verrissen (Saarbrücker Zeitung).

Erhältlich in jeder Buchhandlung, offline wie online; natürlich auch als E-Book.

Weitere Informationen beim Rowohlt-Verlag

29.1.2016 – Feinsinnig-orgiastisch: RSB spielt Debussy und Dutilleux

Manchmal hat Schrott sein Gutes: Vor einer Woche war beim ULTRASCHALL-Festival für neue Musik im Heimathafen Neukölln eine Synthie-Version des Nachmittags eines Fauns zu hören, die die Fingernägel kräuseln machte – natürlich parodistisch gemeint, trotzdem unentschuldbar. Wenn nun im Konzerthaus echte Holzbläser den einstimmigen Beginn von Claude Debussys Le Martyre de Saint Sébastien anstimmen, genießt man den schillernden Klang selbst einer so spröden Linie. Das kann nur Orchester – und das Rundfunk-Sinfonieorchester besonders.

Debussy hat diese merkwürdige Musik auf einen schwülstigen Text von Gabriele d’Annunzio komponiert, den man besser nicht liest, weil er sonst an der Musik zu kleben droht. Besser schließt man die Augen und denkt hörend an den Heiligen Sebastian von Botticelli (oder Antonello da Messina oder Mantegna). Der Beginn erinnert fast an Erik Satie, spätere Passagen an die Himmelfahrtsmusik von Messiaen; das Finale Le bon Pasteur hat was von fieser religiöser Schmonzette, aber herrliche Klangmischungen.

Marek Janowski wirkt zwar immer wie ein teutonischer Knurrhahn, aber seine Pingeligkeit ist genau das Richtige für diese Musik, die erst durch Präzision ins Fließen gerät. Auch in La Mer nichts Verschwommenes oder Sfumatohaftes, stattdessen ein perfekt aufgefächertes, sehr bewegliches Klangbild. Das Stück handelt ja ohnehin nicht vom Meer, höchstens von der Meeresoberfläche, von Licht und Bewegung, es könnte ebensogut La Neige heißen. (Bei Strauss würde eine Tondichtung Das Meer brausen und nach Fisch stinken, bei Ravel endlose Tiefe evozieren, in der Wale und Fabelwesen unter dem schlafenden Seemann durch die ewige Dunkelheit ziehen.) Allerdings zielt Janowski nicht auf Gleichgewicht, wie sich im hochgradig geschärften Finale zeigt, das die Cellisten druckvoll beginnen: Der Dialogue du vent et de la mer ist eher ein Kampf, Schönheit und Schrecken liegen nah beieinander. Der Schluss knallt, als wär’s La Valse. Mitreißend.

Die Debussy-Stücke rahmen an diesem französischen Abend zwei Werke von Henri Dutilleux (1916-2013), von dem Wissende wissen wollen, dass seine Musik länger überdauern werde als die von Boulez. Auf jeden Fall entfaltet sich in ihr ein Orchesterzauber, dem gegenüber Debussy fast eindimensional klingt: feinsinnige Orgien für Klangfarbenhedonisten. Außerdem hatte er einen besseren Literaturgeschmack als Debussy. Das Cellokonzert „Tout un monde lointain…“ ist von Baudelaire-Versen inspiriert, aber in einem eher assoziativen Verhältnis, ein zusätzliches Angebot für den Bilder und Begriffe suchenden Hörer, ähnlich wie bei Debussy und dem Meer. Die RSB-Cellistin Konstanze von Gutzeit beweist eindrucksvoll, dass dieses Orchester überhaupt keine externen Solisten nötig hätte; es sei denn aus Vermarktungsgründen. (Allerdings, wenn es um Marketing geht: Eine attraktivere Cellistin als Gutzeit gibt es nicht mal in Südamerika; diese musikalisch irrelevante Bemerkung nur am Rande.) Das Cello brilliert von vollen und inbrünstigen Klängen (Dutilleux komponierte für Rostropowitsch…) bis zu ganz gläsernen und zerbrechlichen Passagen, während das Orchester immer neue, immer subtilere Mischklänge hervorbringt.

In den Métaboles, ohne literarische Referenz, treten die Orchestergruppen wechselweise, aber nicht strikt getrennt hervor, bevor sie sich in einem betörenden glanz- und lustvollen Klangrausch vereinigen. Das ist viel mehr als ein glorioser Qualitätsnachweis für ein Orchester – aber es ist auch das.

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22.1.2016 – Klangredlich bis infernalisch: Ultraschall in Kreuzberg und Neukölln

Ultraschall Berlin, das Festival für neue Musik wandert durch Berlin, und der Konzertgänger zieht mit – nur nach Oberschöneweide hat seine Familie ihn nicht gelassen: Nach dem Auftakt im Westend und einer Expedition ins DDR-Funkhaus Nalepastraße ging es am Freitag nach Kreuzberg in die Heilig-Kreuz-Kirche und nach Neukölln in den Heimathafen – zeitgenössische Musik einmal klassisch (sehr überzeugend) und einmal heiter bis infernalisch (durchwachsen).

Heilig-Kreuz-Kirche Kreuzberg

Wie über neue Musik gesprochen wird, ist oft das größere Problem als wie sie klingt – die Lektüre von Gegenwartsmusikprogrammen ist meist erheiternd bis quälend. In dem Kreuzberger Konzert, das drei in Berlin lebende Komponisten vorstellt, werden die Schöpfer ans Mikrofon bestellt und fühlen sich erkennbar unwohl: Einer bringt es nüchtern hinter sich. Einer erklärt sogleich, dass man über Musik nicht so viel reden solle (spricht dann aber doch eloquent über sequenzielle Prozesse etc). Einer bleibt stecken und verstummt nahezu, als er  nach seinem Verhältnis zu Bruckner gefragt wird. Macht nichts – denn die Musik klingt durchweg inspiriert.

Je zwei Werke spielt das hervorragende elfköpfige Zafraan Ensemble mit schwangerer Harfenistin (was immer ein gutes Omen für ein Konzert ist) unter der Leitung von Titus Engel (der mit seiner lustigen Fransenfrisur als TV-Dirigent übergecastet wirken würde): ein älteres für kleinere Besetzung und ein aktuelles fürs ganze Ensemble als Uraufführung. Alles unter dem etwas gesuchten Leitbegriff Klangrede, der es aber insofern doch trifft, als alle Stücke ohne Erläuterung für sich selbst sprechen.

Das Quintett des Israeli Eres Holz überzeugt nicht nur durch seinen Verzicht auf einen aufgeblasenen Titel, sondern durch seinen geschmeidigen, sehr homogenen Klang – man meint, den Geist des Madrigalgesangs zu spüren, von dem der erfahrene Chorsänger Holz schwärmt. Holz‘ neues Werk Kataklothes bezieht sich auf eine homerische Bezeichnung für die Moiren und spinnt tatsächlich, als wär’s Gesualdo, einen Klang aus dem anderen; keinen Moment verliert der Konzertgänger das Interesse. Selbst wenn Holz zwei schöne Schlüsse verpasst – der dritte klingt auch gut.

Das Klaviertrio des Deutschen Johannes Boris Borowski (der momentan ein Klavierkonzert für Daniel Barenboim komponiert) ist klassisch besetzt und klingt exakt drei Töne lang nach Brahms; danach wird’s etwas pfriemelig, auch wenn die Instrumente sehr gekonnt interagieren und die Streicher tolle Glissandi haben. Auch dieses Stück verpasst einen guten Schluss, dafür gibt es einen langen Flageolett-Diskant-Epilog. – Spektakulär ist Borowskis Ensemble-Stück Dex: Unter dem schlechthin statischen Klang eines Kuckucksrufs, vom Pianisten geflötet, versucht die Musik sich zu regen, bis sie einen heftigen Push bekommt (wie Bergsteiger durch eine Injektion Dexamethason) und abgeht wie der Gehörnte – um am Ende wieder alle Luft zu verlieren. Die Kuckucksrufe werden immer länger und kläglicher, dazu quakt so etwas wie ein Ochsenfrosch, vielleicht als Hadesbegleiter.

Viel Spaß macht auch die Musik des Schweizers Stefan Keller, der die Tabla zu spielen versteht und in Jeans und Schluffpulli tiefe Abgeklärtheit ausstrahlt. Sein Stück Hammer für die Jazzbesetzung Saxophon, Klavier, Schlagzeug hämmert nicht, sondern mäandert eher. Das Saxophon klingt stellenweise wie improvisiert, spielt Mini-Motive aus 2 oder 3 Tönen, die plötzlich explodieren. Im Vergleich zu Holz und Borowski wirkt Kellers Musik etwas additiver, dafür verpasst sie keinen Schluss. Der Titel Soma oder die Lust am Fallenlassen mag etwas zeigefingrig sein, aber man lässt sich gerne fallen, lehnt sich zumindest zurück und betrachtet durchs Apsisfenster den Mond, während sich der Schlagzeuger Daniel Eichholz die Seele aus dem Leib spielt.

Alles Stücke und Komponisten, die man gerne wiederhören möchte. Zum Konzert.

Heimathafen Neukölln

Was man vom zweiten Konzert im überfüllten Heimathafen nicht behaupten kann. Dabei beginnt und endet es toll, auch wenn man es am Schluss kaum mehr mitbekommt…

Die Ballate No. 2 & 3 des Italieners Francesco Filidei sind zarte Klangskulpturen voller Flirren und Ratschen, zunächst fast besinnlich, dann auch theatralisch und turbulent. Die Ballata 3 ist ein subtiles Klavierkonzert, in dem der Pianist Ernst Surberg unmerklich virtuos den Solistenpart übernimmt. Das ensemble mosaik unter der Leitung des Komponisten-Dirigenten Enno Poppe (der im Lustige-Frisuren-Wettbewerb Titus Engel noch aussticht) ist prädestiniert für diese völlig entschlackte, trotzdem feinsinnige und physische Musik. – Auch entschlackt, aber enttäuschend ist dagegen Filideis Bühnenwerk L’Opera (forse), in dem ein Sprecher und sechs Musiker ohne Instrumente die Geschichte von der Liebe einer Nachtigall und eines Karpfens erzählen. Ornitho-ichthyologische Geräuschmusik mit Flaschenblasen und Besteckklappern: hübsche Kleinkunst, der doch das gewisse Etwas fehlt. Sicher auch aufgrund des schwachen Texts und der bemühten Heiterkeit des Sprechers, die den Humorcharme von bundesrepublikanischem 50er-Jahre-Fernsehen ausstrahlt. Außerdem hält keine Vogelmusik dem Vergleich stand, den man als Hörer mit der Erinnerung an die Vogelstimmen eines Frühlingsmorgens oder den Gesang einer Nachtigall im Gebüsch neben der Philharmonie anstellt.

Zur Geduldsprobe wird dann die Solo-Performance des Schlagzeugers Håkon Stene, auch wenn der garantiert ein Spitzenmusiker ist. Matthew Shlomowitz‘ Popular Contexts, Volume 8: Five Soundscapes for a contemporary percussionist verbindet isolierte Alltagsgeräusche (Bus, Flugzeug, Motorsäge, Gewitter usw.) notdürftig mit glöckchenlastigen Schlagzeug-Einlagen. Jeder Spaziergang auf der Neuköllner Karl-Marx-Straße ist akustisch interessanter. Schlimm wird es, als Stene zu einem L’après-midi-d’un-faune-Verschnitt trommeln muss. Das Finale klingt zwar, als träfen sich Edgar Varèse, Slayer und die Teletubbies zu einem Gig, also gar nicht schlecht, aber das Stück ist gelaufen. – In Trond Reinholdtsens ulkig-zornigem Inferno muss Stene sich auf andere Weise verausgaben: hinsetzen, aufstehen, rumrennen. Als Schlagzeuger hat er dagegen nur Knöpfe zu drücken, die trommlerische Höllenmaschinen in Gang setzen. Dazu gibt es auf Video Material- und Formstudien eines schlecht verkleideten Gorillas, wie man sie tatsächlich von manchem Neue-Musik-Konzert kennt: pantschen, mantschen, rühren, klöppeln. Als der Gorilla schließlich zur scheppernden Meistersinger-Ouvertüre 13 Minuten lang ein Riesenomelett backt und verspeist, leert sich der Saal rapide. Die Zumutung ist so gewaltig, dass sie schon etwas Großartiges hat. Nur musikalisch ist diese Video-Theater-Installation einfach nicht von Belang.

Leider gerät das interessante letzte Stück des Abends dadurch unter die  Räder. Die Irin Karen Power hat für veiled babble die Stadt Berlin aus dem Wasser belauscht und die Hydrophon-Aufnahmen mit spärlichen Instrumentalklängen verwoben. Diese den Hörer umkreisenden und in Trance versetzenden erlesenen Klanggebilde, durch die Saxophon und Bassflöte dringen wie ferne Nebelhörner, hätten frischere Ohren verdient, sie würden eine Empfänglichkeit und Sensibilität des Hörers erfordern, mit der es nach dem Inferno nicht mehr weit her ist. Stattdessen beginnt der Nachbar des Konzertgängers zu schnarchen. Schade um das Stück, weniger mehr gewesen. Zum Konzert

Samstag und Sonntag geht’s weiter im Radialsystem.

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Berliner hören günstiger

Mag auch unser Mietspiegel durch die Decke schießen, und das, obwohl unser Flughafen das Gespött der Nation, unser Essen schlecht und unser Umland staubig ist… so können wir doch die h-Moll-Messe zum halben Preis hören wie die Münchner:

Aber sprechen wir lieber von doppelt so günstig. Denn: Es ist die h-Moll-Messe. Es ist die Akademie für Alte Musik. Es sind hervorragende Solisten und ein großartiger Jugendchor.

Für Madonna im November gibt es „Premium-Tickets ab 199 Euro“. Für diesen Preis kann der Münchner zwölf Freunde zur h-Moll-Messe mitnehmen und hat noch Geld für einen Cappuccino zu Münchner Preisen übrig.

Aber der Berliner nimmt achtundzwanzig Freunde mit, hat noch Geld für einen Döner und drückt das Kleingeld einem Motzverkäufer in die Hand.

Anmerkung: Die Akademie für Alte Musik weist zurecht  auf die unterschiedlichen Spielorte hin, in Berlin die Gethsemanekirche, in München der Herkulessaal. Es wäre interessant, beide Konzerte im Vergleich zu hören.

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