Der Konzertgänger macht mal den Opernflieger: Modest Mussorgskys Boris Godunow da, wo er von Rechts wegen hingehört, im Bolschoi-Theater in Moskau. Große Freude, gelinder Kulturschock. Das Ganze im Rahmen einer Reise zum Tschechow-Festival, wo die Komische Oper ihre Zauberflöte aufführt (Bericht im VAN-Magazin folgt).
Vor Beginn der Vorstellung ein ohrenbetäubendes Klingelton-Gewitter aus allen Lautsprechern — der gleiche Warnhinweis ans Publikum wie in Deutschland, aber zehnmal größer, wie alles in Moskau. Allein die Götter (oder die Teufel) wissen, wie ein Zuschauer es dennoch schafft, sein Handy genau in der Generalpause bimmeln zu lassen, als Boris Godunows Gewissensqualen gerade auf zehrendste Höhe gezüngelt sind. Ruft da etwa der ermordete Zarewitsch an?
Unklar, was die ganze Musik soll, wenn gerade keiner singt. Die Anfänge und Schlüsse sind gewiss atemberaubend; leider hört man sie nicht, auch wenn man so nah dran sitzt wie der Opernflieger, in Reihe 6. Ein großer Teil des Publikums plaudert nämlich, solange auf der Bühne noch niemand singt, sondern nur das Orchester unter der leidenschaftlichen Leitung von Tugan Sokhiev sich die Seele aus dem Leib orgelt. Eindrucksvoll, wie das Orchester Mussorgskys melodische Brutalität in den Saal pumpt und wie feinsinnig ungeschlacht die Bläser die Bässe tragen. Das ist die niemals raue, stets abgerundete Wucht, die man von Sokhiev aus seiner Zeit beim Berliner DSO kennt. Sobald es sich ausgesungen hat, wird losapplaudiert, mag das Orchester auch noch eine Weile weiterspielen.
Gelernt: Orchesterpassagen gelten an diesem Abend nicht als Oper.
Und Gedanken nicht als Regie. Die Inszenierung stammt von 1948, aus der Zeit, als noch Boris Godunows Vorgänger Iwan der Schreckliche regierte. Oder so ähnlich. Mehrmals spontaner Applaus fürs Bühnenbild, etwa wenn bei Vorhangöffnung die Basilius-Kathedrale erscheint oder der üppige nächtliche Schlossgarten von Sandomir. Oder gar der Kugelblitz von Pseudo-Dimitri auf einem echten Pferd. Die Sänger und Chöre gehen hin und her, her und hin oder, wenn die Bühne zu klein ist, auch mal raus und wieder rein.
Und doch ist im Publikum viel Liebe zur Musik und Leidenschaft für diese Oper zu spüren.
Größter Applaus selbstverständlich für die hervorragenden Sänger, allen voran den Godunov Mikhail Kazakov (gerade noch an der Berliner Staatsoper als Großinquisitor im Don Carlo zu hören).
Note to self: Die Figur der Marina Mnischek (von Mussorgsky reinkomponiert, um etwas mehr Frauenstimmen zu haben) wäre mal eine eigene Oper wert. Sie ließ sich nach der Ermordung des ersten Pseudo-Dimitri, der im Godunov auftritt, noch mit zwei weiteren betrügerischen Prätendenten ein, um irgendwie auf den Zarenthron zu gelangen. Ein Ziel, von dem sie erst abließ, als sie eingekerkert und (man zögert, das hinzuschreiben) ihr aus einer dieser Verbindungen entsprossener dreijähriger Sohn hingerichtet wurde.
Das Wichtigste sind aber die Pausen. Nicht weniger als drei (die zweite eigens, um Sonderapplaus für den Godunov zu ermöglichen). Dadurch wird die Oper weniger dramatisch, aber dreimal so episch. Und man hat ausgiebig Zeit, zwischen atemberaubend attraktiven Besucherinnen durchs Bolschoi zu wandern. Verwinkelte Gänge zu entdecken, versteckte Treppenhäuser. Blicke in Logen, wo hinter Samtvorhängen rote Diwane stehen für die privateren Minuten eines Opernbesuches.
Diese Loge kommt ins Herzensnotizbuch des noch zu Erlebenden.
Bis dahin Begnügung mit den verborgenen Buffets im Bolschoi: das tiefste im dritten Geschoss unter der Erde, wo es auch noch einen Beethoven-Saal gibt. Das höchste im sechsten Stock, auf der Höhe des vierten Balkons, den man auch sechsten Rang nennen könnte. Egal: Da oben vergeht einem sowieso das Zählen. Es gibt auch einige Stehplätze, die den Blick in die Tiefe besonders intensiv machen dürften.
Wen es zu sehr schwindelt, der nutzt eine Pause, um sich unten einen freien Platz zu suchen. Doch obacht, eine bejahrte Dame in Reihe 5 verscheucht den herabkommenden Studenten vom freien Platz neben sich, um ihre Luxushandtasche darauf abzustellen. Hier endet das Einfühlungsvermögen des Konzertgängers als Opernflieger: ganz vergeblich der Versuch, sich hineinzuversetzen in einen siebzigjährigen Menschen, der nicht gern einen zwanzigjährigen Menschen des anderen Geschlechts mit üppig schwarzem Wuschelkopf neben sich haben möchte.
ja manchmal brauch man so etwas. Ich hab heute Abend ne Karte für den Liebestrank Alagna/Kurzak, und kämpfe mit mir, ob ich mir das antue. Von Ihrer Warte her, wäre es ne Möglichkeit. Freunde waren Dienstag drin, seine Romanze war wohl recht gewöhnungsbedürftig, aber gut radschlagen und rumhampeln konnte er….
Immer hingehen … schon um danach qualifizierter lästern zu können!
och nö, hab gerade nen Anruf von Freunden bekommen, geh jetzt lieber in den schönen Biergarten im Jungfernheidepark 🙂
au weia, das ist ja ein Erlebnis, wie man es nicht gerade braucht. Können sich dann ja im Juni hier im Boris von erholen. Hatte mich schon gewundert, das keine Kritik zum Billy Budd kommt. Hier ein Eindruck http://www.oper-aktuell.info/kritiken/details/artikel/berlin-deutsche-oper-billy-budd-26052017.html
noch eines vergessen.
Verwundern tut mich das russische Publikum hier nicht, wenn ich an so manche russische Besucherinnen hier denke. Das Verhalten ist ähnlich, dazu kommt noch dann die Nutzung mindestens einer Parfümflasche
Doch, ich habe das unbedingt gebraucht! Es war schön schräg und schräg großartig!
Zum Billy Budd hätte er natürlich auch ins Bolschoi gehen können. Da dürften dann wohl auch andere Typen gekommen sein als die hier geschilderten Patienten.
Nein, das war jetzt kein Witz!
http://www.bolshoi.ru/en/performances/1021/
Sehr schön finde ich ja deren Warnhinweise für Regiethea… äh, Verzeihung: Nowaja szena. Könnte man auch hierzulande glatt mal einführen, dann gibt es vielleicht weniger Gemaule.
Beim nächsten Mal!
Immerhin spielen sie „Billy Budd“. Es ist ja alles eine Gratwanderung für so ein Haus gegenüber vom Kreml.
„Nowaja szena“ heißt übrigens, dass es auf der „Neuen Bühne“ gespielt wird … also kein Regietheater zu befürchten.
Aber „Adults only“. Den Warnhinweis haben da allerdings z.B. auch Carmen und Rosenkavalier.