29.1.2016 – Feinsinnig-orgiastisch: RSB spielt Debussy und Dutilleux

Manchmal hat Schrott sein Gutes: Vor einer Woche war beim ULTRASCHALL-Festival für neue Musik im Heimathafen Neukölln eine Synthie-Version des Nachmittags eines Fauns zu hören, die die Fingernägel kräuseln machte – natürlich parodistisch gemeint, trotzdem unentschuldbar. Wenn nun im Konzerthaus echte Holzbläser den einstimmigen Beginn von Claude Debussys Le Martyre de Saint Sébastien anstimmen, genießt man den schillernden Klang selbst einer so spröden Linie. Das kann nur Orchester – und das Rundfunk-Sinfonieorchester besonders.

Debussy hat diese merkwürdige Musik auf einen schwülstigen Text von Gabriele d’Annunzio komponiert, den man besser nicht liest, weil er sonst an der Musik zu kleben droht. Besser schließt man die Augen und denkt hörend an den Heiligen Sebastian von Botticelli (oder Antonello da Messina oder Mantegna). Der Beginn erinnert fast an Erik Satie, spätere Passagen an die Himmelfahrtsmusik von Messiaen; das Finale Le bon Pasteur hat was von fieser religiöser Schmonzette, aber herrliche Klangmischungen.

Marek Janowski wirkt zwar immer wie ein teutonischer Knurrhahn, aber seine Pingeligkeit ist genau das Richtige für diese Musik, die erst durch Präzision ins Fließen gerät. Auch in La Mer nichts Verschwommenes oder Sfumatohaftes, stattdessen ein perfekt aufgefächertes, sehr bewegliches Klangbild. Das Stück handelt ja ohnehin nicht vom Meer, höchstens von der Meeresoberfläche, von Licht und Bewegung, es könnte ebensogut La Neige heißen. (Bei Strauss würde eine Tondichtung Das Meer brausen und nach Fisch stinken, bei Ravel endlose Tiefe evozieren, in der Wale und Fabelwesen unter dem schlafenden Seemann durch die ewige Dunkelheit ziehen.) Allerdings zielt Janowski nicht auf Gleichgewicht, wie sich im hochgradig geschärften Finale zeigt, das die Cellisten druckvoll beginnen: Der Dialogue du vent et de la mer ist eher ein Kampf, Schönheit und Schrecken liegen nah beieinander. Der Schluss knallt, als wär’s La Valse. Mitreißend.

Die Debussy-Stücke rahmen an diesem französischen Abend zwei Werke von Henri Dutilleux (1916-2013), von dem Wissende wissen wollen, dass seine Musik länger überdauern werde als die von Boulez. Auf jeden Fall entfaltet sich in ihr ein Orchesterzauber, dem gegenüber Debussy fast eindimensional klingt: feinsinnige Orgien für Klangfarbenhedonisten. Außerdem hatte er einen besseren Literaturgeschmack als Debussy. Das Cellokonzert „Tout un monde lointain…“ ist von Baudelaire-Versen inspiriert, aber in einem eher assoziativen Verhältnis, ein zusätzliches Angebot für den Bilder und Begriffe suchenden Hörer, ähnlich wie bei Debussy und dem Meer. Die RSB-Cellistin Konstanze von Gutzeit beweist eindrucksvoll, dass dieses Orchester überhaupt keine externen Solisten nötig hätte; es sei denn aus Vermarktungsgründen. (Allerdings, wenn es um Marketing geht: Eine attraktivere Cellistin als Gutzeit gibt es nicht mal in Südamerika; diese musikalisch irrelevante Bemerkung nur am Rande.) Das Cello brilliert von vollen und inbrünstigen Klängen (Dutilleux komponierte für Rostropowitsch…) bis zu ganz gläsernen und zerbrechlichen Passagen, während das Orchester immer neue, immer subtilere Mischklänge hervorbringt.

In den Métaboles, ohne literarische Referenz, treten die Orchestergruppen wechselweise, aber nicht strikt getrennt hervor, bevor sie sich in einem betörenden glanz- und lustvollen Klangrausch vereinigen. Das ist viel mehr als ein glorioser Qualitätsnachweis für ein Orchester – aber es ist auch das.

Zum Konzert / Zum Anfang des Blogs

27.9.2015 – Todestrunken: RSB, Janowski und Matti Salminen mit Reger, Mussorgsky, Sibelius

Heiter wie ein VW-Aktionär ist das Programm, das Marek Janowski mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester im Konzerthaus präsentiert: vorzeitiger Totensonntag im September. Drei schwerstmorbide Werke, komponiert von drei hochgradigen Alkoholikern, serviert der Maestro mit derselben stoischen Miene wie sein buntes Operettenpotpourrie im Frühjahr. Die Musik spricht für sich selbst, auch ohne Ausdruckstanz am Dirigentenpult.

Featured imageDie Bildvorlagen zu Max Regers selten gespielten Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin (1913) harmonieren aufs Innigste mit der berüchtigten Ausmalung des Konzerthauses. Besonders das Gesäß der Najade im Spiel der Wellen hat es dem Konzertgänger angetan. Dabei klingt dieses Vivace-Adagio nicht gerade nach La Mer oder Jeaux d’eau, sondern ist das Gegenteil von freier Tändelei des Wassers, ein durchrhythmisiertes Scherzo. Auch das bumpernde Bacchanale klingt mehr nach teutscher Studentenverbindung als nach Dionysos, man meint dem Komponisten die Burschenschaftlerkappe vom versoffenen Kopf fliegen zu hören. Natürlich darf – auch im Sinne des Abendthemas – Die Toteninsel nicht fehlen, ein nicht gerade subtiles, aber klangmächtiges Musikgemälde. Der Höhepunkt aber ist das erste Stück, Der geigende Eremit: Rainer Wolters gibt den rührseligen Einsiedler, der zwei Streichergruppen (mit und ohne Dämpfer) gegenübertritt. Der Konzertgänger, der sonst heftigen Widerwillen gegen Max Reger verspürt, hört sich das gern an. Und bewundert wieder einmal, wie Marek Janowski und sein Orchester auch ästhetisch Fragwürdiges perfekt durchgearbeitet spielen, um den Horizont ihrer Hörerschaft zu erweitern.

Kein Geringerer als Matti Salminen singt Modest Mussorgskys Lieder und Tänze des Todes (1875-77, hier in der schönen Orchestrierung von Kalevi Aho, 1984). Ob er die vier Lieder gesanglich hinreichend differenziert darbietet, mit der luziden Konzision, die ein richtiger Rezensent erwartet, vermag der Konzertgänger nicht zu beurteilen; auf jeden Fall klingt die unverkennbare Salminenstimme immer noch mächtig beeindruckend, und Salminens Bühnenpräsenz schlägt den Saal in den Bann. Im Wiegenlied reibt der Tod sich die Hände, und niemand wagt Widerspruch, wenn er in der Serenade donnert: Молчи! Ты – моя! Schweig! Du bist mein! Arme Jungfrau, du bist schön, aber was kann man tun? Im Trepak erfriert ein betrunkener Bauer im Schneetreiben, ganz anmutig klingt das, wenn der Bass von Harfe und Holzbläsern begleitet wird. Und der Krieg im letzten Lied Der Feldherr klingt wahrlich nach Krieg. Mussorgsky ist doch ein anderes Kaliber als der Kontrapunktverknoter Reger, denkt der Konzertgänger.

Nach der Pause setzt Jean Sibelius‘ Symphonie Nr. 4 a-Moll (1911) der Herrschaft der Trübsal die Krone auf: herrliche Musik mit einer Extradosis Tritonus, aber auch ein äußerst verstörendes Werk. Es ist, als bereite sich immerzu etwas vor – das dann nie kommt. Alles bricht und reißt ab; wenn man meint, nun endlich beginne der innige Gesang der Oboe oder der Celli, ist es wieder nach ein paar Tönen vorbei. Erst im dritten Satz Il tempo largo entwickelt sich aus der permanenten Aufwärtsbewegung ein großer Höhepunkt, eine gewaltige Klangentfaltung, die aber abrupt endet; nur noch Stillstand auf einem einzigen Ton, Pathétique-Flair. Beim großen Loshopsen im Finale, angestoßen wie schon der Beginn des Kopfsatzes vom Solocello (Konstanze von Gutzeit) und der Violine, schwant dem Hörer bereits, dass dieser Schwung unter Glockengeläut nicht ad astra führen wird. Es geht immer voran, aber nirgendwohin. Irgendwann bleibt die Musik einfach stehen. Alles hat aufgehört, bevor es angefangen hat: auch ein Bild fürs Sterben.

Reger ging ja noch, brummelt ein bestürzter Herr an der Garderobe. Der Konzertgänger hingegen ist begeistert, er geht doch nicht ins Konzert, um fröhlich zu sein: Große Musik, großartig gespielt.

Aufzeichnung des Konzerts am 24. Oktober um 20:04 Uhr im Kulturradio

Zum Konzert