Heiter wie ein VW-Aktionär ist das Programm, das Marek Janowski mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester im Konzerthaus präsentiert: vorzeitiger Totensonntag im September. Drei schwerstmorbide Werke, komponiert von drei hochgradigen Alkoholikern, serviert der Maestro mit derselben stoischen Miene wie sein buntes Operettenpotpourrie im Frühjahr. Die Musik spricht für sich selbst, auch ohne Ausdruckstanz am Dirigentenpult.
Die Bildvorlagen zu Max Regers selten gespielten Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin (1913) harmonieren aufs Innigste mit der berüchtigten Ausmalung des Konzerthauses. Besonders das Gesäß der Najade im Spiel der Wellen hat es dem Konzertgänger angetan. Dabei klingt dieses Vivace-Adagio nicht gerade nach La Mer oder Jeaux d’eau, sondern ist das Gegenteil von freier Tändelei des Wassers, ein durchrhythmisiertes Scherzo. Auch das bumpernde Bacchanale klingt mehr nach teutscher Studentenverbindung als nach Dionysos, man meint dem Komponisten die Burschenschaftlerkappe vom versoffenen Kopf fliegen zu hören. Natürlich darf – auch im Sinne des Abendthemas – Die Toteninsel nicht fehlen, ein nicht gerade subtiles, aber klangmächtiges Musikgemälde. Der Höhepunkt aber ist das erste Stück, Der geigende Eremit: Rainer Wolters gibt den rührseligen Einsiedler, der zwei Streichergruppen (mit und ohne Dämpfer) gegenübertritt. Der Konzertgänger, der sonst heftigen Widerwillen gegen Max Reger verspürt, hört sich das gern an. Und bewundert wieder einmal, wie Marek Janowski und sein Orchester auch ästhetisch Fragwürdiges perfekt durchgearbeitet spielen, um den Horizont ihrer Hörerschaft zu erweitern.
Kein Geringerer als Matti Salminen singt Modest Mussorgskys Lieder und Tänze des Todes (1875-77, hier in der schönen Orchestrierung von Kalevi Aho, 1984). Ob er die vier Lieder gesanglich hinreichend differenziert darbietet, mit der luziden Konzision, die ein richtiger Rezensent erwartet, vermag der Konzertgänger nicht zu beurteilen; auf jeden Fall klingt die unverkennbare Salminenstimme immer noch mächtig beeindruckend, und Salminens Bühnenpräsenz schlägt den Saal in den Bann. Im Wiegenlied reibt der Tod sich die Hände, und niemand wagt Widerspruch, wenn er in der Serenade donnert: Молчи! Ты – моя! Schweig! Du bist mein! Arme Jungfrau, du bist schön, aber was kann man tun? Im Trepak erfriert ein betrunkener Bauer im Schneetreiben, ganz anmutig klingt das, wenn der Bass von Harfe und Holzbläsern begleitet wird. Und der Krieg im letzten Lied Der Feldherr klingt wahrlich nach Krieg. Mussorgsky ist doch ein anderes Kaliber als der Kontrapunktverknoter Reger, denkt der Konzertgänger.
Nach der Pause setzt Jean Sibelius‘ Symphonie Nr. 4 a-Moll (1911) der Herrschaft der Trübsal die Krone auf: herrliche Musik mit einer Extradosis Tritonus, aber auch ein äußerst verstörendes Werk. Es ist, als bereite sich immerzu etwas vor – das dann nie kommt. Alles bricht und reißt ab; wenn man meint, nun endlich beginne der innige Gesang der Oboe oder der Celli, ist es wieder nach ein paar Tönen vorbei. Erst im dritten Satz Il tempo largo entwickelt sich aus der permanenten Aufwärtsbewegung ein großer Höhepunkt, eine gewaltige Klangentfaltung, die aber abrupt endet; nur noch Stillstand auf einem einzigen Ton, Pathétique-Flair. Beim großen Loshopsen im Finale, angestoßen wie schon der Beginn des Kopfsatzes vom Solocello (Konstanze von Gutzeit) und der Violine, schwant dem Hörer bereits, dass dieser Schwung unter Glockengeläut nicht ad astra führen wird. Es geht immer voran, aber nirgendwohin. Irgendwann bleibt die Musik einfach stehen. Alles hat aufgehört, bevor es angefangen hat: auch ein Bild fürs Sterben.
Reger ging ja noch, brummelt ein bestürzter Herr an der Garderobe. Der Konzertgänger hingegen ist begeistert, er geht doch nicht ins Konzert, um fröhlich zu sein: Große Musik, großartig gespielt.
Aufzeichnung des Konzerts am 24. Oktober um 20:04 Uhr im Kulturradio