Turbulenzromantisch

Iván Fischer im Konzerthaus, Petrenko und Oramo bei den Berliner Philharmonikern: Entdeckungsreisen von Sinigaglia bis Langgaard

Drei hochinteressante Programme, reich an Unbekanntem: Iván Fischer ist zwar formal bloß der Ex, aber irgendwie doch der Chefdirigent der Herzen am Konzerthaus, jeder seiner Besuche ein Hochlicht. Boss Kirill Petrenko gab bei den Berliner Philharmonikern letzte Woche das vielleicht wichtigste Konzert der Saison. Und dieser Tage dirigierte Sakari Oramo ebendort ganz Seltsames: ein unverschämtes Werk, das alle hundert Jahre gespielt wird.

Foto: Steven Mathey CC BY-SA 4.0
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Dreiweiblich: Kurzopern von Ibert, Poulenc, Ravel an der UdK

Notiz ans Selbst: öfter mal das junge Gemüse besuchen. Denn was die Berliner Musikhochschulen so auf die Bretter stellen, ist à la bonne heure. Was nun die jüngst gezeigte Einakter-Triplette unter dem Titel Trois femmes mit Stücken der drei Non-femmes Jacques Ibert, Francis Poulenc und Maurice Ravel an der Universität der Künste angeht, hängte sich ein Intensiv-Musiktheatergänger gar dergestalt aus dem Fenster, dies sei der Höhepunkt seiner Berliner Opernsaison gewesen. Was durchaus als Sottise gegen den Berliner Opernbetrieb gemeint war; aber dennoch eine hohe Anerkennung für diese wunderbare Produktion ist, deren trois heures wie im Fluge vergehen. Weiterlesen

Virtuoskindlich: Kopatchinskaja und Leschenko im Boulezsaal

Ein Kessel Buntes, aber nicht Wahlloses im Pierre-Boulez-Saal: explosiv vom knarzenden Knarren im Salonmatsch bis zum schmalzigen Schalk, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Weil das enfant terrible Patricia Kopatchinskaja mittlerweile eine prosperierende Fanschar hat (einerseits erfreulich, andererseits bedenklich wegen der lärmigen Begleiterscheinungen wie Johlen und Füßetrappeln nach jedem Stück), hier erstmal ein paar Worte zu ihrer gleichrangigen Partnerin, der wunderbaren Pianistin Polina Leschenko. Weiterlesen

10.3.2017 – Verschollen: Poulenc & Janáček in der Werkstatt der Staatsoper

Aus einem großen Juwel sind zwei kleine Juwelen geworden: In der Werkstatt der Staatsoper im Schillertheater (wo es bekanntlich das interessanteste halbneue, neue und allerneueste Musiktheater aller Berliner Opern gibt) wurde das Doppelprogramm La voix humaine von Francis Poulenc und Tagebuch eines Verschollenen von Leoš Janáček wiederaufgenommen.

Jheronimus_Bosch_-_The_Pedlar_-_Google_Art_Project.jpgAber ist es überhaupt eine Wiederaufnahme? Verschollen ist nämlich auch Isabel Ostermanns (Regie) und Günther Albers‘ (Musik) ursprüngliches Konzept von 2014. Das bestand darin, die beiden Stücke nicht nacheinander zu geben, sondern ineinander geschnitten und teilweise sogar übereinander gelegt aufzuführen. Das war problematisch und teilweise nervig, hat aber insgesamt doch verblüffend gut funktioniert. Denn es gelang faszinierend, die beiden Stücke miteinander sprechen zu lassen: hier die Erinnerungen und die Einsamkeit einer Frau am Telefon, die ihren nie zu hörenden Geliebten verliert (Poulenc), dort die Erinnerungen und die Einsamkeit eines jungen Bauern, der aus Liebe zu einer Zigeunerin seine Heimat und Familie verlassen hat (Janáček). Weiterlesen

10.12.2015 – Betend: Manfred Honeck und das DSO spielen nicht nur Mozart

Man zögert, es ein Konzert zu nennen. Jedenfalls ist es das katholischste Konzert, das der Konzertgänger je erlebt hat. Und das ist positiv gemeint. Obwohl der Konzertgänger Protestant ist.

Und es ist ein Konzert von himmlischer Länge. (Dabei behauptet die Frau des Konzertgängers immer: „Wir Katholiken fassen uns kurz. Bei euch Protestanten dauert alles ewig.“) Der Österreicher Manfred Honeck, Chefdirigent in Pittsburgh, kombiniert nicht nur das Requiem mit anderen geistlichen Werken von Mozart, gregorianischen Gesängen, Glockengeläut sowie Bibel-, Gedicht- und Brieflesungen. Diesem kolossalen, durchaus überambitionierten Programm geht eine erste Konzerthälfte mit drei Werken voraus, die sich sehr unterschiedlich, doch alle aus gläubiger Sicht mit dem Tod auseinandersetzen.

Am Anfang steht aber der Kampf mit irdischen Tücken. Die sieben Plagen des Konzertgängers sind bekanntlich: Handys, Flüstern, Armbanduhrpiepsen, Programmheftblättern, Füßescharren, Bonbonpapierrascheln und, grässlichste von allen, Husten. Obwohl das Deutsche Symphonie-Orchester jetzt nach Philharmonikervorbild vor Konzertbeginn bittet to refrain from coughing, wird Anton Bruckners Ave Maria (1861) schmählich zerhustet. Der Rundfunkchor, der diese siebenstimmige, im zartesten Pianissimo beginnende A-cappella-Perle den Säuen vor die Hufe wirft, singt klar disponiert und berückend schön, auch für die Röchelsünder von Block A bis K: ora pro nobis peccatoribus.

Das Finale von Francis Poulencs Oper Dialogues des Carmélites (1956) ist einer der überwältigendsten Schlüsse der Operngeschichte: 16 Nonnen schreiten während des Französischen Revolutionsterrors zur Hinrichtung, 16mal saust die Guillotine nieder, Stimme um Stimme dünnt der Chor sich aus – bis zum Schluss der Mezzosopran von Blanche de la Force hinzutritt, die sich im letzten Moment entscheidet, mit ihren Schwestern für den Glauben in den Tod zu gehen. Bei dieser konzertanten Aufführung sieht man den Hammer im Schlagwerk niedersausen, die ausscheidenden Sängerinnen drehen sich zur Seite; die kurzfristig eingesprungene Sophia Harmsen überzeugt als Blanche. Natürlich wirken diese effektvollen Schlussminuten einer Zweieinhalbstunden-Oper hier wie ein Gefühlsquickie, offenbar auch verwirrend für unvorbereitete Besucher, die verzweifelt im Programmheft blättern: Was mag es mit diesem Knallen und Sängerinnenwegdrehen auf sich haben? Aber die ungeheure Kraft dieser Musik wird spürbar. Hoffentlich bald wieder auf einer Berliner Opernbühne!

Der 1959 geborene Schotte James MacMillan, Komponist und Laienbruder des Dominikanerordens, hat eine ziemlich bekiffte Vision des Johannes von Patmos (Offenbarung 12) als Woman of the Apocalypse vertont, eine Mischung aus Richard Strauss und Olivier Messiaen: sehr bildhafte Symphonische Dichtung inklusive Tritonuskitsch und frivoler Neigung zum Dur-Akkord. Ein fast halbstündiger, trotzdem kurzweiliger Klangrausch, der aber auch etwas vorbeirauscht. Mit seiner konzertierenden Anlage gibt er dem Orchester gruppenweise Gelegenheit zum Brillieren, die das DSO dankbar ergreift; besonders schön die Kombination von Flöte, Celesta, Glockenspiel und Tuba, kurios die wiederkehrenden Kuhglocken-Bubbles.

Doch all dies ist nur die Vorbereitung für das Hauptprogramm, das Manfred Honeck rund um Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem d-Moll KV 626, man muss sagen: komponiert hat.

Die Aufführung beschränkt sich auf die fertiggestellten Teile des Requiems, lässt also die Süßmayr-Teile weg und bettet dafür das Werk auf vielfache Weise ein: mit Mozarts instrumentaler Maurerischer Trauermusik c-Moll KV 477 (1785) und dem Laudate Dominum aus KV 339 (1780), in dem Sunhae Im mit ihrem Sopran bezaubert, den der Konzertgänger nicht anders beschreiben mag als: rein, keusch, ja marienhaft unbefleckt. Mit gregorianischen Gesängen von außerhalb des Saals platzierten Choristen, die so schwer lokalisierbar klingen, dass sie tatsächlich wie aus dem Jenseits klingen. Mit Zitaten aus Mozarts Briefen (der Tod als bester Freund des Menschen) und zwei Gedichten von Nelly Sachs, die das Grauen von Auschwitz reflektieren – eine Dimension des Totengedenkens, der ein Konzertabend natürlich nie gerecht werden kann; aber die Assoziationsräume aufreißt, die das Konzert weit über eine gepflegte Klassikerwiedergabe hinaus öffnen. Der Schauspieler Ulrich Noethen liest diese Texte, anfangs erstaunlich schwer zu verstehen (was auch am Mikrofon liegen mag, das es in der Philharmonie für einen guten Sprecher nicht bräuchte). Konkret aufs Requiem beziehen sich die gelesenen Abschnitte aus der Offenbarung, die die folgende Sequenz und das Offertorium auch für glaubensferne Hörer an ihre biblische Grundlage zurückbinden.

Das Singen, Beten, Flehen, Schreien, Jubeln des Menschen bei Mozart kann hingegen jeder hören. Manfred Honeck und das DSO, das zwar nicht vibratofrei, aber doch mit schlankem, an keiner Stelle erdrückendem Streicherton spielt, erreichen größte Intensität nie durch Lautstärke, sondern durch hohe Präzision und rhythmische Schärfung, etwa im Rex tremendae, das hier nichts von höfischem Tanz hat, wie man es sonst manchmal hört. Äußerst beeindruckend die agilen Posaunen im Kyrie. Der Rundfunkchor Berlin übertrifft (wen sonst?) sich selbst, etwa wenn im Confutatis aus dem Höllenchor der Engelschor emporsteigt. Die Schönheit des Hostias und Lacrimosa sind kaum zu ertragen. Die vorzüglichen Solisten Sunhae Im, Sophia Harmsen, Benjamin Bruns und Tareq Nazmi stehen hinter dem Orchester beim Chor, was zu einem organischen Gesamtklang statt Mozarthochglanz beiträgt.

Anstelle des Süßmayr-Schlusses endet das Requiem heute mit einer unerhört zarten Darbietung des Ave verum corpus KV 618. Selbstverständlich weint der Konzertgänger jetzt. Schon längst. Noch mehr möchte er beten. Aber es ist nicht nötig; so wie Jesus Christus für uns gestorben ist, so betet Mozart für uns in dieser Musik.

Die drei verschwindend leisen Glockenschläge am Schluss sind aber vielleicht doch too much.

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