Vernichtungsblühend: Berliner Philharmoniker, Antonio Pappano, Véronique Gens mit Ravel, Duparc, Mussorgsky, Skrjabin

Für den Konzertgänger immer ein Extrapunkt, wenn bei den Berliner Philharmonikern ein Komponist auf dem Programm steht, von dem er noch nie gehört hat. Das ist der Fall beim ersten Gastdirigat von Antonio Pappano seit 12 Jahren. Mag das Orchester den Pappano nicht, wie Brug meinte? Und ist der Konzertgänger der einzige im Saal, der den Franzosen Henri Duparc (1848-1933) nicht kennt? Fragen über Fragen.

Auf die man gar keine Antwort mehr will, wenn die hinreißende Sopranistin Véronique Gens singt. Weil man dann eh alles vergisst. Weites Farbenspektrum, zart bis verblüffend voluminös bei trotzdem hoher Textklarheit. Nie kippt sie ins Kitschige in den vier Liedern, die Duparc zwischen 1868 und 1884 für Klavierbegleitung schrieb und bis 1913 selbst orchestrierte.

Duparc war Schüler von César Franck und das meint man auch zu hören, der erste Höreindruck ist ziemlich eingängig und relaxé und mega-détendu. Aber von unverstellterer Schmerzlichkeit. Hört man L’Invitation au voyage und La Vie anterieure, könnte man Baudelaire glatt für den französischen Lenau halten. Die Oper, an der Duparc sich vergeblich versuchte, mag man sich kaum vorstellen. Andererseits, hört man die heftige Aufwallung, in der die verlassene und vergebens hoffende Frau in Au pays où se fait la guerre plötzlich jemanden sehr maskulin daherkommen hört: Quelqu’un monte à grands pas la rampe — da stellt man sich die ungeschriebene Oper doch nicht mehr so melancholisch-undramatisch vor.

Und die Chanson triste wird der neue Lieblingswehfetzen der Frau des Konzertgängers, Sibelius hat ausgedient (mit dessen Valse Duparcs Lied die charakteristischen Hornseufzer gemeinsam hat). Hier Felicity statt Véronique und Lott statt Gens:

Der Pappano wirkt auf Fotos ein bissl gravitätisch, in natura aber geradezu jungenhaft. Mit schwarzem Hemd, das über die Hose hängt. Äußerst engagiert, aber hat so ein paar dirigentische Macken. Beim Vibrato von son retour vibriert er mit dem Zeigefinger vor der Nase der Sängerin herum, dass man denkt, hoffentlich bohrt er nicht rein. Bei le secret douloureux qui me faisait languir schüttelt er sehr ausdauernd schmerzlich-geheimnisvoll und languirant-gramvoll den Kopf. Aber der formvollendete Handkuss für Mme Gens im roten Kleid macht alles wett.

Vor Duparc Französisches, danach Russisches. Maurice Ravels Une Barque sur l’océan klingt mehr dramatisch dräuend-opernhaft als pointillistisch-gemäldig, doch desto nasser spürt man die Meereswellen gegen die Bordwand klatschen. Oder heißt es nässer? Die Alborada del gracioso hat den Schmiss einer Rossini-Ouvertüre, aber ein derartiges subkutanes Brodeln dahinter. Das Fagott im Mittelteil (Daniele Damiano) hat was von neunmalmüdem Sacre. Note to self: Dem Ravel mal einen Sacre de l’automne andichten.

Wohlig piesakend dann der russische Teil nach der Pause. Schon das wilde Einspielen der Musiker zu heftigem Publikumsgemurmel hat was Walpurgishaftes; das Stimmen aufs A strahlt dann als sujetwidrige Christuserscheinung herein. Pappano dirigiert Modest Mussorgskys Johannisnacht auf dem kahlen Berge mit einer Springteufeligkeit, dass man sich nicht wundern würde, wenns ihm vom Podest in die Lüfte katapultieren würde. Oder wenn das brillante Orchester sich auf Hexenbesen erhöbe. Überraschenderweise hört man aber auch hier so einen Rossini-Ouvertüren-Schwung. Bei aller Gewalt fast zu elegant für Mussorgsky, oder? Und das, obwohl hier die ungehobelte Urfassung von 1867 erklingt. Wenn Mussorgsky das selber hörte, würde er sich vielleicht wundern, wie gut und horribile dictu westlich er komponieren konnte.

Rauschendes Glück schließlich in Alexander Skrjabins golden durchgeknalltem Le Poème de l’extase (1908). Spricht der wunderliche Komponist: In der Form des Raumes ist die Ekstase die höchste Blüte und Vernichtung. Ein Satz, den man einfach mal so stehenlassen sollte.

Pappano jedenfalls treibt die Philharmoniker zu den höchsten Blüten der Vernichtung im trotz Gaga so spaßigen wie mysteriösen Ekstasenstadl. Vergifteter Samt zu Beginn (Harfen und die süße Violine von Noah Bendix-Balgley) und diese durchschneidende Trompete. Die ist das Herz der Ekstase, im Zentrum des 17fachen Blechs. Gábor Tarkövi spielt wie der wiederauferstandene Miles Davis, von dem jedoch der Geist der irrsinnigen Großmutter Skrjabins Besitz ergriffen hat.

An der leisesten Stelle schnäuzt sich ein Herr in Block A vernehmlich die Nase. Vielleicht ist das die Astralseele, die ausläuft.

Wem dann beim Superduper-Tutuguri-Turangalila-Schlussbumms nicht die Astralseele aus den Ohren spritzt und ums Erdrund saust, der ist selbst schuld. Oder wie der Sohn des Konzertgängers es ausdrücken würde: Geil.

Weitere Kritik: Schlatz und mit ganz entgegengesetzten Eindrücken Göbel, dem wars zu knallig. Noch zwei Aufführungen Samstag und Sonntag.

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10 Gedanken zu „Vernichtungsblühend: Berliner Philharmoniker, Antonio Pappano, Véronique Gens mit Ravel, Duparc, Mussorgsky, Skrjabin

  1. Die wunderbaren Duparc – Lieder singt Jonas Kaufmann seit Jahr und Tag immer wieder in seinen Liederabenden……….. Wo ar da der Konzertbesucher?

  2. Na, Lenau war gar nicht so schlecht. Pappano hat auf manchen YT-Videos so einen Kau-Tick, davon habe ich gestern nichts gesehen. Und V. Gens ist tatsächlich schon über 50. Naja, Catherine Deneuve sah ja auch jahrzehntelang wie dreißig aus. Nur Dirigenten sehen immer so alt aus, wie sie sind. Blomstedt, Rattle… Iván Fischer hält sich ganz gut, Pappano auch.

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