Musikfest 2019: BBC Symphony Orchestra von A bis Z

„BBC“ stands for Beloved British Colourfulness

So eine Freude, in Zeiten des Brexit-Chaos (nichts daran ist lustig – eine Tragödie!) diese großartigen Musiker von der durch und durch europäischen Insel Großbritannien zu erleben. Das BBC Symphony Orchestra spielt unter seinem finnischen Chefdirigenten Sakari Oramo ein herrliches Programm von A wie Abba bis Z wie Zappa, genauer gesagt von Andriessen bis Zibelius: mit niederländischen, russischen, österreichischen und finnischen Komponist(inn)en. Die BBC-Musiker tragen Namen von Alzapiedi bis Zarb, und ein norwegischer Trompeter namens HH ist auch dabei.

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(Noch?): Seong-Jin Cho im Kammermusiksaal

Erstaunlicher, aber (noch?) nicht unangenehmer Trubel beim Klavierabend von Seong-Jin Cho, dem letzten Sieger des alle fünf Jahre stattfindenden Chopin-Wettbewerbs und kürzlichen Lang-Lang-Einspringer. Cho ist Charts-, aber kein Bilder-Stürmer, eher museal ist sein Programm mit Schubert, Mussorgsky, Debussy sowie Zugabe Brahms (aber ohne Chopin). Halb Südkorea scheint anwesend, ein bisschen gehts im Kammermusiksaal zu wie im Louvre vor der Mona Lisa. Die Fanschar ist allerdings konzentriert und diszipliniert bei der Sache, davon könnte sich das sonstige Berliner Publikum ein Scheibchen abschneiden. Rein musikalisch hingegen ists (noch?) so lala.

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Promenierend: Berliner Philharmoniker, Sokhiev, Bronfman spielen Prokofjew, Beethoven, Mussorgsky/Ravel

Zu Zweidritteln perfekt kindergeeignetes Programm bei den Berliner Philharmonikern, zu dem der Konzertgänger denn auch (Artemisquartett im Kammermusiksaal hin oder her) tiefstenentspannt mit seiner höchstgeschätzten Tochter promeniert, um’s von knapp unter der Saaldecke zu goutieren. Tugan Sokhiev dirigiert, stets gern gesehener Gast. Der rote Faden des Programms bleibt ein bissl scheinig, wischiwaschi, ein Genuss ist es aber allemal, und wischiwaschigen Klang gibts bei Sokhiev nie. Weiterlesen

Vernichtungsblühend: Berliner Philharmoniker, Antonio Pappano, Véronique Gens mit Ravel, Duparc, Mussorgsky, Skrjabin

Für den Konzertgänger immer ein Extrapunkt, wenn bei den Berliner Philharmonikern ein Komponist auf dem Programm steht, von dem er noch nie gehört hat. Das ist der Fall beim ersten Gastdirigat von Antonio Pappano seit 12 Jahren. Mag das Orchester den Pappano nicht, wie Brug meinte? Und ist der Konzertgänger der einzige im Saal, der den Franzosen Henri Duparc (1848-1933) nicht kennt? Fragen über Fragen.

Auf die man gar keine Antwort mehr will, wenn die hinreißende Sopranistin Véronique Gens singt. Weiterlesen

Schlürfend: Saisonschlüsse im Konzerthaus und an der Komischen Oper

So wie der nördliche Mensch im Herbst Sonne schlürft, um den endlosen Winter zu überstehen, schlürft der Konzertgänger im Juli Musik, um die endlose Sommerpause zu überstehen. Zweimal am Wochenende: Die Komische Oper spielte zum Abschluss ihres Neuproduktions-Festivals Mussorgskys Jahrmarkt von Sorotschinzi (mehr dazu unten), und im KONZERTHAUS gabs ein Programm mit Musik und Sonne.

Und, wichtiger als Sonne: Sommernacht. Kein Open-Air-Quatsch, sondern ein schönes spanisch-baskisches Programm des Konzerthausorchesters mit dem spanischen Dirigenten Josep Pons und zwei hinreißenden Sängerinnen. Wobei hinreißend, frei nach Loriot, das künstlerische Gesamtkonzept ist; rein sängerisch hinreißend ist zumindest eine der beiden. Weiterlesen

Basskreiselnd: Mussorgskys „Boris Godunow“ an der Deutschen Oper

Dieser neue Boris Godunow an der Deutschen Oper hat ein offensichtliches und ein offenhörliches Zentrum. Das offensichtliche ist ein bunter Kreisel: kein Brummkreisel, sondern ein schaurig stummer. Das offenhörliche sind die farbigen Bässe: keine Brummbässe, sondern melosströmende.

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Episch: „Boris Godunow“ im Moskauer Bolschoi-Theater

Der Konzertgänger macht mal den Opernflieger: Modest Mussorgskys Boris Godunow da, wo er von Rechts wegen hingehört, im Bolschoi-Theater in Moskau. Große Freude, gelinder Kulturschock. Das Ganze im Rahmen einer Reise zum Tschechow-Festival, wo die Komische Oper ihre Zauberflöte aufführt (Bericht im VAN-Magazin folgt).

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6.3.2016 – Bildhaft: Mit Juri, Mussorgsky und dem RSB im Museum

Die Tochter des Konzertgängers steht zwar klassischen Konzerten prinzipiell skeptisch gegenüber, weil es da zu wenig schicke Kostüme gibt. Museen allerdings schätzt sie so sehr, dass man sie locken kann: „Wenn du jetzt Geige übst, geh ich nachher mit dir ins Museum!“ Ein für den Vater unbegreifliches und vermutlich weltweit singuläres Phänomen. Auf ein Konzert, in dem es um ein Museum geht, lässt sie sich also huldvoll ein. Zumal wenn es von dem aus dem Baumhaus wohlbeleumundeten Kika-Moderator Juri Tetzlaff moderiert wird; die Erkenntnis, dass es Menschen aus dem Fernsehen in echt gibt, wirkt ja auch auf Erwachsene oft magisch.

Hat es Modest Mussorgsky wirklich gegeben? Da ist der Konzertgänger, wie bei anderen Komponisten, nicht sicher. (Den künstlichen Menschen Ravel muss es allerdings gegeben haben, sonst könnte es nicht so eine fantastische Fantasie über ihn geben wie den Ravel-Roman von Jean Echenoz.)

In einem Kinderkonzert ist die Frage müßig, ob der großartige Ravel mit seiner großartigen Instrumentierung Mussorgskys ungehobelte Bilder einer Ausstellung vielleicht großartig verhunzt hat: Orchesterfarben können für Kinder nicht hell genug leuchten; die Freude an Mathis dem Maler kommt dann später, wie Haarausfall und Hüftspeck. Das Rundfunk-Sinfonieorchester (RSB) pinselt im Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks prächtig: die auf dem Ochsenkarren singende Tuba  in Bydlo, die aus Eierschalen schlüpfenden Flöten im Ballett der Küken, die schnarrend bettelnde Trompete in Samuel Goldenberg und Schmuyle – bis das ganze Orchester mit vereinter Wucht das Große Tor von Kiew durchschreitet. Der Dirigent Steffen Tast (an sich RSB-Musiker bei den ersten Geigen) leitet mit sicherer Hand. Schon in die erste Promenade mit ihrem Wechsel von 5/4 und 6/4-Takt lässt er das Orchester flott hineinmarschieren, ganz richtig, mit Kindern schlurft man nicht durchs Museum.

Außerdem ist Tast ein angenehm eloquenter Sidekick für den Moderator Juri  Tetzlaff, der leibhaftig genauso nett wirkt wie in der Glotze. Vor allem überzeugt sein Konzept: In den ersten Stücken wird die Vorstellungskraft der Kinder noch mit Hilfe von projizierten Bildern entzündet (und zwar nicht der Originale von Wiktor Hartmann, die zum größten Teil ohnehin verloren sind, sondern von acht Berliner Schulklassen, die auch die Promenaden pantomimisch darstellen). Aber sobald das jeweilige Stück beginnt, verdunkelt sich die Leinwand. Und nach dem 5. Stück hat die böse Baba Jaga die Bilder geraubt, so dass die Kinder komplett auf ihre eigene Imaginationskraft angewiesen sind!

Schließlich wird die olle Hexe aber mit einem gemeinsamen Zauberspruch Mores gelehrt, und die Bilder purzeln zurück auf die Bühne. In den Köpfen der Kinder tanzen und klingen sie ohnehin.

Der Tochter des Konzertgängers gefällt selbstredend die hühnerfüßige Hütte der Baba Jaga am besten. Sie kündigt an, ab jetzt öfter ins Konzert zu gehen.

Nachtrag: Auf dem Education-Blog des RSB erfährt man mehr über die Arbeit mit Schulklassen unter dem Motto „Mussorgsky neu verföhnt“.

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27.9.2015 – Todestrunken: RSB, Janowski und Matti Salminen mit Reger, Mussorgsky, Sibelius

Heiter wie ein VW-Aktionär ist das Programm, das Marek Janowski mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester im Konzerthaus präsentiert: vorzeitiger Totensonntag im September. Drei schwerstmorbide Werke, komponiert von drei hochgradigen Alkoholikern, serviert der Maestro mit derselben stoischen Miene wie sein buntes Operettenpotpourrie im Frühjahr. Die Musik spricht für sich selbst, auch ohne Ausdruckstanz am Dirigentenpult.

Featured imageDie Bildvorlagen zu Max Regers selten gespielten Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin (1913) harmonieren aufs Innigste mit der berüchtigten Ausmalung des Konzerthauses. Besonders das Gesäß der Najade im Spiel der Wellen hat es dem Konzertgänger angetan. Dabei klingt dieses Vivace-Adagio nicht gerade nach La Mer oder Jeaux d’eau, sondern ist das Gegenteil von freier Tändelei des Wassers, ein durchrhythmisiertes Scherzo. Auch das bumpernde Bacchanale klingt mehr nach teutscher Studentenverbindung als nach Dionysos, man meint dem Komponisten die Burschenschaftlerkappe vom versoffenen Kopf fliegen zu hören. Natürlich darf – auch im Sinne des Abendthemas – Die Toteninsel nicht fehlen, ein nicht gerade subtiles, aber klangmächtiges Musikgemälde. Der Höhepunkt aber ist das erste Stück, Der geigende Eremit: Rainer Wolters gibt den rührseligen Einsiedler, der zwei Streichergruppen (mit und ohne Dämpfer) gegenübertritt. Der Konzertgänger, der sonst heftigen Widerwillen gegen Max Reger verspürt, hört sich das gern an. Und bewundert wieder einmal, wie Marek Janowski und sein Orchester auch ästhetisch Fragwürdiges perfekt durchgearbeitet spielen, um den Horizont ihrer Hörerschaft zu erweitern.

Kein Geringerer als Matti Salminen singt Modest Mussorgskys Lieder und Tänze des Todes (1875-77, hier in der schönen Orchestrierung von Kalevi Aho, 1984). Ob er die vier Lieder gesanglich hinreichend differenziert darbietet, mit der luziden Konzision, die ein richtiger Rezensent erwartet, vermag der Konzertgänger nicht zu beurteilen; auf jeden Fall klingt die unverkennbare Salminenstimme immer noch mächtig beeindruckend, und Salminens Bühnenpräsenz schlägt den Saal in den Bann. Im Wiegenlied reibt der Tod sich die Hände, und niemand wagt Widerspruch, wenn er in der Serenade donnert: Молчи! Ты – моя! Schweig! Du bist mein! Arme Jungfrau, du bist schön, aber was kann man tun? Im Trepak erfriert ein betrunkener Bauer im Schneetreiben, ganz anmutig klingt das, wenn der Bass von Harfe und Holzbläsern begleitet wird. Und der Krieg im letzten Lied Der Feldherr klingt wahrlich nach Krieg. Mussorgsky ist doch ein anderes Kaliber als der Kontrapunktverknoter Reger, denkt der Konzertgänger.

Nach der Pause setzt Jean Sibelius‘ Symphonie Nr. 4 a-Moll (1911) der Herrschaft der Trübsal die Krone auf: herrliche Musik mit einer Extradosis Tritonus, aber auch ein äußerst verstörendes Werk. Es ist, als bereite sich immerzu etwas vor – das dann nie kommt. Alles bricht und reißt ab; wenn man meint, nun endlich beginne der innige Gesang der Oboe oder der Celli, ist es wieder nach ein paar Tönen vorbei. Erst im dritten Satz Il tempo largo entwickelt sich aus der permanenten Aufwärtsbewegung ein großer Höhepunkt, eine gewaltige Klangentfaltung, die aber abrupt endet; nur noch Stillstand auf einem einzigen Ton, Pathétique-Flair. Beim großen Loshopsen im Finale, angestoßen wie schon der Beginn des Kopfsatzes vom Solocello (Konstanze von Gutzeit) und der Violine, schwant dem Hörer bereits, dass dieser Schwung unter Glockengeläut nicht ad astra führen wird. Es geht immer voran, aber nirgendwohin. Irgendwann bleibt die Musik einfach stehen. Alles hat aufgehört, bevor es angefangen hat: auch ein Bild fürs Sterben.

Reger ging ja noch, brummelt ein bestürzter Herr an der Garderobe. Der Konzertgänger hingegen ist begeistert, er geht doch nicht ins Konzert, um fröhlich zu sein: Große Musik, großartig gespielt.

Aufzeichnung des Konzerts am 24. Oktober um 20:04 Uhr im Kulturradio

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