Zu Zweidritteln perfekt kindergeeignetes Programm bei den Berliner Philharmonikern, zu dem der Konzertgänger denn auch (Artemisquartett im Kammermusiksaal hin oder her) tiefstenentspannt mit seiner höchstgeschätzten Tochter promeniert, um’s von knapp unter der Saaldecke zu goutieren. Tugan Sokhiev dirigiert, stets gern gesehener Gast. Der rote Faden des Programms bleibt ein bissl scheinig, wischiwaschi, ein Genuss ist es aber allemal, und wischiwaschigen Klang gibts bei Sokhiev nie.
Klingt Sergej Prokofjews Symphonie Nr. 1 D-Dur op. 25 »Symphonie classique«
auch nur einen Deut nach Haydn, wie der Komponist intendierte? Vielleicht nach Haydn, wie man ihn vor hundert Jahren spielte? Oder halt nicht spielte. Eine barocke Gavotte gabs bei Haydn doch bestimmt nie. Krass, Uraufführung der Symphonie Classique in St Petersburg ein halbes Jahr nach dem Sturm aufs Winterpalais. Steckt auch etwas vom Schrecken, Aufruhr, Abgrund seiner Entstehungszeit in dieser Aufführung des Stücks? Egal, Spaß macht Prokofjews Maskenspiel dennoch. Die Sätzlein vergehn im Fluge, Konzertgängers Tochter wippt mit dem Fuß.
Wenn Ludwig van Beethoven Dabeigewesene nach der Aufführung eines seiner Werke fragte, soll er sich immer zuerst und manchmal für gar nichts anderes als nur für die Tempi interessiert haben. Sokhievs im 3. Klavierkonzert c-Moll op. 37 sind langsam, ja breit, aber niemals träge. Jede Phrase ist in sich spannend; schön ja ohnedies. Dennoch gibt es Momente, in denen die Philharmoniker durch die Musik zu promenieren scheinen.
Doch das pianistische Charisma von Yefim Bronfman schützt vor dem Zerfall. Anfangs sitzt er da wie bestellt und nicht abgeholt, scheinbar unbeteiligt, keine Spur vom bei anderen Pianisten üblichen Mitwiegen und -singen und pantherartiger Anspannung vor dem ersten Ton. Vielleicht auch ein Maskenspiel. Bronfman looks less like the person who is going to play the piano than like the guy who should be moving it, heißt es in Philip Roths The Human Stain (Der menschliche Makel). Aber dieses doch fragwürdige Zitat kann sich nur auf die äußerlichsten Äußerlichkeiten seines Äußeren beziehen, Bronfman strahlt ja in seiner scheinbaren Bärenruhe Sanftheit und konzentrierte Anmut aus, die nicht unpianistisch oder gar unkünstlerisch ist. Sein makelloses Spiel vereint Kraft und Klarheit auf eine Weise, die ihn manchmal wie einen Pianisten aus einer anderen Klavierwelt scheinen lässt, nicht 1958 geboren, sondern 1915 oder 1916.
Teile des Publikums führen sich saumäßig auf. Der Pianist sitzt in Hustengewittern. Im Largo klingelt eine geschlagene Minute lang ein Handy. Man könnte Bronfman keinen Vorwürf machen, wenn er grün anliefe wie Hulk und seinen Steinway ins Publikum würfe. Tut er aber nicht. Weil er fein ist.
Die Tochter hat keine rechte Meinung zu Beethoven, meint aber, sie werde sich dieses Stück im Lauf ihres Lebens vermutlich nochmal anhören.
Eine Zugabe wie einer dieser verqueren Haydn-Verschnitte von Debussy (Hommage à Haydn) oder Ravel (Menuet sur le nom d’Haydn, beide 1909) gäbe dem Gesamtprogramm vielleicht noch eine unerwartete Wendung ins Stringente, aber Bronfman spielt Clair de Lune.
Die Orchesterfassung der Bilder einer Ausstellung stürzt den Konzertgänger immer in Zwiespalt. Einerseits nimmt er Maurice Ravel persönlich übel, wie der Modest Mussorgskys ungeschlacht-genialen Klavierzyklus durch Hyper-Instrumentalisierung verhunzt hat. Kongenial kann man das ja nicht nennen, Welten liegen zwischen diesen beiden musikalischen Temperamenten. Mussorgskys unpolierte Harmonik steht in eklatantem Missverhältnis zu Ravels hochpoliertem Klangbild.
Andererseits ist das natürlich ein fantastisches Spektakel, in dessen Klangfarben man gern ertrinkt. Und allein schon dass es eins der wenigen Großwerke ist, in denen das Saxophon durch den philharmonischen Apparat promeniert (in Il vecchio castello), würde dieser Fassung ihre Daseinsberechtigung verleihen. Den Ausschlag pro Ravels Orchestrierung gibt für den Konzertgänger zweierlei: Erstens die klare Fürsprache seiner geduldig bis zum Schluss ausharrenden Tochter, dieses alten Baba-Yaga-Fans. Zweitens der Umstand, dass der elegante Tugan Sokhiev für solche orchesterkoloritös überschäumende Musik wahrscheinlich der beste Dirigent auf der globalen Promenade ist und das Berliner Philharmonische Orchester mit seinen Weltklasse-Solisten gewiss nicht der übelste Klangapparat.
Noch zwei Aufführungen am Freitag und Samstag (dann auch in der Digital Concert Hall)
Schöne Beobachtung des Pianisten Bronfman. Es ist ja verwunderlich, wie manche Pianisten über einige Jahre stetig eingeladen werden, und dann gar nicht mehr oder kaum noch. Lars Vogt war so um 2008 andauernd zu hören. Aimard wenig später, jetzt spielt er nur noch Schönberg (sehr gut natürlich). Ax war eine Zeitlang bei nahezu jedem Beethoven und Mozart mit den Berlinern zu hören. Ähnliches gilt auch für Geiger. Kavakos war ja zweitweise gar nicht zu umgehen, wenn man ein Violinkonzert hören wollte. Zur Zeit scheint Bathiaschvili diese Stellung innezuhaben, wobei Frau Widmann mächtig aufholt. Bronfman hingegen ist immer wieder zu hören (wie etwa Zimmermann), wenn auch nicht inflationär, was entschieden vorzuziehen ist. Verstehe einer den Klassikmarkt.