So wie der nördliche Mensch im Herbst Sonne schlürft, um den endlosen Winter zu überstehen, schlürft der Konzertgänger im Juli Musik, um die endlose Sommerpause zu überstehen. Zweimal am Wochenende: Die Komische Oper spielte zum Abschluss ihres Neuproduktions-Festivals Mussorgskys Jahrmarkt von Sorotschinzi (mehr dazu unten), und im KONZERTHAUS gabs ein Programm mit Musik und Sonne.
Und, wichtiger als Sonne: Sommernacht. Kein Open-Air-Quatsch, sondern ein schönes spanisch-baskisches Programm des Konzerthausorchesters mit dem spanischen Dirigenten Josep Pons und zwei hinreißenden Sängerinnen. Wobei hinreißend, frei nach Loriot, das künstlerische Gesamtkonzept ist; rein sängerisch hinreißend ist zumindest eine der beiden.
Josep Pons ist ein Dirigent von unspektakulärer, fast professoraler Erscheinung. Aber das Klangergebnis wirkt gar nicht akademisch. Dass er ein Orchesterfeuer funkengenau zu zünden weiß, zeigte schon im April sein gelungenes Konzert mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester. Da gab es zu Manuel de Falla und Maurice Ravel noch Strawinsky; der fehlt jetzt im Konzerthaus, dafür gibts Ravel und de Falla doppelt und dreifach.
Maria Toledos rauchiger Flamenco-Sopran, der in Manuel de Fallas El amor brujo zu hören ist, klingt charakteristisch und voller Energie, aber nicht immer zielsicher. Er irrlichtert zudem durch die hallige Verstärkung; eine Mésalliance mit dem klaren Orchestersound. Toledos Bühnenpräsenz ist allerdings umwerfend, nur würde man sie lieber in einem anderen Genre hören. Aber die sängerischen Einsprengsel sind ohnehin eher eine atmosphärische Verstärkung in de Fallas regenbogenfarben lodernder Ballettmusik, der eine bemerkenswert schräge Handlung zugrunde liegt: Eine Zigeunerin muss den garstigen Geist ihres verstorbenen Ehetyrannen austricksen, um in die Arme ihres Geliebten sinken zu können.
Da ist Patricia Petibon sängerisch schon ein anderes Kaliber, ein so klarer wie warmer Sopran, der man auch im Fin de siècle-Fach die Finessen des Barock anhört. Nicht nur in zwei Nummern aus de Fallas Oper La vida breve, sondern erst recht in Maurice Ravels Shéhérazade. Dazu zwei Instrumentalwerke von Ravel: Die Rapsodie espagnole ist hier vielleicht von etwas vordergründiger Spannung, aber mit heftigen Kontrasten und gewaltsamen Entladungen, ohne Folklore-Gemütlichkeit. Und der geradezu gewalttätige Konstruktivismus der Fanfare „L’Eventail de Jeanne“, in der auf großen Paukendonner unmittelbar ein flirrendes Flötenpiano trifft, erinnert an den Brutalo-Ästhetizismus des Boléro. Das klingt alles im besten Sinne unprofessoral. – Zum Konzert
In der KOMISCHEN OPER indes werden die Läden standesgemäß mit einem Riesenspektakel zugeklappt: Der scheidende Generalmusikdirektor Henrik Nánási dirigiert zum Abschied Modest Mussorgskys Jahrmarkt von Sorotschinzi. Am Ende des Abends gibts für Nánási eine Menge Blumen, Händeschütteln, Dankesworte (u.a. vom Kultursenator Klaus Lederer, der sich als Abonnent der freitäglichen KO-Sinfoniekonzerte bekennt), einen Video-Einspieler von Barrie Kosky aus Bayreuth und vom Orchester den Ungarischen Tanz Nr. 5.
Davor die polarisierende Neuproduktion, über die es Urteile gibt von Ausgrabung der Saison bis zu hat Längen. Die Komische Oper spielt nicht die (unvollendete) Oper, sondern im Grunde eine Art Mussorgsky-und-mehr-Revue. Die von Lamm und Schebalin zurechtsortierte und fertigkomponierte Fassung hat Kosky nämlich mit weiterer Musik angereichert.
Die Aufführung beginnt immerhin mit einem der poetischsten Anfänge, den es in dieser Saison auf Berlins Opernbühnen gab: Rimsky-Korsakows (!) von David Cavelius für mehrstimmigen Chor gesetztes Hebräisches Lied erklingt zunächst in völliger Dunkelheit, dann im Schein von Kerzen, die der wunderbare Chor entzündet. (Nicht von Strawinsky, sondern wirklich von Mussorgsky ist hingegen der deutlich hörbare Beginn des Sacre, der einem später begegnet.)
Nánási dirigiert schnittig, die Sänger sind solide. Regisseur Kosky zielt nicht aufs Komische, sondern aufs Groteske. Ihm ist hoch anzurechnen, dass er die antijüdisch scheinende Story vom Teufel, der alljährlich eine Horde Schweine über ein Dorf kommen lässt, weil ihn dort dereinst ein Jude behumpst hat, nicht zur Thesen-Inszenierung plättet. Anzukreiden ist ihm, dass sich der zentrale zweite Akt, die Eheszene des Schreckens zwischen Bauer und Bäuerin, erheblich zieht.
Der Konzertgänger jedenfalls neigt zum Hat-Längen–Urteil. In der Mitte geht es ihm gar wie dem Teufel im Stück, dem mitten im Trubel so langweilig ist, dass er sich hätte erhängen können. Gut, dass es keine Pause gibt. Der Konzertgänger hätte sich vielleicht nicht den Strick genommen, aber wäre wohl heimgeradelt. Und hätte so das Schlussdrittel verpasst, das dann doch enormen Zug hat — obwohl oder gerade weil es so bunt zusammengewürfelt ist. Da ist nicht nur ein sehr schönes Sopran-Solo von Mirka Wagner zu hören und die Nacht auf dem kahlen Berge als Chorknaller, sondern auch das reincollagierte Wiegenlied aus den Liedern und Tänzen des Todes. Das singt der Tenor Oleksij Palchykov in der Originalfassung mit Mussorgskys eigenem äußerst spartanischen Klaviersatz. Passt nicht so recht, wie so manches hier, macht trotzdem Eindruck.
Zwei weitere Lieder aus diesem vierteiligen Todeszyklus gibts davor und danach in Cavelius‘ kunstvollen Chorsätzen. Der Trepak, in dem ein Besoffener im eisigen Schneesturm abnippelt, ist genau der richtige Rausschmeißer für die unendliche Sommerpause. Hier in der originalen Fassung mit Klavier:
Schaut übrigens hübsch aus
Danke. Kostet eine technische Niete wie mich einmal Überwindung und geht leichter mit freundschaftlich professioneller Nachbarschaftshilfe. Werde sicher noch etwas rumfrickeln (lassen).
Ab September gehts beim Musikfest weiter.
Ah, Sie sind auf wordpress.org umgezogen. Das plane ich auch jeden Sommer, mal sehen, ob ich es diesen hinbekomme.